Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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die lauten Rufe der Zeitungsjungen: „Extrablatt! Extrablatt!“ Mein Onkel rannte so schnell er konnte die Treppen hinunter, um eine Ausgabe zu ergattern. Auf dem Titelblatt prangte die Schlagzeile: „Nanking in feindlicher Hand! Japanische Soldaten marschieren durch das Zhonghua-Tor in unsere Hauptstadt. Erbarmungslos setzen sie die Stadt in Brand, plündern und metzeln die Bevölkerung nieder …“ Am nächsten Tag titelten die Zeitungen: „Nanking ist gefallen!“ Dem Artikel zufolge waren 50.000 unserer Soldaten während der Verteidigung in den ersten zwei Tagen gefallen oder schwer verwundet worden. Hunderttausende Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder aller Altersgruppen hatte der Feind brutal abgeschlachtet! Um sich bei ihren Vorgesetzten als würdig zu erweisen, begannen die japanischen Soldaten, sich gegenseitig an Brutalität und Grausamkeit zu überbieten. Die Spirale der Gewalt hatte sich verselbständigt und der Feind berauschte sich am Blut der Verlierer. Unzählige Frauen jeden Alters wurden auf bestialische Weise vergewaltigt und dann getötet. Die Opfer wurden aufgespießt, bei lebendigem Leib gehäutet oder einfach begraben, bis ihre Schreie von der Erde erstickt wurden. Diejenigen, denen man einfach den Kopf abschlug, hatten Glück gehabt. Die barbarischen Abscheulichkeiten der japanischen Soldaten gipfelten schließlich in regelrechten Tötungswettkämpfen!

      Auf der selben Seite stand: Der Wissenschaftler Albbert Einstein, der britische Philosoph Bertrand A. W. Russel, der französische Schriftsteller Romain Rolland und der amerikanische Philosoph John Dewey appelierten in einem gemeinsamen offenen Brief an alle Völker der Welt, japanische Handelsgüter zu boykottieren, nicht mit Japan zusammenzuarbeiten, China mit allen Mitteln zur Hilfe zu kommen, bis die japanische Armee gänzlich aus China zurückzöge und mit den aggressiven Gewalttaten aufhörte. Dieser Appell wurde von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zahlreicher Nationen unterstützt. Doch wie zu allen Zeiten verhallten auch die Rufe der modernen Welt nach Gerechtigkeit ungehört im Kanonendonner der Hegemonie. Drei Monate später marschierten Hitlers Truppen in Österreich ein und das Land wurde dem Deutschen Reich einverleibt. All den großen Wissenschaftlern und Philosophen blieb nichts anderes übrig, als hilflos dabei zuzusehen, wie eins ums andere ihrer Heimatländer im alten Europa in die blutbefleckten Hände dieses Diktators fiel. Wie sollte ihre Solidaritätsbekundung für China daraufhin noch einen praktischen Effekt haben können?

      Nachdem auch Wuhu erobert worden war, traf die oberste militärische Führung die Entscheidung, zum Schutz der Gebiete flussaufwärts des Jangtse eine Blockade gegen die japanische Kriegsmarine zu bilden. Dazu wurden in der Flussenge von Madang 18 Dampfschiffe strategisch versenkt. Zudem ließ man eine Vielzahl von Dschunken und Sampan-Booten mit Steinen voll beladen, um sie dann zwischen den Dampfern zum Sinken zu bringen. Die Massaker von Nanking hatten keinerlei Zweifel an der zutiefst grausamen Natur der japanischen Aggressoren gelassen und den Widerstandswillen aller Chinesen entfacht. Aus allen Teilen des Landes trafen Telegramme ein, in denen die Provinzregierungen ihre Solidarität mit der Nationalregierung verkündeten und ihre Kampftruppen für die Kriegsfront zusicherten. Sogar die chinesischen Kommunisten gaben am 26. Dezember eine offizielle Erklärung ab, in der sie Chiang Kai-Shek ihre Unterstützung zusicherten und dem militärischen Oberkommando der Republik ihre Militäreinheiten unterstellten. Das erklärte Ziel aller Chinesen war es, den Kampf gegen die Japaner gemeinsam und unerbittlich bis zum Ende zu führen.

