Seewölfe Paket 9. Roy Palmer
gelangte man in die eigentliche Bucht, die in ihrer Form wie ein riesiger Tropfen wirkte. Der südliche, halbkreisartige Uferrand des Tropfens bestand aus bewaldeten Hängen, alle anderen Küstenstreifen der Bucht waren fast völlig flach und stellenweise mit weißem oder gelbem Sand bedeckt.
Barbante, der Pirat und Glücksritter, stand ganz vorn am Abbruch eines der höchsten Punkte der Hänge. Über seinem fast kahlen, von einem dunklen Tuch umwickelten Kopf breiteten sich die eigentümlich geformten Wipfel von Schirmpinien aus. Zwischen den Stämmen hindurch konnte Barbante auf das Wasser der Bucht blicken. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und versuchte, Bewegungen auf der glatten schwarzen Fläche des Tropfens zu erkennen.
Neben ihm hatten sich Corona und Anselmo aufgebaut, seine ranghöchsten Kumpane. Alle drei standen sie rechts neben dem Geschütz, das Barbante unter viel Aufwand von Zeit und Kraft hier hatte heraufschaffen lassen. Es war eine Serpentine, ein 4-Pfünder-Hinterlader, mit dem man dank einer drehbaren Gabellafette, die fest in den Untergrund gerammt worden war, auf nahezu jede Stelle Stelle der Bucht feuern konnte.
Von diesen Serpentinen gab es noch vier weitere Exemplare auf den Hängen. Alle waren gut versteckt zwischen den Bäumen und Büschen und konnten von der Bucht aus selbst bei Tag nicht entdeckt werden.
Von dem Platz unter den Pinien hatte Corona vor kurzem die Lichter eines Schiffes unweit der Küste entdeckt. Wenig später hatten die Piraten das Krachen von Handfeuerwaffen vernommen – und Schreie. Ihre Neugier war geweckt, sie hatten zwei Späher zur Einfahrt der Bucht geschickt.
„Die Pinasse kehrt zurück“, sagte Anselmo in diesem Augenblick. „Gleich geben sie sicherlich auch das Zeichen.“
Barbante konnte den Einmaster noch nicht erspähen, und das ärgerte ihn insgeheim. Dann aber war ihm doch so, als gleite etwas schräg unter ihnen auf das Süfufer der Bucht zu, und im selben Moment ertönte auch schon der Schrei eines Nachtvogels.
„Gehen wir ’runter“, sagte er. „Falls es etwas für uns zu tun gibt, entern wir gleich in die Pinasse und kreuzen zurück zur Buchteinfahrt. Vielleicht ist jede Minute kostbar.“
Er eilte den recht steilen Hang auf einem Pfad hinunter, den er auch mit geschlossenen Augen hinter sich gebracht hätte, ohne einen einzigen Fehltritt zu tun.
Unten trat er zu den Männern der Pinasse, die jetzt bereits angelegt hatten und bedeutungsvoll zu ihm herüberwinkten. Sie hießen El Grullo und Josefe und galten als die besten, raffiniertesten Kundschafter der Freibeuterbande.
„Eine spanische Galeone“, erklärte El Grullo. „Sie hat zwei Beiboote abgefiert, aber das eine liegt kieloben im Wasser, was offenbar auf den Angriff einer zweiten Galeone zurückzuführen ist, die inzwischen nach Westen abläuft. Der Capitán des spanischen Schiffes tobt. Seine Kerls sind dabei, die Narren aus der umgekippten Jolle zu übernehmen. Mehr haben wir nicht gesichtet.“
Barbante hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt. „Eine zweite Galeone? Was ist das für ein Kahn? Woher kommt er? Was für eine Flagge, was für einen Namen führt er?“
„Das alles ist in dieser Finsternis nicht zu erkennen“, erwiderte Josefe. „Wir haben wirklich die Augen aufgesperrt, aber wir können uns auf das Erscheinen und die Bedeutung dieser Schiffe auch keinen Reim bilden. Nur eins scheint gewiß zu sein – sie sind Feinde. Der eine hat dem anderen das Beiboot zum Kentern gebracht.“
„Durch Schüsse?“
„Weiß der Teufel wodurch“, entgegnete nun El Grullo. „Jedenfalls reckt die Jolle ihren Bauch nach oben, soviel haben wir gesehen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Spanier hier auf der Insel landen wollten, und vielleicht tun sie’s auch noch, wenn sie von ihrem Gegner nicht wieder gestört werden. Wir sollten ruhig abwarten, bis die Burschen den Weg in unsere Bucht gefunden haben.“
Barbante war mit dieser Meldung ganz und gar nicht zufrieden.
