Seewölfe Paket 6. Roy Palmer
sie laufen sie nicht direkt an?“ fragte Siri-Tong.
„Nein. Drake sagte, sie haben genügend Proviant und Trinkwasser an Bord und sind für eine Reise ohne Unterbrechung gerüstet, die fast zwei Monate dauert.“
Hasard hatte sich aufgerichtet. Er schaute in die Runde und las in den Mienen seiner Männer, daß sie genau das gleiche dachten wie er.
„Thomas“, sagte er. „Was tat Drake? Wartete er?“
„Ja, denn ich teilte ihm mit, daß die ‚Nao‘ Hawaii in jenem Jahr noch nicht passiert hätte. Eigentlich war ich dagegen, daß er sie überfiel, aber er überzeugte mich. Erstens, weil er behauptete, sich im Kampf absolut fair zu verhalten, zweitens, weil ich damals noch eine ziemlich große Wut gegen die ‚Dons‘ im Bauch hatte.“
„Nun spann uns doch nicht so auf die Folter“, sagte Old O’Flynn. „Konnte unser guter alter Francis Drake die verdammte Manila-Galeone nun aufbringen oder nicht?“
„Er wartete vergebens. Sie erschien nicht. Er setzte seine Reise fort, und erst rund einen Monat später beobachtete ich dann das Schiff, wie es vorüberzog. Ich habe es sogar gemalt.“
„Das Bild schaue ich mir gern mal an“, sagte Hasard.
„Es liegt in meiner Hütte.“
„Gut. Später also.“ Der Seewolf blickte zu Bill, der in diesem Augenblick auf das Achterdeck zurückkehrte, sprach dabei aber weiter. „Seit wir Engländer auch in diese Gefilde vorgedrungen sind, sind die Spanier vorsichtiger geworden. Sie scheinen den Terminplan für die Manila-Galeone tatsächlich jedes Jahr neu festzulegen. Ob sie auch die Route geändert haben?“
„Das kann ich dir nicht sagen“, erwiderte Federmann. „In diesem Jahr ist das Schiff hier jedenfalls noch nicht aufgekreuzt.“
„Das würde sich mit dem decken, was wir durch die Sabreras-Dokumente wissen.“ Hasard nahm die Schatulle in die Hand, die Bill auf seine Anordnung hin aus der Kapitänskammer geholt hatte. Er öffnete sie. „Aber jetzt zurück zu unseren Freundschaftsgaben.“ Langsam zog er eine goldene Kette, die über und über mit Smaragden besetzt war, aus dem Behältnis hervor. „Diesen Schmuck haben die Chibchas, die Ureinwohner von Neu-Granada, angefertigt. Sie schenkten ihn uns, weil wir sie aus der spanischen Gefangenschaft und Sklaverei befreiten.“
„Esmeraldas“, sagte Thomas Federmann überwältigt. „Die grünen Steine, deren Wert sich nur schätzen läßt …“
In der mit Samt ausgeschlagenen Schatulle lagen noch mehr Schmuckstükke – Ketten, Reifen und Diademe. Hasard händigte sie Zegú aus, und wieder spielte sich das gleiche Zeremoniell ab. Der Häuptling weigerte sich, die Kleinodien anzunehmen. Aber dank Siri-Tongs Lächeln und überzeugender Worte willigte er schließlich doch ein.
Die Feier dauerte bis zum Morgengrauen an. Die tanzenden Mädchen hatten inzwischen allen, auch Arwenack, Blumenkränze umgehängt, nur bei Sir John war es ihnen nicht gelungen. Jedesmal, wenn sie es wieder versuchten, flatterte er empört ein Stück in den Wanten hoch.
Die Heiterkeit hatte um sich gegriffen, sie war ansteckend. Matt Davies und ein paar andere sangen schräge Lieder, aber die Texte waren von der harmlosen Sorte. Überhaupt, Carberry und Thorfin Njal als Disziplinhüter paßten auf, daß keiner der Männer aus der Rolle fiel.
Am Morgen war der Seewolf als erster wieder auf den Beinen. Er saß an seinem Pult in der Kapitänskammer und hatte die Tür zur Heckgalerie weit geöffnet. Die Sonnenstrahlen drangen ungebrochen ein und wärmten seinen Rücken. Eine frische Brise strich über die Bucht. Der Wind hatte etwas mehr nach Norden gedreht. Die sanfte Dünung wiegte die „Isabella“.
Er untersuchte die Mappe aus gefettetem Schweinsleder, die er Ciro de Galantes abgenommen hatte. Sie barg ein ziemlich zerfleddertes Bündel Papier, das von irgend jemandem sehr unfachmännisch mit Seemannsgarn zusammengeheftet worden war.
