Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur. Philip José Farmer

Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur - Philip José Farmer


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grausige Routine, die von den Attacken des Tigers innerhalb der City diktiert wurde.

      Die Zeitungen zelebrierten jeden neuen Angriff des getigerten Rippers, wie sie ihn nannten. Unter den Opfern der blutrünstigen Bestie, die durch London streifte, waren ein Anwalt, ein Hauslehrer, eine Köchin, ein Kutscher, ein Uhrmachergehilfe und eine Gouvernante.

      Holmes ließ sich von Ms. Sterling schon nach der ersten Attacke Stroh aus dem Tigerkäfig in den abermals verwaisten Stallungen auf dem Anwesen ihrer Tante geben, und so gingen wir zusammen mit Toby, dem besten Spürhund des Empires, auf Tigerjagd. Doch der Lurcher-Spaniel-Mischling, der uns so oft schon geholfen hatte, fand neben keiner der zerfetzten Leichen eine Spur des Tigers, sosehr wir ihn auch motivierten und schnüffeln ließen.

      »Na komm schon, Toby«, spornte ich ihn an. »Such die böse Katze! Such!«

      »Lassen Sie ihn«, sagte Holmes und tätschelte unserem verwirrten vierbeinigen Freund den Kopf. »Bringen wir ihn zu Sherman zurück.« Sherman, ein alter Freund von Holmes, war Tobys Besitzer. »Er wird erleichtert sein. Ich hatte das Gefühl, er fürchtete, wir wollten Toby an den Tiger verfüttern …«

      Ms. Sterling kam jeden Tag zu uns in die Baker Street (für sich genommen ein Grund zur Freude), ohne dass wir etwas anderes tun konnten, als ihr einen Eindruck von den blutigen Schauplätzen der Angriffe zu vermitteln oder von unseren jüngsten Fehlschlägen mit Toby – oder von Inspector Gregson und seinen Kollegen mit Fleischködern in Sackgassen und einem Aufgebot nervösen Polizisten mit Gewehren in der Nähe.

      »Sophie ist kein Menschenfresser«, beteuerte Sophies menschliche Besitzerin und Freundin jedes Mal.

      Öffentlichkeit und Presse sahen das anders.

      Die Beutezüge des Tigers in London, die wie eine Kältewelle im eisigsten Winter viele Menschen von den Straßen fernhielten, waren ein – Pardon! – gefundenes Fressen für die Zeitungen und Gazetten. Es gab Augenzeugenberichte von Leuten, die den Tiger angeblich durch einen Hinterhof schleichen oder vom Schauplatz eines Angriffs flüchten gesehen hatten, deren Kutschpferd wegen eines getigerten Etwas durchgegangen war oder die wenigstens ein Paar grün glühender Augen in einer Gasse erspäht hatten. (Ich gestehe: auch ich bildete mir ein ums andere Mal ein, einen getigerten Schemen im Augenwinkel oder im Seitenfenster einer Droschke zu sehen, wenn ich unterwegs war; Holmes erzählte ich nichts von meinen eingebildeten »Sichtungen«.) Diese mal mehr, mal weniger glaubhaften Berichte mischten sich mit Analysen von Zoologen und Großwildjägern, Beschwerdebriefen empörter Bürger und Tipps sowie konkreten Angeboten gewiefter Geschäftsleute, wie man sein Zuhause tigersicher machen könnte.

      Ein Beitrag amüsierte Holmes eines Morgens beim Frühstück besonders. »Erinnern Sie sich noch an Ihren Freund Eames?«

      Wie könnte ich nicht! Jeremy Eames war ein Kritiker des Star, der auf einer literarischen Abendveranstaltung, an der wir beide teilgenommen hatten, meine letzte Geschichte über Holmes vor den anderen Gästen lächerlich gemacht hatte, woraufhin ich mit seinem Gedichtband hart ins Gericht gegangen war und sogar ein paar seiner Verse extra verunglimpfend rezitiert hatte; ohne Wilde und einige andere Kollegen, die dazwischengegangen waren, hätten wir uns wohl wie die Schuljungen geprügelt.

      »Was schreibt er denn diesmal?«, fragte ich wenig erbaut.

      Der Detektiv las vor: »Wären da nicht die minderwertigen literarischen Fantasien eines gewissen Arztes, der über die debilen Abenteuer seiner selbst und seines arroganten Detektivfreunds schreibt und dabei haufenweise Unwahrheiten, Behauptungen und Stilblüten in die Welt setzt, hätte Colonel Sebastian Moran, einer der größten Tigerjäger unserer Zeit, London nicht bei Nacht und Nebel in Schimpf und Schande verlassen müssen und könnte sich nun des Problems annehmen. So bleiben uns nur der humpelnde Arzt mit den fehlgeleiteten schriftstellerischen Ambitionen und sein drogensüchtiger, zur Selbstüberschätzung neigender Kompagnon, die genauso ahnungslos durch London stolpern wie die Polizei und die Bürgerwehren. Was ist nur aus unserem einstmals großen Empire geworden, das seine wahren Helden vergessen hat?«

      »Wenn ich den erwische!«, knurrte ich wie ein Tiger.

