Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur. Philip José Farmer

Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur - Philip José Farmer


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Sie hinter Watson, Ms. Sterling, er ist eine hervorragende Deckung, wie er mehr als einmal bewiesen hat. Die Leute schießen besonders gerne auf ihn.«

      Holmes hielt sich nicht damit auf, die Tür zur Lagerhalle mit seinem Dietrich-Set auf subtile Weise zu knacken; stattdessen trat er sie kurz entschlossen ein, und schon liefen wir in einen kargen, großen Raum, in dem keine Kisten und keine Waren standen, sehr wohl aber der Wagen mit dem Käfig, den Philipps, der Hausverwalter der Sterlings, beschrieben hatte.

      Doch kein Tiger weit und breit.

      »Sophie war hier!«, sagte Ms. Sterling aufgeregt. »Hierher muss man sie gebracht haben!«

      »Und von hier ist sie entkommen«, sagte Holmes und zeigte auf die Blutflecken sowie die durcheinanderlaufenden roten Pfoten- und Stiefelabdrücke am Boden vor dem Käfig.

      »Aber hier ist kein Tiger«, sagte ich.

      »Nein, nur ich«, antwortete da eine fremde Männerstimme, und wir alle drehten uns um.

      Im Eingang stand ein großgewachsener Mann mit einer Jagdbüchse. Unter einem Mantel trug er Kleidung, die von der Machart her Ms. Sterlings Kluft ähnlich war.

      »Lord Roxton«, sagte Holmes in den Moment, da auch ich den Mann erkannte, den mein Freund mir heute Vormittag auf der Titelseite des Standard gezeigt hatte.

      »Wie kommen Sie hierher?«, fragte Roxton barsch. »Und wieso wissen Sie von dem Tiger?«

      »Dem Tiger, mit dem Sie niemand in Verbindung bringen sollte, bis Sie ihn in der Öffentlichkeit erlegen?« Holmes gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Dann hätten Sie sich andere Komplizen suchen müssen.« Selbst mit einem Gewehr, das auf ihn – uns – gerichtet war, konnte der Detektiv der Versuchung nicht widerstehen, mit seinem kriminalistischen Genie anzugeben. Der perplexe Roxton ließ ihn gewähren, und Holmes führte für mich und Ms. Sterling aus: »Philipps hatte Schulden bei einer der Banden aus Indien, die derzeit mit den Chinesen um die Herrschaft an den Docks streiten, da beide das Opiumgeschäft kontrollieren wollen.« Er sah Roxton herausfordernd an. »Sie übernahmen Philipps’ Schulden bei den Indern, um an den Tiger zu kommen.«

      »Was will er mit Sophie?«, fragte Ms. Sterling.

      »Es gehört alles zu seinem Plan, in dessen Folge Lord Roxton im Licht der Öffentlichkeit wieder zum Helden werden sollte. Damit das Duell vergessen wäre.« Holmes gestikulierte vage. »Watson hatte mich vor einigen Tagen gefragt, wer etwas vom Diebstahl eines Tiger haben könnte. Heute Morgen erhielt ich die Antwort in Schwarz auf Weiß.«

      »Ach?!«, machte Lord Roxton verächtlich.

      »Der Zeitungsartikel, der Sie schon zum Helden stilisierte. Doch damit London Sie als Retter feiern würde, der die Stadt von einer wilden Bestie befreit, musste der Tiger erst für Angst und Schrecken sorgen. Aber nicht einmal Sie wollten Ihr Gewissen damit belasten, eine Raubkatze frei durch die Stadt streifen zu lassen. Also heuerten Sie die indischen Gangster an, mit einem Baghnakh die tödlichen Angriffe durch Tigerklauen vorzutäuschen.«

      »Was ist ein Baghnakh?«, fragte ich – Holmes hatte kein Recht auf Redebedarf in unpassenden Momenten.

      »Ein indischer Schlagring, auch Tigerkralle genannt«, sagte Ms. Sterling. »Er hinterlässt entsprechende Spuren.«

      »Auf meinem Tisch lag die ganze Zeit einer begraben«, ergänzte Holmes säuerlich. »Ich war nur noch nicht so weit gekommen, ihn zu katalogisieren. Bis heute Morgen, als ich vor dem Frühstück und der Zeitungslektüre etwas arbeitete, um meinen Geist auf andere Gedanken zu bringen. Was haben Sie den Indern im Gegenzug versprochen, Roxton? Ihre Dienste als Scharfschütze im Krieg mit den Triaden? Wie auch immer. Deshalb fand Toby an den Opfern – allesamt Schuldner in den Opiumhöhlen der Chinesen oder anderswie mit diesen verbandelt, wie meine Recherchen in den letzten Stunden ergaben – keine Spur des Tigers. Weil das Tier nie dort war. Nur Ihre gedungenen Mörder, Roxton. Aber Gregson sammelt sie gerade ein und stellt die Tigerkrallen ohne Tiger sicher.«

      »Eines verstehe ich nicht«, warf Ms. Sterling nun ihrerseits ein. »Wieso haben Sie Sophie doch freigelassen?«

      »Sophie?«, fragte Roxton, der immer genervter und ungeduldiger wirkte, am langen Lauf seines Gewehrs vorbei.