„Hört mal zu“, sagte er. „Corona ist sicher, vorhin auch einen Frauenschrei vernommen zu haben. Habt ihr irgendwo ein Weibsbild entdekken können?“
„Nicht die Spur davon“, erwiderte El Grullo.
Corona, der inzwischen neben seinem Anführer eingetroffen war, sagte: „Ich bleibe dabei. Da schrie eine Frau.“
Anselmo war nun auch zur Stelle und pflichtete ihm bei: „Ja, ich habe ihr Kreischen ebenfalls gehört. Jefe, du weißt, daß wir stocknüchtern sind. Wir sind keinem Irrtum aufgesessen. Da ist ein Weiberrock mit im Spiel. Vielleicht ist sie sogar der Anlaß für den ganzen Aufstand.“
Barbante fuhr sich mit der Hand durch den dunklen Vollbart. „Laßt mich mal überlegen. Manchmal nehmen gewisse Halunken von Schiffskapitänen Huren mit an Bord, um während der langen Überfahrt in die Neue Welt ihre Kurzweil zu haben. Das könnte hier der Fall gewesen sein. Möglicherweise hat der Narr, der jene spanische Galeone dort führt, entweder die Nase voll gehabt von dem Weib, weil es ihm zu dreist geworden und auf seiner Nase herumgetanzt ist – oder sie hat sich der Mannschaft gezeigt, hat Zwietracht gesät und für eine Meuterei gesorgt. Vielleicht hat sie auch geklaut, wer weiß. Als der Kapitän, dieser Esel, sie bestrafen wollte, ist sie außenbords gehüpft. Na, wie findet ihr das?“
Corona entgegnete: „Du meinst, der Kapitän hat sie daraufhin suchen lassen?“
„Mit den Booten, ja.“
„Und dann ist die zweite Galeone plötzlich aufgetaucht und ist dazwischengefahren“, meinte Anselmo. „Hört sich plausibel an.“
„Warum?“ fragte Corona.
„Ich schätze, die Besatzung des zweiten Schiffes hat das Weib auch schreien hören“, meinte Anselmo. „Und da hat sie beschlossen, sie zu retten und aus dem Wasser zu ziehen.“
„Das ist ein Ding mit vielen Haken und Ungereimtheiten“, sagte Barbante verdrossen. „Die Sache gefällt mir nicht, vor allen Dingen auch, weil ich nicht begreife, wie die Gegner unserer lieben spanischen Landsleute die Jolle zum Kentern bringen konnten. Bevor wir etwas unternehmen, beobachten wir weiter. Denn selbst wenn die Galeone ein Fressen für uns ist, dürfen wir nicht den Fehler begehen, zu voreilig zu sein.“
„Jefe“, sagte El Grullo. „Es wäre gut, wenn wir die Entwicklung der Dinge irgendwie beeinflussen könnten. Die spanische Galeone da draußen scheint mir genau richtig für unsere Zwecke zu sein. Ein schöner, solide gebauter Kauffahrteifahrer, nicht sonderlich gut armiert, wie es scheint – mit dem könnten wir leicht fertigwerden. Was er geladen hat, wissen wir nicht, aber es interessiert uns doch eigentlich nur am Rande, oder?“
„Allerdings“, sagte Barbante. „Ich will endlich wieder ein gutes Schiff unter den Füßen haben. Diesen Schlupfwinkel hier werden wir behalten, aber ich will längere Fahrten und großangelegte Beutezüge unternehmen können und Reichtümer auf der Insel horten. Bislang haben wir uns mehr schlecht als recht durchgeschlagen, und mit der einen Pinasse hier und den zwei Schaluppen, die wir haben, würde es auch ewig so bleiben.“
„Ja, das stimmt“, meinte Corona. „Was planst du also?“
„Man müßte einen Weg finden, die Galeone in unsere Bucht zu locken.“
„Das schaffen wir nie“, sagte Josefe. Er handelte sich mit dieser Äußerung aber nur die mißbilligenden Blicke der vier anderen ein.
Seit gut einem Jahr saßen Barbante und seine Bande – mehr als zwei Dutzend Männer – nun schon auf der Insel Sao Miguel fest. Sie hatten zur Besatzung eines spanischen Frachtseglers der Neuspanien-Flotte gehört, der bei der Überfahrt von Spanien in die Neue Welt bei einem Sturm vor den Azoren von seinem Konvoi getrennt worden war.
Der Entbehrungen und der Schikanen des Kapitäns müde, hatte der Großteil der Mannschaft unter Barbantes Führung gemeutert. Es war ihnen gelungen, das Kommando an sich zu reißen. Sie hatten die meisten Offiziere im Kampf getötet, den Kapitän jedoch in einen der Schiffsräume gesperrt. Barbante hatte sich selbst zum neuen Kapitän ernannt, Corona war sein erster Offizier geworden, Anselmo der Bootsmann.
Doch der