Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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erforderte manchmal ebenso abenteuerliche Maßnahmen. Es lauerten viele Gefahren auf unserem Weg.

      Huaiyuan war ebenfalls ein zauberhaftes Fleckchen Erde, und ebenso wie das kleine Städtchen Yongfeng bei Xiangxiang ist es in meiner Erinnerung stets von einem strahlenden Leuchten umflort. Dort entdeckte ich eines Tages ein kristallklares Flüsschen, dessen Wasser so rein und durchsichtig war, wie ich es niemals zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Fröhlich plätschernd floss es am Ortseingang vorbei, und nur wenige Schritte weiter stand ein hübscher Pavillon am Ufer. Fast jeden Tag ging ich dorthin, um eine Weile die friedliche Stimmung zu genießen. Dann las ich in einem meiner wenigen Bücher oder beobachtete eines der kleinen Flachboote, die von einem Ufer zum anderen fuhren. Diese kleinen Sampan-Boote dienten den Einheimischen als Fähren, welche ihr ruhiges, ländliches Dasein mit einer bunten, lebhaften Außenwelt verbanden, die voller Betriebsamkeit war und reichlich Zerstreuung versprach. Vaters Zhongshan-Schule nahm umgehend den normalen Schulbetrieb wieder auf, und während der nächsten drei Monate konnten die Schüler dort ungestört unterrichtet werden. Kurz nach dem chinesischen Frühlingsfest im Februar des Jahres 1939 wurden sogar die Semesterprüfungen noch ordnungsgemäß durchgeführt.

      Wir hatten gehofft, dass die Pattsituation zwischen den kämpfenden Armeen uns Zeit verschaffen würde. Wir beteten dafür, dass der Vormarsch der Japaner endgültig zum Stillstand gekommen sei. Die chinesischen Widerstandskämpfer und Soldaten taten alles Erdenkliche, um die Invasoren aufzuhalten. Jeder Augenblick unseres Daseins war erfüllt von dem Widerstreit zwischen der Hoffnung, die wir nicht aufgeben mochten, und der Furcht vor dem Näherrücken des Feindes.

      Nach kaum drei Monaten war es wieder so weit: Der Krieg erreichte die Provinz Guangxi! In Anbetracht der zunehmenden Kriegsbedrohung musste die Zhongshan-Schule erneut ihre Zelte abbrechen. Unser nächstes Ziel war die Stadt Chongqing, die seit Oktober 1938 der neue offizielle Regierungssitz der Republik China war. Es war eine Flucht ins Ungewisse, denn auch Chongqing war bereits seit dem Frühjahr 1938 regelmäßig das Ziel japanischer Luftangriffe gewesen, doch seit August herrschte Ruhe.

      Während wir uns auf dem Weg nach Huaiyuan befanden, hatte die nationalchinesische Regierung in Guilin das militärische Hauptquartier des Generalissimus für die Provinz Guangxi eingerichtet. Dank seiner beruflichen Beziehungen gelang es meinem Vater, in kürzester Zeit Lastwagen und Busse von der Garnison in Guilin zu organisieren. Nachdem alles verladen worden war, ging es erst einmal wieder nach Guilin. Von dort aus machte sich der Konvoi auf den Weg in die nahegelegene Provinz Guizhou. Meine Familie und die Angehörigen der Lehrer fuhren mit den Lastwagen, während ein Großteil der Schüler mit Bussen transportiert wurde. Doch es gab nicht ausreichend Busse für alle Flüchtlinge. Jene, die sich nicht mehr in die überfüllten Busse quetschen konnten, mussten die weite Strecke zu Fuß bewältigen. Unsere Route führte quer durch die ganze Provinz und dann auf den steilen Serpentinen der Guizhou-Sichuan-Gebirgsstraße bis nach Chongqing, der provisorischen Kriegshauptstadt Chinas. Selbst ich konnte mit bloßem Auge die steil aufragenden Berggipfel erkennen und begriff, wie qualvoll dieser lange Marsch sein musste, der durch die schroffe Gebirgslandschaft führte. Die kurvenreichen Provinzstraßen waren ein unendlicher Wechsel aus steilem Anstieg und starkem Gefälle, zumeist unbefestigt und verliefen häufig entlang tiefer Schluchten. Für mich war es unbegreiflich, wie es möglich sein sollte, mit so etwas Banalem wie unseren menschlichen Füßen eine solche Strecke zu meistern.

