Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur. Philip José Farmer
aus ihrer fernöstlichen Heimat erledigten.
»Haben Sie das etwa gesagt, Watson?« Holmes schnaubte. »Nein. Haben Sie nicht. Vor Morgengrauen. Das sagten Sie, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Und wann tut sie das schon?« Mein Freund deutete mit einer dramatischen Geste auf den Toten am Boden. »Und damit hätten wir die Todesursache. Denn man könnte auch sagen, er starb vor Grauen in Anbetracht dessen, was an diesem Morgen vor ihm lag. Wer weiß, was seine Kreditgeber ihm angedroht haben, wenn er bis zum Morgengrauen nicht das nötige Geld aufgetrieben hat? Tagesanbruch ist eine übliche Frist in diesem Gewerbe. Beim Gedanken, den skrupellosen Privatbankiers am Kanal mit leeren Taschen zu begegnen, ist dem Guten trotz seiner Waffe noch vor Verlassen der Wohnung das Herz stehen geblieben, um das es ohnehin nicht gerade gut stand, wenn ich die Notiz auf dem Papierfetzen richtig deute, der neben dem Schuldschein in der Schublade lag – Crataegus wird doch Patienten mit Herzschwäche empfohlen, richtig, Watson?«
»Weißdorn, richtig«, sagte ich leise, wohl wissend, dass Holmes sich nicht wirklich für meine medizinische Sachkompetenz interessierte, wenn er einmal dermaßen in Fahrt war und seinem staunenden Publikum seine brillanten Schlüsse präsentierte.
»Er starb also an seinem schwachen Herzen und in diesem Zusammenhang vor allem am Grauen dieses Morgens«, eröffnete uns der Detektiv im Folgenden auch schon schwungvoll. »Sehr poetisch, das Ganze, finden Sie nicht? Ah. Ich sehe schon. Sie sind anderer Meinung. Nun gut. Kommen Sie trotzdem, Watson? Hier sind wir fertig, und ich glaube, wir sollten in der Bäckerei vorbeischauen, um uns mit ein paar ofenfrischen Köstlichkeiten Mrs. Hudsons Gunst zumindest teilweise zurückzuholen. Mir macht es nichts aus, auf Rührei und Würstchen zu verzichten, doch Ihre athletische Gestalt würde unter einer Diät nur unnötig leiden …«
Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur
Als ich von meinem Besuch bei einem Patienten in die Baker Street zurückkehrte, wurde mir von innen ein vielzackiger Wurfstern entgegengeworfen, der neben meinem Ohr im Türrahmen unserer Wohnung einschlug.
Attentäter!, hätten wohl die meisten gedacht.
»Holmes!«, rief ich lediglich genervt.
»Ja, Watson?«, ertönte es arglos aus dem Salon.
»Sie haben mich doch längst auf der Treppe gehört und mit Absicht genau in dem Moment geworfen, als ich zur Tür hereinkam.«
»Das würde mir nicht mal im Traum einfallen, alter Knabe.«
»Natürlich nicht.« Ich seufzte. »Soll ich Ihnen Ihr Spielzeug mit zurück in den Salon bringen?«
»Kommt ganz darauf an.«
»Worauf denn, Holmes?«
»Ob die gute Mrs. Hudson bei ihrem nächsten Abstecher in unsere Junggesellen-Räuberhöhle einen Herzinfarkt bekommen soll oder nicht, wenn ein Wurfstern in ihrer Tür steckt.«
»Ich würde sagen, sie ist dank Ihnen Kummer gewohnt«, murrte ich und fügte leiser hinzu: »Genau wie ich.«
»Was sagen Sie, Watson?«
»Nichts«, erwiderte ich, stellte meine Arzttasche ab und zog kraftvoll mit beiden Händen an einem Zacken, um den Wurfstern aus Mrs. Hudsons armer Tür zu bekommen, ohne mir dabei die Finger aufzuschneiden.
Holmes saß, leger in Hose und Hemd gekleidet, im Salon. Einen seiner stets heillos überladenen, chaotischen Schreibtische hatte er halbwegs freigeräumt und darauf ein Sammelsurium aus Messern, Dolchen, Blasrohren, Pfeilen, Wurfsternen und anderen Waffen ausgebreitet, zu denen er sich Notizen machte.
»Exotische Waffenstudien?«, fragte ich.
Er blickte nicht auf, als er sagte: »Vielleicht bin ich ja auch einfach nur sauer auf Sie und sichte meine Optionen.«
»Unwahrscheinlich«, gab ich in meiner besten Imitation des Detektivs zurück und stellte meine Tasche an ihren Platz in dem, was Holmes nicht ganz zu Unrecht als unsere Räuberhöhle bezeichnete – denn wir hatten unsere Räumlichkeiten wirklich wild mit Büchern, Zeitschriften, Utensilien unserer jeweiligen Professionen und allen möglichen Dingen vollgestopft, die ich der Einfachheit halber als Artefakte unser beider abenteuerlicher Leben deklarieren möchte.
