Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur. Philip José Farmer
Sie gehen also zweifellos einer Tätigkeit nach, die zwar schicke, aber robuste Kleidung und obendrein Beinfreiheit nötig macht, bei der Röcke ergo hinderlich wären. Die charakteristischen Schwielen an Ihren Händen und die spezielle Definition der Muskeln Ihres rechten Arms weisen darauf hin, dass Sie regelmäßig eine Peitsche schwingen. Wenn Sie einen Raum betreten, richten Sie sich zudem auf, fast so wie der gute Watson bei Ihrem Anblick eben – Sie tun das jedoch aus Gewohnheit, als wäre es Ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, aus Gründen des Überlebens. Als müssten Sie jeden Tag Raubtieren ins Auge blicken, denen kein Anzeichen für Schwäche entgeht. Dazu die alten Narben am Hals, die von Krallen stammen und die ihr Halstuch meistens, aber nicht immer verdeckt. Und Ihr Parfüm ist zwar durchaus bezaubernd, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, kann aber nicht ganz das Odeur von Panthera Tigris verbergen. All das zusammen lässt mich zu dem Schluss kommen, dass sie täglich mit Raubkatzen, genauer gesagt Tigern, zu tun haben. Was dagegen Ihre Herkunft anbelangt: Die Gravur ihres Armreifs zeigt den Tempel von Eschnapur. Und so oft, wie Sie den Reif berühren, sind er und seine Symbolik Ihnen sehr wichtig. Er könnte Sie auch an einen Liebhaber oder Ihre Eltern erinnern, doch Sie scheinen mir eine unabhängige Frau zu sein, deshalb verbinden Sie das Schmuckstück zuallererst mit Ihrem Zuhause in Indien.«
Ms. Sterling lächelte und zeigte zwei perlweiße Reihen kleiner, runder Zähne. »Ausgezeichnet«, sagte sie erfreut. »Sie sind so gut, wie man sagt.«
Mit einem Funkeln in den grauen Augen sagte mein Freund: »Das und zuweilen noch besser, wenn man mir die Gelegenheit gibt. Wie kann ich Ihnen also helfen, Ms. Sterling?«
»Ihre Schlussfolgerungen in Hinblick auf meine Herkunft und meine Tätigkeit sind vollkommen korrekt, Mr. Holmes. Ich wurde in Indien geboren und verbrachte viele Jahre meines Lebens in diesem Land, wo mein Vater als Ingenieur einer britischen Firma arbeitete, die Brücken baut. Die Tierwelt Indiens begeisterte mich von klein auf, und meine Eltern ließen mich gewähren und brachten mich sogar in Kontakt mit Elefanten, jungen Tigern, Leoparden, Bären, Wölfen, Falken, Affen und vielem mehr. Ich besitze heute viele dieser Tiere, obwohl das nicht einmal annähernd ausdrückt, in was für einem Verhältnis ich zu ihnen stehe oder was sie mir wirklich bedeuten. In Eschnapur unterhalte ich ein Refugium für Tiere, die man andernfalls in den Tod schicken würde, würde ich sie nicht vor Jägern oder einem anderen traurigen Schicksal retten.«
Sie unterbrach ihre Rede kurz, da Mrs. Hudson Tee und Gebäck brachte – trotz ihrer ausgesuchten Freundlichkeit entgingen mir nicht die scheelen Blicke, die unsere auf Schicklichkeit bedachte Haushälterin Ms. Sterlings burschikosen Beinkleidern zuwarf.
Nach einem Schluck Tee fuhr unsere Besucherin, die diese Blicke ignorierte, fort: »Meine Eltern sind bereits tot. Ein Erdrutsch, als sie ohne mich auf Reisen waren. Meine Tante in London ist meine letzte lebende Verwandte, der ich nahestehe, da ich oft bei ihr war, als ich in England studierte. Jetzt ist Tante Betsy schwer erkrankt und bat mich, für die letzten Monate, die ihr bleiben, zu ihr zu kommen. Eine Bitte, der ich gerne nachkam. Meine Tiere habe ich in der Obhut meiner Angestellten zurückgelassen. Alle bis auf Sophie, eine Tigerin, die als kleines Kätzchen ihre Mutter durch Jäger – pikanterweise aus England und Kollegen meines Vaters – verlor und die ich mit der Flasche aufzog. Wir sind Freunde, obwohl wir verschiedenen Spezies angehören. Vor einem Monat kamen wir, Sophie und ich, in England an. Auf dem Anwesen meiner Tante gibt es leer stehende Stallungen. Einen der Ställe habe ich vor meiner Ankunft auf meine Anweisungen und Pläne hin zu einem Tigerkäfig umbauen lassen. Sophie ist auf mich fixiert und würde mir nie etwas tun, doch sicher ist sicher in dieser fremden Umgebung, ein Tiger bleibt ein Tiger, und die fremden Eindrücke und Menschen könnten Sophie irritieren.« Ms. Sterling spielte an ihrem Armreif. »Wir haben uns gut bei meiner Tante eingelebt, unseren Rhythmus in London gefunden. Zumindest dachte ich das. Doch gestern ist etwas passiert.«
»Der Tiger ist verschwunden«, sagte Holmes und schlug die Beine übereinander.
