Seewölfe Paket 11. Roy Palmer
Davon konnten alle, die jemals einen Fuß auf Schiffsplanken gesetzt hatten, ein Lied singen. Jeder der Männer, die unter dem Kommando des Seewolfs fuhren, hatte schon die irrwitzigsten Zufälle erlebt. Böse Zufälle waren es meist gewesen, die das Leben gekostet hätten, wenn es nicht eine glückliche Fügung des Schicksals gegeben hätte.
Dies war es, was Ben Brighton ebenso in seinen Gedanken bewegte wie der Seewolf selbst. Sie konnten nicht einmal ahnen, durch welche Umstände der Schiffbrüchige dort auf die Insel getrieben worden war. Wenn es aber noch Hoffnung für ihn gab, so war die „Isabella“ in diesem Moment jene glückliche Fügung, die es auf See so äußerst selten gab.
Es gab Pflichten, denen sich ein Mensch nicht entziehen konnte. Daran hatte es für Philip Hasard Killigrew noch nie den geringsten Zweifel gegeben. Menschlichkeit war in einer Situation dieser Art für ihn das oberste Gebot.
Noch einmal betrachtete er die gestrandete Jolle genauer. Das Boot war verwittert, vom Salzwasser angefressen. Soviel war trotz der Entfernung zu erkennen. Welche Umstände dazu geführt hatten, blieb vorerst unklar.
„Wir sehen nach dem Rechten“, entschied der Seewolf.
Ben Brighton setzte das Spektiv ab und blickte ihn an.
„Ich habe es gewußt“, sagte er mit einem kaum erkennbaren Lächeln. „Hoffen wir nur, daß es keinen Ärger gibt.“
Hasard zog die breiten Schultern hoch. Er war mehr als sechs Fuß groß und schmal in den Hüften.
„Damit muß man immer rechnen. Hinter einem Zufall können sich die schlimmsten Überraschungen verbergen. Aber willst du dein Gewissen damit belasten, jemandem nicht geholfen zu haben, wenn es um sein Leben geht?“
„Nein“, erwiderte Ben Brighton entschlossen.
„In Ordnung. Wir ankern vor der Insel und setzen ein Boot aus. Sechs Mann. Sie sollen sich freiwillig melden.“
„Aye, aye, Sir.“ Bens Stimme klang jetzt fast militärisch. Er schob das Spektiv mit einem Ruck zusammen und trat an die vordere Schmuckbalustrade des Quarterdecks. „Alle Mann an Deck!“ Sein energischer Befehlston drang bis in den letzten Winkel der Galeone.
Innerhalb weniger Minuten wurde es auf der Kuhl lebendig. Nackte Fußsohlen klatschten auf die von der Feuchtigkeit glitschigen Planken. Stimmengewirr beendete die fast idyllische Ruhe, die bis eben noch geherrscht hatte.
Während sie sich der Insel näherten, vergewisserte sich Hasard abermals. Der Schiffbrüchige hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Allem Anschein nach war jegliche Kraft aus seinem Körper gewichen, möglicherweise kam jede Hilfe für ihn schon zu spät.
2.
In gleichmäßigem Takt tauchten die Riemenblätter ins kristallklare Wasser. Das kleine Beiboot der „Isabella“ glitt mit rascher Fahrt durch den Wellengang, der sich klatschend am Bug brach und Gischtfahnen über die Köpfe der Männer wehen ließ. Die Sonne war höher gestiegen und stand mittlerweile über den Kronen der mächtigen Kokospalmen. Schon jetzt ließ sich die bevorstehende Hitze des Tages ahnen, denn die frische Morgenluft wich allmählich einsetzender drückender Schwüle.
Der Küstenstreifen erstreckte sich etwa in Nord-Süd-Richtung; der Strand bildete eine weitgeschwungene dunkle Linie vor der grünen Kulisse des Tropenwaldes. Vereinzelt lagen darin die erkalteten Lavafelder und erinnerten an häßliche Zahnlücken in einem menschlichen Gesicht.
Edwin Carberry, der bullige Profos der „Isabella“, pullte mit kraftvollen Zügen als Backbord-Schlagmann auf der achteren Ducht. Dan O’Flynn, schlank, jung und hochgewachsen, saß neben dem Profos und hatte keine Mühe, Carberrys Schlagzahl mitzuhalten.
Auch den anderen stand es in den Gesichtern, daß der kleine Landausflug eher ein Vergnügen als eine anstrengende Geschichte war. Luke Morgan, der gewitzte Bursche, der einst aus der englischen Armee desertiert war, hatte ein verwegenes Grinsen aufgesetzt. Wie stets, wenn sie sich Unbekanntem näherten. Die Messernarbe über Lukes Stirn leuchtete, er befand sich in dieser Stimmung, in der er mit Kußhand den Teufel ins Fell gezwackt hätte.
