Seewölfe Paket 26. Roy Palmer
Herrera wußte, daß es vorbei war.
Eine seltsame Gefühllosigkeit erfaßte seine Beine. Er bewegte sich schwer und mühsam, als er das obere Stockwerk erreichte. Die beiden jungen Frauen standen da, regungslos, mit Pistolen in den Händen. Ugo lag auf dem Boden beim Fenster, blutüberströmt.
„Nach oben!“ befahl Herrera. „Schnell! Gebt mir eine Waffe!“
Ricarda und Amata gehorchten, gaben ihm eine geladene Pistole in die Hand und stützten ihn auf dem Weg zur Dachkammer. Der Lärm der grölenden und kreischenden Stimmen hatte das Erdgeschoß überflutet, der Nachhall umhüllte die Fliehenden, die doch wußten, daß es kein Entrinnen gab.
Stützbalken und Möbel polterten. Wertvolles Geschirr zerschellte, silbernes Besteck klirrte aus herausgerissenen Schubladen. Felipe Herrera sah vor seinem geistigen Auge, wie sie die Ölgemälde von den Wänden rissen und zerfetzten, wie sie mit ihren Dolchen und Säbeln die Polster der Sessel und Sofas zerschlitzten.
Sie erreichten die Dachkammer, wo Mercedes Herrera und die beiden kleinen Töchter auf die Knie gesunken waren und beteten. Felipe Herrera ging zu seiner Frau und den Kindern und nahm sie in die Arme. Mit der Rechten hielt er die Pistole. Auch Ricarda und Amata schmiegten sich eng an die Kinder, die sie seit ihrer Geburt liebgewonnen hatten.
Die Brandung der Gewalt brüllte durch das Haus.
Drei Pistolenschüsse aus der Dachkammer klangen dünn und unbedeutend und vermochten diese Brandung nicht zurückzuwerfen.
Im Morgengrauen des 9. Juli bestand das Haus der Familie Herrera nur noch aus Mauern, Fußböden und dem Dach. Es gab nichts, was die Plünderer zurückgelassen hatten. Nur die Toten blieben. Der neue Tag sah Havanna als eine Stadt des Todes. Die wüsten Horden zogen sich bei Licht in ihre Rattenlöcher zurück, um den Rausch von Alkohol und Blut- und Beutegier auszuschlafen.
Havanna war an diesem Tag endgültig zu einer Geisterstadt geworden.
Für den Mob hatte mit einkehrender Helligkeit die Schlafenszeit begonnen, und so lastete fast völlige Stille in den Straßen und Gassen zwischen Hafen und Residenz. Alle Ordnungskräfte hatten sich endgültig zurückgezogen.
Die Überlebenden aus den Reihen von Miliz und Stadtgarde befanden sich bei den evakuierten Bürgern in der Gouverneursresidenz. Capitán Marcelo litt noch immer an den Folgen seiner Verwundung, war häufig bewußtlos und somit kaum in der Lage, die Befehlsgewalt voll auszuüben.
Der Primer Teniente Echeverria, einer seiner Stellvertreter, hatte diese Funktion übernommen und war damit beschäftigt, den Verteidigungszustand der Residenz zu verbessern. Die übrigen, ausschließlich jungen Offiziere unterstützten ihn, so gut es ging. Aber man wagte nicht mehr, Patrouillen oder Streifen in die Stadt zu schicken.
Es gab eine Art Niemandsland – jenes Stadtgebiet zwischen Hafen und Residenz, das die Marodeure zwar ausgeplündert hatten, aber nicht besetzt hielten. Tagsüber zogen sie sich aus den Gebieten zurück, die zu normalen Zeiten die vornehmeren Wohngegenden waren. Refugium des Pöbels waren der Hafen und das angrenzende Gebiet der winkligen Gassen mit den vielen Bodegas, Cantinas und sonstigen Kaschemmen.
Nur noch drei Widerstandsnester gab es außer der Residenz und dem Stadtgefängnis. Gehalten wurden nach wie vor die beiden Forts am Hafeneingang – Castillo de la Punta im Westen und Castillo del Morro im Osten. Und erfolgreichen Widerstand leisteten nach wie vor auch die Bewohner des Handelshauses von Manteuffel unmittelbar am Hafen.
Von diesem letzteren Umstand wußte in der Residenz niemand. Keine Patrouille drang mehr bis in die Hafengegend vor. Das Stadtgebiet war zum Feindesland geworden. Niemand aus den Reihen der Bürger, aber auch keiner der Soldaten oder Gardisten nahm das Wagnis auf sich, zu einer Erkundung der Lage aufzubrechen. Man rechnete stündlich mit dem ersten Angriff des entfesselten Pöbels. Hinter den Umfassungsmauern der Residenz waren Waffen und Munition bereitgestellt worden, und die Wachen lösten sich in zweistündigem Wechsel ab.