Ms. Sterling starrte den Detektiv an. »Vermutlich sollte es mich nicht wundern, aber …«
»Es ist der einzig logische Grund für Ihren Besuch hier. Sie haben mehr über Sophie erzählt als über sich selbst.« Falls Holmes bemerkte, dass er Ms. Sterling damit beschämte, die ihre Emotionen schnell hinter einem Schluck Tee verbarg, zog er es vor, dies nicht zu beachten. »Wäre das Tier tot, wären Sie nicht hier. Also lebt es noch, und dennoch haben Sie Grund zur Sorge. Also ist es verschwunden. Und wieso sonst sollten Sie zum besten Detektiv der Welt kommen?«
»Früher haben Sie sich noch als einzigen beratenden Detektiv Londons vorgestellt«, merkte ich an, teilweise, um zu kaschieren, wie sehr mich der Gedanken an einen frei laufenden Tiger in London beunruhigte – während meiner Militärzeit in Afghanistan hatte ich diese Raubkatzen zu fürchten gelernt.
»Wieso tiefstapeln, Watson?«, fragte Holmes. »Aber zurück zu Ihrem Tiger, Ms. Sterling. Was ist geschehen?«
»Wenn ich das wüsste! Als ich nach dem Frühstück Sophie besuchen wollte, so, wie ich das jeden Tag tat bis dahin, waren der Stall und ihr Käfig darin leer. Die schweren Vorhängeschlösser, zu denen ich alleine den Schlüssel habe, waren unangetastet und so fest verschlossen, wie ich sie am Abend zurückgelassen habe. Auch die Gitterstäbe zeigten kein Anzeichen dafür, dass sich Sophie von innen oder jemand von außen an ihnen zu schaffen gemacht hat. Es ist, als hätte sich Sophie einfach in Luft aufgelöst.« Das aristokratische Selbstbewusstsein unserer Besucherin verschwand, als sie sagte: »Sie müssen mir helfen, sie zu finden, Mr. Holmes! Ich und das Personal meiner Tante konnten sie nirgends aufspüren. Und ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn sie die City erreichen sollte. Was sie tun könnte, wenn der Hunger sie packt oder sie sich bedroht fühlt. Oder was man ihr antun mag.«
»Wir werden Sophie finden«, versprach ich Ms. Sterling, tief gerührt von ihrer Verzweiflung.
Ms. Sterling sah mich dankbar an und drehte sich dann zu Holmes. »Sie werden mir helfen?«
Holmes lächelte milde. »Wer bin ich denn, dem guten Watson zu widersprechen? Wenn er sagt, wir finden Ihren Tiger, Ms. Sterling, dann tun wir genau das.«
* * *
Wir fuhren mit einem geräumigen Growler nach Wimbledon, wo das Stadthaus von Ms. Sterlings verwitweter Tante mitsamt den Stallungen im hinteren Teil des Anwesens lag. Der Lärm der Passanten und Kutschen blieb hinter einer zweieinhalb Meter hohen Steinmauer mit geschmiedeten Zaunspitzen zurück. Innen standen Bäume und Büsche zwischen geometrisch angeordneten Rasenflächen und Kieswegen. Ein Gärtner schnitt mit einer großen Schere eine Hecke in Form; ein älterer, bärtiger Gentleman mit grauem Haar und Tweedanzug – offensichtlich der Hausverwalter – instruierte ihn.
Ms. Sterling führte uns ohne Umschweife zu den Stallgebäuden. Mein Freund untersuchte den Tigerkäfig im umfunktionierten Stall, der seit Jahren keine Pferde mehr beherbergt hatte. Ich hatte in Afghanistan einige Tigerfallen gesehen und versicherte Holmes, dass der Käfig stabil genug sei. Holmes besah sich alles und erklärte schließlich, Ms. Sterlings Einschätzung zuzustimmen: »Niemand hat das Schloss des Käfigs gewaltsam geöffnet. Weder mit einem Dietrich noch mit Säure.«
»Was bedeutet das?«, fragte Ms. Sterling.
»Dass eine andere, wenngleich nicht weniger ätzende Substanz als Säure zum Einsatz kam«, sagte Holmes. »Verrat!«
Damit sprintete er ohne Vorwarnung über ein Rasenstück davon und sprang in ein mannshohes Gebüsch.
Ms. Sterling warf mir aus ihren bezaubernden Augen einen fragenden Blick zu.
Ich zuckte lediglich mit den Schultern. »Er hat meistens gute Gründe für sein Verhalten«, sagte ich, und da tauchte Holmes auch schon wieder auf – und hatte den älteren Mann mit dem Tweedanzug im Schlepptau, der bei unserer Ankunft den Gärtner beaufsichtigt hatte.
»Sich an mich anzuschleichen, ist so, als wolle man sich an einen Tiger anpirschen«, sagte Holmes, der den Mann grob am Kragen gepackt hielt.
»Philipps?«, fragte Ms. Sterling verwundert.
»Sagen Sie ihm, dass er mich loslassen soll, Miss!«, sagte Philipps mit hochrotem Kopf.
»Mr.