Hasard blätterte darin und war plötzlich so sehr in seine Gedanken verstrickt und in die Lektüre vertieft, daß er Siri-Tong kaum bemerkte.
Sie trat durch die Tür ein, die auf den Gang des Achterkastells führte. Langsam schob sie sich näher an Hasard heran.
„Was ist denn das für ein merkwürdiges Buch?“ fragte sie dann leise.
„Das Tagebuch von Ciro de Galantes“, antwortete er, ohne aufzuschauen. „Du wirst es kaum für möglich halten, aber hier ist auch von der sagenhaften ‚Nao de China‘ die Rede. Das spanische Schiff, auf dem de Galantes Bootsmann und seine meuternden Komplicen Decksleute waren, hatte unter anderem Geheimdokumente für den Gouverneur von Panama an Bord, und die befaßten sich mit dem Zeitplan und der Route der Manila-Galeone. De Galantes hat sie einsehen und abschreiben können. Ich hoffe wirklich, sein damaliger Kapitän hat davon nichts gemerkt.“
Die Rote Korsarin legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ja, ich verstehe. Das würde nämlich heißen, an den Planungen hat sich nichts geändert.“
„Das Schiff, auf dem de Galantes fuhr, war direkt von den Philippinen nach Neuspanien unterwegs.“
„Und wir haben allen Grund zu der Annahme, daß es dort auch angekommen ist“, sagte Siri-Tong.
„De Galantes’ Überlegungen gingen in die gleiche Richtung. Er wollte meutern und das Schiff an sich reißen, aber dann scheiterte sein Unternehmen, und er und die anderen elf Verschwörer wurden in der Pinasse ausgesetzt. Ohne Proviant, ohne Wasser. Kein Mensch hätte jemals damit gerechnet, daß sie Oahu erreichten. Und doch schafften sie es. So faßte de Galantes sein Vorhaben, Freibeuter zu werden – und hier der Manila-Galeone aufzulauern.“ Hasard hob den Kopf, wandte Siri-Tong das Gesicht zu und blickte sie eindringlich an. „Weißt du was? Er hat wohl geglaubt, unsere ‚Isabella‘ sei die Manila-Galeone.“
„Das nenne ich Ironie des Schicksals.“
„Und du weißt, was das für uns bedeutet.“
Sie lächelte. „Natürlich. Mit großer Wahrscheinlichkeit können wir die ‚Nao‘ nun stellen.“
Er grinste. „Aus den Geheimnachrichten, die de Galantes kopiert hat, geht aber noch etwas hervor. Von diesem Jahr an sollen immer mindestens zwei Kriegsschiffe die Galeone auf ihrer Reise begleiten – aus ‚zwingenden Gründen‘. Ein Dekret, das direkt von Philipp II. erlassen worden ist.“
„Die zwingenden Gründe heißen Drake und Killigrew, schätze ich.“ Sie lachte auf. „Drake hat die Galeone nicht zu kapern vermocht, und er befindet dich inzwischen wieder in England. Aber Philipp II. hat nach wie vor Grund zur Besorgnis. Der Stille Ozean ist kein ruhiges Gefilde mehr, er muß seine Schatzschiffe von Kriegsseglern schützen lassen, obwohl er früher weitgehend darauf verzichtet hat. Geleitschutz – gegen den Seewolf!“
„Und die Rote Korsarin!“
„Die beide inzwischen wieder Kap Horn gerundet haben. Diese Kunde ist mittlerweile bestimmt auch zu dem durchlauchten König durchgedrungen.“
Er stand auf, und sie traten auf die Heckgalerie.
„Die Manila-Galeone ist eine Beute, die ich mir nicht entgehen lassen will“, sagte er. „Die Angaben aus de Galantes’ Tagebuch decken sich mit denen, die ich in Sabreras’ Dokument gelesen habe. Und Thomas Federmann ist felsenfest davon überzeugt, daß die ‚Nao‘ hier noch nicht vorbeigesegelt ist.“
„Also warten wir?“
„Es wird sich lohnen“, sagte der Seewolf.
Dan O’Flynn und Gary Andrews hatten einen der schönsten Plätze an der Südseite von Hawaii erklommen und hielten am vierten Tag nach dem Eintreffen in der Bucht acht Stunden Dauerwache. Arwenack, der Schimpanse, leistete ihnen dabei Gesellschaft.
Hasard und Siri-Tong hatten auch am nordöstlichen Ufer sowie auf den Nachbarinseln Ausguckposten placiert. Thomas Federmanns Hinweisen zufolge mußte die Manila-Galeone zwar südlich von Hawaii erscheinen, aber sie wollten eben völlig sichergehen.
„Also,