Matt Davies stand seinen Gefährten in nichts nach, obwohl er dort, wo sich einst seine rechte Hand befunden hatte, nur noch einen Stahlhaken an einer Ledermanschette trug. Einen spitzgeschliffenen Haken allerdings, den Matt im Nahkampf als gefährliche Waffe einzusetzen wußte. Das Haar des kräftig gebauten Mannes war grau. Alle an Bord der Galeone erinnerten sich an jene Nacht, die Matt Davies allein auf einem Floß in der Karibik zugebracht hatte. Haie hatten ihn umlagert, und es war wie ein Wunder gewesen, daß es der Isabella-Crew gelungen war, ihn zu retten. Doch sein früher dunkelblondes Haar war in dieser einen Nacht grau geworden.
Die beiden anderen Männer im Beiboot waren Sam Roscill und Bob Grey. Der schlanke, dunkelhaarige Sam Roskill hatte wilde Zeiten als Pirat in der Karibik hinter sich. Seit er unter dem Kommando des Seewolfs fuhr, hatte er sich als Draufgänger und zuverlässiger Kämpfer bewährt. Ebenso Bob Grey, ein drahtiger blonder Mann, dessen persönliche Geschichte so verworren war, daß er damit unter den Seefahrern dieser Zeit kaum eine Ausnahme bildete. Bob war als Waise von Geistlichen erzogen worden, hatte irgendwann die Nase gründlich vollgehabt und war ausgerissen. Die See war sein neues Zuhause, die Planken der „Isabella“ seine vertraute Umgebung. Kein anderer an Bord war so geschickt als Messerwerfer wie Bob Grey.
Ed Carberry schob sein Rammkinn vor und blickte über die Schulter zur Insel. Noch drei Kabellängen. Die Risse im morschen Holz der gestrandeten Jolle waren bereits zu erkennen.
„Schlaft nicht ein, ihr gottverdammten Kanalratten!“ knurrte er. „Falls ihr es noch nicht kapiert habt: Der Tag fängt erst an! Wenn ihr glaubt, daß ihr euch jetzt schon aufs Ohr hauen könnt, habt ihr euch mächtig getäuscht. Ho, ihr faulen Säcke, wollt ihr wohl pullen? Oder braucht ihr erst einen Tritt in eure Affenärsche, damit ihr wach werdet?“ Zur Untermalung seiner wohlmeinenden Ansprache legte Carberry noch einen Schlag zu, und die Männer paßten sich grinsend an.
Die Herzlichkeiten ihres Profos waren wie das Salz in der Suppe. Keiner von ihnen mochte sich den Tag ausmalen, an dem sie Ed Carberrys Sprüche einmal nicht mehr hörten.
Achteraus schrumpfte die schlanke Galeone in ihrem Blickfeld. Hasard hatte sämtliches Tuch aufgeien lassen, die „Isabella“ schwojte sacht um die Ankertrosse.
Edwin Carberry und die fünf anderen hatten sich freiwillig gemeldet, wie der Seewolf es erwartet hatte. Doch wenn es nach dieser Freiwilligkeit gegangen wäre, dann hätte sich jetzt die gesamte Crew auf dem Weg an Land befunden. So hatte der Profos kurzentschlossen die Auswahl getroffen. Außer ihren Entermessern hatten sie sich mit Steinschloßpistolen bewaffnet und zusätzlich drei Musketen mitgenommen.
Denn wer oder was sie außer dem Schiffbrüchigen auf der Insel erwartete, mochte derzeit allein der Teufel wissen. Zwar vermutete Ben Brighton nach wie vor, daß es sich um eine unbewohnte Insel handelte. Aber die Seewölfe hatten dem Gehörnten zu oft in die grinsende Visage geblickt, um noch gutgläubig zu sein.
Wenn es dann noch solche haarsträubenden Überraschungen gab, wie sie es in Australien erlebt hatten, dann rüsteten sie sich lieber vorher für alles Mögliche und Unmögliche. Menschenfressern, deren grausiges Handwerk sie dort auf dem Kontinent der Känguruhs und Beuteltiere erlebt hatten, wollten sie kein zweites Mal begegnen.
Unvermittelt knirschte der Kiel des Beiboots auf Sand. Die Männer pullten noch einen kräftigen Schlag, holten dann die Riemen ein und sprangen außenbords. Das seichte Wasser reichte ihnen bis zu den Kniekehlen. Sie zogen das Boot an Land, nur ein paar Schritte von der verwitterten Jolle entfernt.
Der Schiffbrüchige lag unverändert an jener Stelle, an der sie ihn schon von Bord der „Isabella“ aus beobachtet hatten.
„Sehen wir uns den komischen Stint ein bißchen näher an“, knurrte Edwin Carberry und stapfte voraus. Im dunklen Sand hinterließen seine kahnförmigen Seestiefel tiefe Abdrücke. Wer den Profos kannte, wußte, daß seine Bemerkung durchaus fürsorglich gemeint war.
Dan