»Lestrade hat mir von einem Krieg zweier Banden aus Asien erzählt, die an den Docks um die Vorherrschaft im Opiumgeschäft streiten«, sagte Holmes. »Wovon ich selbstverständlich früher wusste als Lestrade und der Rest von Scotland Yard. Ich erstelle gerade einen Katalog ihrer Waffen, da ich befürchte, dass den ersten Scharmützeln bald die größeren, hässlicheren Schlachten folgen werden.«
»Das heißt, Sie haben da ein paar Originale von früheren Schauplätzen des Bandenkriegs? Tatorten, nehme ich an?«
»Richtig. Der chinesische Wurfstern, den Sie da in der Hand halten, steckte zum Beispiel in der Stirn eines Türstehers einer von Indern betriebenen Opiumhöhle.«
Ich warf den Wurfstern ein wenig hastiger als nötig auf den Tisch meines Mitbewohners.
»Keine Sorge, Watson. Er wurde gereinigt.«
»Ja? So zimperlich sind Sie doch sonst nicht, Holmes.«
Der Detektiv zuckte mit den Schultern. »Das getrocknete Blut hätte die Flugeigenschaften beeinträchtigen und somit meine Studien verfälschen können.«
Ich enthielt mich eines Kommentars, nicht zuletzt deshalb, weil in diesem Moment die Türglocke läutete, Stimmen unten an der Haustür zu vernehmen waren und Mrs. Hudson jemanden die knarzenden Treppenstufen zu unserer Wohnung emporführte.
»Hat Sie ein wütender Ehemann verfolgt?«, wollte Holmes wissen. »Alternativ: Bruder, Vater, Vetter, Onkel, Nebenbuhler, Verflossener.«
»Wenn ich am Schritt höre, dass es eine Frau mit Stiefeln und Absätzen ist, die Mrs. Hudson die Treppe hoch folgt, dann wissen Sie das längst«, gab ich kühl zurück.
»Nicht schlecht, Watson.«
Die Frau, die von Mrs. Hudson in unsere Wohnung geleitet wurde und Holmes um ein Gespräch bat, war eine exotische Schönheit, die sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze bewegte. Sie gehörte zu den hübschesten Frauen, die ich je gesehen habe: langes, glattes schwarzes Haar, ein dunkler Teint, hohe Wangenknochen, tiefgründige braune Augen und eine Ausstrahlung, die wir Briten so gern als aristokratisch bezeichnen. Sie wirkte wie eine Prinzessin aus zwei Hemisphären, eine Göttin aus einer orientalischen Kolonie des Empires. Die Dame trug eine Bluse aus hellem Leinen, ein smaragdgrünes Halstuch aus Seide sowie Hosen und hohe Stiefel aus dunklem Leder – als wäre sie drauf und dran, sich in ein Dschungelabenteuer zu stürzen.
Sie war eine Frau, die das Herz eines jeden Mannes – bis auf das von Sherlock Holmes – höher schlagen und einen auf eine möglichst aufrechte Haltung achten ließ.
»Atmen, Watson«, raunte Holmes mir zu, nachdem wir uns miteinander bekannt gemacht hatten und Platz nahmen.
»Danke, dass Sie mich ohne Termin empfangen«, sagte Ms. Samantha Sterling. Ihre Stimme war ebenso angenehm wie ihr Anblick, wenngleich bar jedes Akzentes, den man womöglich erwartet hätte.
»Aber gerne doch«, sagte Holmes. »Ich gestehe, ich bin neugierig. Was führt eine Frau aus Eschnapur, die mit Tigern arbeitet, nach London – und in unser bescheidenes Heim?«
Ms. Sterling riss die sinnlichen braunen Augen auf. »Kennen wir uns etwa schon, Mr. Holmes? Wenn ja, so verzeihen Sie mir, dass ich mich nicht an die entsprechende Begegnung erinnere …«
»Ich sehe Sie heute zum ersten Mal«, beruhigte mein Freund unsere Besucherin sogleich.
»Es ist sein Trick, um die Leute beim ersten Treffen zu beeindrucken«, erklärte ich Ms. Sterling.
Holmes warf mir einen warnenden Seitenblick zu. »Wenn Sie gestatten?«, fragte er die Dame dann und erhielt ein zurückhaltend-aufforderndes Nicken. »Ihre Kleidung ist nicht besonders straßentauglich und entspricht auch nicht der hiesigen Mode, weder