      General Sun Yuanliang war ein Absolvent des ersten Jahrgangs der Huangpu-Militärakademie und hatte am Nordfeldzug teilgenommen und im Widerstandskrieg gegen Japan als Korpskommandiereder gedient. Nach seiner Ernennung zum General diente er während des Chinesischen Bürgerkrieges als Kommandeur zweier Garnisonen und Befehlshaber der 16. Armee. Kurz vor seinem Tod auf Taiwan im respektablen Alter von 103 Jahren gab er noch ein letztes Interview, in dem er die Flüchtlingsströme während des Antijapanischen Krieges durchaus mit kritischem Blick beschrieb:

      „Bereits zu Beginn des Widerstandskrieges gegen die Japaner erhielten wir Order, die Strategie der ‚Verbrannten Erde‘ zu befolgen. Also forderten wir unsere Landsleute dazu auf, den Evakuierungsanweisungen Folge zu leisten. Sie sollten sich zurückziehen oder zerstreuen. Wir hatten jedoch verabsäumt, Maßnahmen zur Versorgung der Flüchtlinge zu treffen. Ohne jegliche Hilfe seitens der Regierung irrten sie nur ziellos umher. Sie waren vollkommen sich selbst und einem ungewissen Schicksal überlassen. Das war wahrscheinlich der Anfang einer Entwicklung, die dazu führte, dass unsere Regierung in jenen Tagen das Vertrauen des Volkes auf dem Festland verlor.

      Als ich mit meiner Truppeneinheit von Sichuan nach Guizhou marschierte, sahen wir überall Scharen von Flüchtlingen. In der Wildnis des Gebirges trafen wir auf Angestellte und Arbeiter von Eisenbahn- undStraßenbauunternehmen mit ihren Familien im Schlepptau. Uns begegneten Gruppen von verwahrlosten Schülern und Studenten mit ihren Lehrern. Ferner Industrie- und Minenarbeiter sowie deren Familien. Und immer wieder versprengte Soldaten ohne Orientierung, nachdem ihre Einheiten besiegt und aufgerieben worden waren. Unzählige Angehörige von Soldaten und Guerilla-Kämpfern mit ihren Kindern auf der Flucht vor Folter, Vergewaltigung und Versklavung. Millionen von Frauen, Männern und Kindern jeden Alters bildeten einen gewaltigen Menschenstrom, der immer mehr Heimatslose mit sich fortriss. Der Flüchtlingsstrom, der sich zwischen uns und dem Feind bewegte, stellte für den Angreifer keinerlei Gefahr dar, da er keine militärische Wehrfähigkeit besaß, behinderte jedoch die eigenen Truppenbewegungen.

      Wo dieser Menschenstrom vorbeikam, waren umgehend sämtliche Nahrungsmittel aufgebraucht. Die verängstigten Dorfbewohner, denen nichts mehr geblieben war, reihten sich nun selbst in die flüchtende Masse ein. In den kalten Nächten machten die Menschen Feuer, um sich zu wärmen und eine armselige Mahlzeit zuzubereiten, sofern sie überhaupt etwas besaßen. Zwischen den Lagerfeuern war überall das Stöhnen der Alten und Kranken zu hören. Ständig weinten hungrige Säuglinge und abgemagerte Kinder, denn Hunger ist ein schmerzhafter Gefährte.

      Unsere Flucht von Nanking bis zum Tempel der Stille von Ziliujing in der Provinz Sichuan dauerte etwas mehr als ein ganzes Jahr. Das Leben auf der Straße war voller unbeschreiblicher Leiden, doch wo auch immer wir einen Platz fanden, der halbwegs geeignet schien, wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Ob unter einem Dach oder im Freien, sobald es genügend Raum für ein paar Dutzend Personen gab, begannen die Lehrer sofort wieder zu unterrichten. Die Schule führte ausreichend Lehrbücher aus allen Fächern, Unterrichtsmaterial, Schreibutensilien und eine Grundausstattung an Mobiliar mit sich. Ja, es gab sogar eine einfache Laborausrüstung.

      Wenn ich mich heute daran erinnere, wie die Lehrer uns damals unter derartig schwierigen Umständen unterrichtet haben, dann kann ich die Hoffnung und den Glauben der chinesischen Intellektuellen, zu denen sie ja gehörten, wahrhaftig nachempfinden. Tatsächlich hielten sie bis zuletzt an ihrer unerschütterlichen Überzeugung fest, dass China sich in einem Zustand vorübergehender Schwäche befände, jedoch auf lange Sicht im Stande sein würde, den Feind zu besiegen. So unterrichteten sie uns nicht nur in den klassischen Lernfächern, sondern lehrten uns auch durch ihr eigenes Vorbild grundlegende Werte wie Hingabe, Leidenschaft, Würde und Selbstvertrauen. Tag um Tag lebten sie vor unseren Augen das geschichtsorientierte Motto der Schule: „Im Reiche Chu überlebten nur drei Familien, doch sollte es einer der ihren sein, der einst den Tyrannen des Qin-Reiches vernichten würde!“

      Nachdem sich die Zhongshan-Oberschule in Sichuan etabliert hatte, stieg die Quote der Absolventen hinsichtlich bestandener Aufnahmeprüfungen für die Zulassung an einer Universität stetig. In kürzester Zeit schaffte sie es sogar in die „Top Ten“ aller Oberschulen landesweit. Tatsächlich war die Zahl der Schüler während unserer Flucht sogar noch


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