      »Mh-mh«, machte Holmes abwesend, der schon wieder weiter blätterte und las, selektierte und sondierte. Irgendwann merkte er auf und sagte halblaut: »Sieh mal einer an.«

      »Was haben Sie gefunden, Holmes? Noch eine vernichtende Kritik?«

      »Die Welt dreht sich nicht nur um Ihre kleinen Geschichten und Fehden im Literaturbetrieb, Watson«, sagte mein Freund. »Nein, hier ist ein kleiner Artikel am Rande der sensationslüsternen Berichterstattung. Mehrere Menschen in einer Gegend an den Docks beklagen sich, dass Hunde, aber auch Schweine, Schafe und Ziegen aus Pferchen verschwinden – und sich niemand dafür interessiert, dass der Tiger auch bei ihnen am Ufer zuschlägt.«

      »An den Docks? Keines der bisherigen Opfer von Sophie war auch nur in der Nähe der Docks, Holmes.«

      »Ich weiß, Watson«, erwiderte der Detektiv, der den Star durchhatte und nun den Standard zur Hand nahm. »Und allmählich ergibt sich ein Bild«, sagte er nach einem kurzen Blick auf die frische Ausgabe und hielt mir die Zeitung hin.

      Die Schlagzeile der Titelseite, die das unscharfe Foto eines Mannes neben einem toten Tiger zierte, lautete:

       Lord Roxton, legendärer Abenteurer und Jäger, erklärt sich bereit, London vor dem Menschenfresser zu retten!

      »Lord Roxton? Gab es da letztes Jahr nicht irgendeinen Skandal wegen eines Duells um eine Frau?«

      »Keine Zeit für Klatsch, Watson!«, rief Holmes, der bereits nach seinem Zylinder griff und zur Wohnungstür eilte. »Der Tiger ist auf, die Jagd gelangt in ihre entscheidende Phase!«

      * * *

      Drei Stunden später, die ich mit Überarbeitungen des Falls der Dracula-Gesellschaft verbracht hatte, bestellte mich ein Telegramm von Holmes an die Docks – ich musste dem Fahrer einen Aufpreis zahlen, damit er mich in diese Gegend brachte. Unterwegs sammelten wir wie verlangt Mr. Sherlock Holmes und Ms. Samantha Sterling auf.

      »Sie kennt den Tiger am besten«, antwortete der Detektiv auf meine unausgesprochene Frage. »Wenn wir Sophie finden, sollte sie ein vertrautes Gesicht sehen, meinen Sie nicht?«

      »Das scheint mir für Ihre Verhältnisse verblüffend vernünftig, Holmes. Aber woher auf einmal die Gewissheit, dass wir Sophie finden? Und wieso im Hafenviertel, wo bisher, wie wir bereits feststellten, kein Mensch zu Schaden kam?«

      »Der Tiger ist an den Docks«, sagte Holmes voller Überzeugung. »Wo er Schlachtvieh und anderes reißt. Er ist kein Menschenfresser, wie Ms. Sterling selbst nicht müde wird zu betonen. Wir sind die ganze Zeit einer falschen Fährte gefolgt, die mit Absicht gelegt wurde.«

      »Aber die Opfer im Rest der Stadt?«, fragte ich.

      »Die falsche Fährte!«, wiederholte Holmes triumphierend. »Mummenschanz, wenngleich von der heimtückischen und tödlichen Sorte. Ich hätte früher drauf kommen sollen, aber selbst ich bin nicht immun gegen das Jagdfieber, fürchte ich. Doch spätestens als der gute Toby keinen Hauch von Tiger an den angeblichen Tigeropfern fand, hätte mir klar sein müssen, dass man uns einen Bären oder viel mehr einen Tiger aufzubinden versucht.«

      »Wie meinen Sie das, Mr. Holmes?«, wollte Ms. Sterling wissen, die wieder abenteuertaugliche Kleidung trug.

      »Eines nach dem anderen«, sagte der Detektiv. »Wir sind da.« Holmes klopfte gegen das Kutschendach. »Da ist das Lagerhaus.«

      »Hier sind viele Lagerhäuser«, sagte ich und half Ms. Sterling beim Aussteigen. »Wieso ausgerechnet dieses?«

      Die verrußte Halle war ziemlich heruntergekommen, einige Fenster sogar mit Brettern vernagelt.

      »Lord Roxton«, sagte Holmes, als würde das alles erklären.

      »Der in Ungnade gefallene Jäger aus der Zeitung? Der designierte Held, der London von dem Tiger befreien soll?«

      »Ha!« Holmes rieb sich die Hände. »Wir werden sehen.


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