Nahezu unbeachtet von den vielen Menschen, die jetzt die Residenz bevölkerten, verbrachte ein fuchsgesichtiger kleiner Mann die Tage des Terrors im Bürotrakt des Palasts. Corda, der Sekretär des derzeit nicht existenten Gouverneurs, erschien auch seinen engsten Mitarbeitern völlig verändert, in sich zurückgezogen. Corda hatte begonnen, eine „Chronik des Untergangs der Stadt Havanna“ zu verfassen. Minutiös schilderte er die Geschehnisse seit dem Erscheinen der reitenden Boten aus Santiago de Cuba, die ihm die Nachricht vom Tod des Generalkapitäns de Campos überbracht hatten.
Ob seine Chronik jemals gelesen werden würde, war für den füchsischen Sekretär alles andere als sicher. Im Hintergrund seiner Überlegungen stand jedoch nach wie vor jenes Ziel, das er nach der Todesnachricht zu erreichen versucht hatte. In seinen schriftlichen Schilderungen war der zu jenem Zeitpunkt im Gefängnis einsitzende Alonzo de Escobedo rechtmäßiger kommissarischer Gouverneur von Havanna.
Er, Corda, hatte versucht, de Escobedo zu diesem Amt zu verhelfen. Seinen Aufzeichnungen zufolge war er von Gefängnisdirektor Cámpora daran gehindert worden, und de Escobedo hatte keine andere Wahl gehabt, als unterzutauchen, um sich dem Zugriff des verbohrten Cámpora zu entziehen, der ihn nach wie vor als rechtmäßig inhaftiert betrachtete.
Für Corda war es keineswegs ausgeschlossen, daß de Escobedo nicht doch noch die Macht in Havanna übernahm. Unter der Herrschaft des Pöbels war die Stadt in der Tat dem Untergang geweiht. Wenn aber der starke Mann erschien, der die Lage in den Griff bekam, würde er dankbar sein für einen vermeintlichen treuen Vasallen. Unter diesem starken Mann stellte sich Corda niemanden anders als de Escobedo vor, der bestimmt nur vorübergehend in der Versenkung verschwunden war.
Wenn er sich aber eines Tages zum Stadtoberhaupt und letztlich zum Gouverneur aufschwingen würde, dann würde Corda ihm in besagter Treue zur Seite stehen. Und der gute de Escobedo würde in seinem Machtrausch überhaupt nicht merken, daß er weiter nichts als eine Marionette war.
Mit jeder Zeile, die er zu Papier brachte, war Corda fester davon überzeugt, daß er eines schönen Tages doch noch die Rolle der grauen Eminenz spielen würde, von der er so sehr geträumt hatte.
Dann würde jener Traum wahr werden, in dem er der wahre Herrscher über Havanna und Kuba war – hinter den Kulissen.
2.
Es war ein feuchtkaltes Gewölbe, in dem sich vier Menschen seit nicht mehr gezählten Tagen verborgen hielten. Während der ganzen Zeit hatten sie nur flüsternd miteinander gesprochen, denn sie wußten, daß ein lautes Wort wie Donner aus dem angrenzenden unterirdischen Gang zurückhallte.
„Unsere Vorgesetzten in Santiago werden uns für Deserteure halten“, sagte Raimundo Tejero.
Sein Kamerad lachte kaum hörbar.
„Und leider sind wir nicht wichtig genug“, murmelte Jorge Vero, „daß sie wegen uns einen Suchtrupp in Richtung Havanna losschicken.“
„Und das alles haben wir euch eingebrockt“, hauchte Cisca Duarte, die sich eng an Jorge schmiegte.
Graciela Bonardo nickte bekräftigend.
„Wenn wir darauf bestanden hätten, abends rechtzeitig nach Hause gebracht zu werden, wären wir von dem Pöbel nicht überrascht worden.“
„Unsinn“, sagte Raimundo leise und dennoch energisch. „Das Haus eurer Dienstherrin dürfte nur noch als Ruine bestehen. Und wir sollten alle vier froh sein, daß wir noch am Leben sind.“
„Fragt sich nur“, fügte Jorge bitter hinzu, „wie lange das noch so bleibt. Oder hast du eine Ahnung, wie wir aus unserem selbstgewählten Verlies freikommen wollen?“
Sein Gefährte sah ihn an. Das züngelnde Licht warf fließende Schatten auf die Gesichter der beiden Männer. Seit von oben, aus der Kirche, keine Geräusche mehr zu hören waren, hatten sie es riskiert, die Fackeln in den schmiedeeisernen Halterungen anzuzünden.
Raimundo Tejero deutete auf den gut mannshohen Gang, der von dem Kellergewölbe abzweigte.
„Wenn