Seewölfe Paket 9. Roy Palmer
ist also auf der Insel, aber Mann Gottes, was ist ihr da bloß zugestoßen?“
Er erhielt keine Antwort darauf, da man sich ja sowieso ausmalen konnte, was der Fremden geschehen sein mochte, und zwar in den scheußlichsten Farben. Hasard zögerte nicht mehr, er gab seinen Befehl.
„Wir gehen so dicht wie möglich unter Land, verholen hinter einer Landzunge, falls es eine in unserer Nähe gibt, und pullen mit den Booten an Land.“
„Abfallen und dicht unter Land“, herrschte der Profos die Crew an. „Al Conroy, marschier mit dem Senkblei auf die Galionsplattform, leg dich auf den Bauch und lote die Wassertiefe aus.“
Al Conroy lief los. Old O’Flynn blickte ihm vom Ruderhaus aus nach, schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf und murmelte: „Wenn das man bloß gutgeht. Hölle und Teufel, ich hab das Gefühl, wir laufen heute nacht doch noch auf Grund. Ich spür’s in meinem Beinstumpf.“ Er hütete sich aber, das zu laut zu sagen, denn Big Old Shane blickte bereits wieder drohend zu ihm herüber.
„Ich brauche zehn Freiwillige für ein Landunternehmen“, sagte Hasard, der inzwischen auf das Quarterdeck hinuntergestiegen war. „Wir gehen mit zwei Booten an Land und sehen zu, daß wir das Mädchen finden. Also, wer ist mit dabei?“
Da sich alle meldeten, mußte der Seewolf seine Begleiter selbst aussuchen. Seine Wahl fiel auf Big Old Shane, Ferris Tucker, Dan O’Flynn, Smoky, den Decksältesten, Batuti, den schwarzen Herkules aus Gambia, Luke Morgan, Matt Davies, Jeff Bowie, Bob Grey und den Schweden Stenmark.
Die „Isabella“ hatte unterdessen ihr Vorschiff zur Küste der Insel hin gewendet und lief mit schräg versetztem Kurs, also Richtung Südwesten, darauf zu. Al Conroy begann, die Wassertiefe auszusingen, und als man bei knapp fünf Faden angelangt war, ließ der Seewolf auch die Fock und das Besansegel aufgeien, so daß die Galeone nur noch mit dem Großsegel dahinglitt und allmählich an Fahrt verlor.
„Sir“, ertönte plötzlich Gary Andrews’ Stimme aus dem Vormars. „Da ist ein Landvorsprung, direkt voraus. Den könnten wir runden und dann gleich dahinter verholen.“
„Wir sind nah an der Insel dran“, meldete Bill aus dem Hauptmars. „Man kann ihr Ufer jetzt mit bloßem Auge erkennen.“
„Viereinhalb Faden!“ sang Al aus.
„Hol’s der Henker“, wetterte der alte O’Flynn.
„Anluven“, befahl der Seewolf. „Drei Strich Steuerbord, Donegal, und du kannst deine Bedenken vergessen. Wir schaffen’s schon.“
Das Manövrieren nur mit dem Großsegel war eine Leichtigkeit. Schnell schwenkte die „Isabella“ wieder auf westlichen Kurs, die Wassertiefe unter ihrem Rumpf nahm zu. Old O’Flynn atmete auf, denn er hatte es in Gedanken schon knirschen hören, als ob sich der Kiel der Galeone auf eine Sandbank geschoben hätte.
So aber umrundete die „Isabella“ die kleine Landzunge, schob sich dahinter und lag bald vor Anker. In aller Eile setzten die Männer die beiden Boote zu Wasser und enterten an Jakobsleitern ab. Hasard, Shane, Ferris, Dan, Smoky und Batuti bemannten die eine Jolle, Luke, Matt, Jeff, Bob und Stenmark die andere.
Ben Brighton hatte von Hasard das Kommando über die „Isabella“ übernommen. Er war während der Abwesenheit des Seewolfes der Kapitän an Bord, mit uneingeschränkter Befehlsgewalt.
Sehnsüchtig blickten Philip und Hasard, die Zwillinge, den Booten nach, die sich jetzt von der Bordwand lösten und angepullt wurden. Sie hätten gern an dem Landunternehmen teilgenommen, begriffen aber, daß es wohl nichts für zwei Jungen ihres Alters war, mitten in der Nacht ihren Fuß auf eine Insel zu setzen, auf der hundert Gefahren lauern konnten.
Hasard Junior hatte sich lediglich erlaubt, in dieser Sache einmal kurz bei Mister Carberry anzufragen, der neben ihnen am Schanzkleid der „Isabella“ stand.