      »Der Tiger heißt so«, erklärte ich. »Eine Sie.«

      Lord Roxton, der garantiert nicht mit einem ausufernden Dialog dieser Art gerechnet hatte, knurrte gereizt. »Das Drecksvieh ist beim Füttern abgehauen. Seit vier Tagen streift es durch die Gegend. Bisher konnten wir das Biest nicht wieder einfangen. Dabei brauche ich den Tiger in der City, um ihn vor den Augen einer schönen großen Menge zu erschießen. So werden Helden geboren, wie der Klugscheißer da richtig sagte.« Er grinste schief. »Aber jetzt müssen wir erst mal das Problem Ihrer Anwesenheit lösen. Wirklich schade um die hübsche Lady.«

      Was auch immer als Nächstes geschehen sollte, wurde durch ein tiefes Grollen verzögert, das meine Wirbelsäule vibrieren ließ. Ein massiger Schatten schob sich aus einer Seitentür, die in einen anderen Raum führte, in das Zwielicht des Lagerraums.

      Der Täter kehrt immer zum Tatort zurück, schoss es mir durch den Kopf – oder hatte der Tiger, der seit Tagen durch diese schattenreiche Gegend am Wasser strich, Ms. Sterling gewittert?

      »Sophie!«, entfuhr es Ms. Sterling erfreut.

      Ich war weniger angetan von dem ausgewachsenen Tiger, der sich uns näherte, jede Bewegung ein beeindruckendes Spiel aus Muskeln und Kraft unter dem Fell, die Pranken gewaltig, die Kiefer Furcht einflößend, der Blick stechend.

      Lord Roxtons Aufmerksamkeit, von den Instinkten des Jägers beherrscht, verlagerte sich ebenfalls auf die riesige Raubkatze, die bedrohlich auf uns zuhielt.

      Holmes nutzte die Ablenkung, griff in seine Westentasche und schleuderte Roxton einen Wurfstern entgegen, der die Hand traf, mit welcher seine Lordschaft das Jagdgewehr stützte.

      Roxton zuckte. Ein verzogener Schuss löste sich, der Tiger sprang, und bevor die Kugel in Ms. Sterlings Körper einschlagen konnte, traf sie den Tiger, der sich mit einem Satz fauchend vor die Schönheit aus Eschnapur geworfen hatte – mit Absicht oder weil das wütende Tier Roxton angreifen wollte oder sonst etwas vorhatte, wer weiß das schon?

      Ms. Sterlings Schrei und das Fauchen des getroffenen Tigers verschmolzen zu einem gequälten Laut voller Pein.

      Holmes rannte auf Roxton zu und setzte ihn mit dem Faustschlag eines Preisboxers außer Gefecht; Ms. Sterling eilte zu Sophie, die heftig bebend mit zuckendem Schweif auf der Seite lag. Ihr Grollen klang nicht länger aggressiv. »O Sophie!«, flüsterte Ms. Sterling verzweifelt mit tränenerstickter Stimme und streichelte der angeschossenen Raubkatze, die feucht schnaubend atmete, über die sich heftig hebende und senkende Flanke. Blut bedeckte Ms. Sterlings Kleidung, den dreckigen Boden und das Fell des Tieres.

      Holmes kniete auf Roxton, verschränkte dessen Arme hinter dem Rücken und legte ihm Handschellen an. »Helfen Sie dem Tiger, Watson!«, rief mein Freund mir außerdem zu.

      Und so kam es, dass ich an diesem Nachmittag in einem schmuddeligen Lagerhaus unweit der Themse einen Tiger mit nichts weiter als einem Offiziersmesser aus der Schweiz und einem Dolch aus Eschnapur eine Kugel aus dem Leib operierte, während der Rest von London genau diesen Tiger tot sehen wollte.

      * * *

      »Wir bekommen Besuch«, sagte Holmes, der am Fenster des Salons von 221B stand, eine Woche später. »Sie sollten sehen, wie die Leute vor Ms. Sterling davonrennen. Köstlich!«

      Anstatt das näher auszuführen, zog Holmes sein Jackett an und lief los, um ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nach unten zu gehen und die Haustür selbst zu öffnen.

      Beim Anblick des Tigers, den Ms. Sterling kurz darauf wie einen Hund an einer Lederleine hereinführte, stockte mir der Atem.

      Sophie fasste mich mit einem Knurren tief in ihrer Kehle ins Auge, ging zielstrebig auf mich zu, wurde immer schneller, eilte wie ein riesiger gestreifter Schemen durch unsere Wohnung und erreichte mich, ehe ich mich auch nur aus


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