Aber der Profos hatte sofort auf seine freundliche Art erwidert: „Was, ihr wollt mit? Ihr habt sie wohl nicht mehr alle, ihr halbflüggen Kakerlaken. Werdet erst mal grün hinter den Löffeln, dann könnt ihr wieder mit so ’nem Wunsch antraben.“
7.
Die Jollen schoben sich durch die Brandung auf den Sandstrand der Insel Sao Miguel. Hasard, Shane und Matt Davies waren als erste heraus und sicherten mit ihren Tromblons und Pistolen, die sie in ausreichender Zahl von der „Isabella“ mitgenommen hatten, zum Dickicht hin. Vor Überraschungen war man nirgends sicher, das bewies die reiche Erfahrung der Seewölfe. Auf den entlegensten Inseln, die auf den ersten Blick gottverlassen wirkten, hatten sie schon die tollsten Dinge erlebt, und daher wandten sie alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen an, um in keine Falle zu laufen.
Die Männer hinter ihnen zogen die Boote noch ein Stück höher aufs Ufer, dann zückten auch sie ihre Waffen und schlossen sich Hasard und den beiden anderen an, die den Marsch zum Inselurwald begannen. Shane und Batuti hielten Pfeil und Bogen bereit. Sie waren Meister im Umgang mit diesen Waffen.
Der Seewolf war ein paar Schritte weit in das dichte Unterholz eingedrungen, da tönten mehrere Schreie an sein Ohr – wieder von derselben Frauenstimme ausgestoßen.
„Die scheinen aus fast der gleichen Richtung wie vorher zu kommen“, flüsterte Dan O’Flynn. „Da kann’s einem kalt den Rücken herunterlaufen.“
„Dem Mädchen scheint es dreckig zu gehen“, sagte Matt Davies. „Das hört sich ja grausig an.“
„Beeilen wir uns.“ Hasard bahnte sich einen Weg durch das widerspenstige Gesträuch. Nach ein paar Yards gelangte er glücklicherweise auf etwas, das man als natürlichen Pfad durch den Dschungel bezeichnen konnte, und er fing an zu laufen.
Die Schreie brachen ab, setzten nach wenigen Sekunden Pause aber wieder ein. Hasard versuchte, dem Klang der Stimme nach in etwa zu begreifen, was der Grund für die Verzweiflungsrufe war, aber er gelangte zu keinem Schluß. Vieles konnte dahinterstecken, der Kampf mit einem Tier beispielsweise, der Tritt in eine Fallgrube oder die Auseinandersetzung mit Eingeborenen – oder mit irgendwelchen Glücksrittern und Schlagetots, die hier ihr Nest eingerichtet hatten.
Hasard wollte nicht daran denken, was solche Leute alles mit einer Frau tun konnten. Er konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihm lag. Er hielt seine doppelläufige sächsische Reiterpistole in der Faust und nahm sich vor, auf jeden, der sich zwischen ihn und die Gesuchte stellte, zu feuern.
Unversehens wurde der Buschbewuchs lichter. Hasard konnte erkennen, daß er wenige Schritte weiter vorn ganz aufhörte, und bremste seinen Lauf ab. Seine Männer sahen, wie er sich hinter eins der vordersten, am weitesten vorgeschobenen Gesträuche kauerte. Sie folgten seinem Beispiel.
Das Geschrei war inzwischen verstummt.
Hasard drehte sich um und winkte Dan zu. Der Mann mit den schärfsten Augen an Bord der „Isabella“ robbte zu seinem Kapitän vor.
„Vor uns liegt der natürliche Kanal, den du vorhin bereits gesichtet hast“, raunte der Seewolf. „Was kannst du noch erkennen?“
„Nicht viel. Weiter südlich scheint sich die Passage zu erweitern. Aber man müßte schon ein Stück weiterkriechen, um Genaues herauszufinden.“
„Dann nichts wie los“, zischte Hasard. „Wir beide erledigen das, mal sehen, wie weit wir kommen.“ Er drehte sich kurz zu den anderen um und bedeutete ihnen durch eine Geste, sie sollten in ihren Deckungen bleiben.
Hasard und Dan glitten vor, bewegten sich ein Stück auf den Kanal zu und bogen dann nach Süden ab. Geduckt erreichten sie schließlich jene Stelle, an der sich die Passage in die große Bucht öffnete.
„Also doch eine Bucht“, wisperte Dan. „Teufel auch, ich würde was darum geben, das andere Ufer sehen zu können.“
„Versuchen wir lieber, die Spur des Mädchens aufzunehmen.“
„Sie scheint verschwunden zu sein.“
„Nicht so voreilige Schlüsse ziehen, Dan“,