      Die Regierung ordnete kurz darauf die Evakuierung der Bevölkerung und aller Flüchtlinge an. Sämtliche zivilen und militärischen Einrichtungen, Schulen sowie Fabrik- und Produktionsanlagen mussten schnellstmöglich Richtung Süden in die Provinzen Guizhou und Sichuan verlegt werden. Die Stadt Chongqing wurde daraufhin zur provisorischen Hauptstadt erklärt. Die Evakuierten sollten sich so rasch wie möglich auf den Weg nach Südwesten machen und dazu unbedingt der Hunan- Guangxi-Straße folgen, welche noch als sicher galt.

      Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Mit Mühe und Not gelang es meinem Vater schließlich in Yongfeng, einer Kleinstadt in der Provinz Hunan, eine Bleibe für seine Schule zu finden. Die Stadtverwaltung hatte seinem dringlichen Ersuchen entsprochen und ihm eine vorläufige Zuflucht im Huangbi-Ahnentempel gewährt. Dieser bot ausreichend Platz für 1000 Schüler und Lehrer. Zudem erhielt er die Zusicherung der örtlichen Würdenträger, dass die Flüchtlinge mit Hilfeleistungen unterstützt würden. Sobald die Zusage eingetroffen war, brach hektische Betriebsamkeit aus. Binnen 24 Stunden waren wir bereit zum Aufbruch – Wir befanden uns wieder auf der Flucht. Die Kleinstadt, die zum Verwaltungsgebiet von Xiangxiang gehörte, war etwa 250 Kilometer von Hankou entfernt. Da uns nur wenige Lastwagen zur Verfügung standen, musste der Großteil unserer Gruppe den beschwerlichen Weg zu Fuß machen und die Reise nach Yongfeng sollte fast einen ganzen Monat dauern.

      Aus Sorge um den Gesundheitszustand meiner Mutter hatte mein Vater alle Hebel in Bewegung gesetzt, und in letzter Minute war es ihm noch gelungen, einen Wagen zu organisieren. Er bestimmte, dass meine Mutter, mein Onkel, meine beiden Schwestern und ich mit dem Wagen fahren sollten. Da es noch Platz gab, konnten die Mutter eines Lehrers und die Ehefrau eines anderen Lehrers, die den langen Fußmarsch altersbedingt nicht mehr zu bewältigen vermochten, bei uns mitfahren. Unterwegs überholten wir die Marschkolonne der Schule. Mein Onkel erspähte meinen Bruder in der Truppe, welche die Nachhut bildete, und ließ den Wagen kurz anhalten. Er forderte meinen Bruder auf, in den Wagen zu steigen, und so rutschten alle zusammen, bis er sich neben den Fahrer quetschen konnte.

      Am nächsten Tag machten wir Rast an einem kleinen Gasthof, wo wir auf meinen Vater warteten. Als er schließlich eintraf und meinen Bruder im Wagen entdeckte, fragte er ihn: „Warum fährst du denn im Auto mit? Hast du dich verletzt?“ Mein Bruder wusste nicht so recht, was er antworten sollte, woraufhin mein Onkel schnell das Wort ergriff: „Ach, im Wagen ist doch eh noch Platz, und du hast ja auch nur diesen einen Sohn. Lass ihn doch einfach bei uns mitfahren.“ Damit, dachte er, sei die Angelegenheit geklärt, doch da kannte er meinen Vater schlecht. Dieser antwortete ihm in einem unmissverständlichen Ton: „Unter all diesen Schülern, die unter meiner Obhut stehen, gibt es viele, die die einzigen Söhne ihrer Familie sind. Sie alle sind die Stammhalter ihrer jeweiligen Familie. Wieso sollten sie alle zu Fuß gehen, während mein Sohn in einem Wagen fahren darf?“ Da er als Antwort nur ein betretenes Schweigen erhielt, befahl mein Vater die sofortige Abfahrt, damit wir zügig die Marschkolonne einholen konnten. Als wir die Nachhut erreichten, ließ er meinen Bruder aussteigen, damit er mit den anderen Schülern zu Fuß weitergehen konnte.

      Die Kolonne marschierte den ganzen Tag und rastete bei Nacht. Während wir in den unterschiedlichsten Herbergen entlang der Reiseroute unser Nachtquartier bezogen, mussten die anderen in zuvor arrangierten Unterkünften wie Gemeindesälen, Klassenzimmern oder dem Sportplatz irgendeiner Schule ihr Lager aufschlagen. Von den örtlichen Militärgarnisonen bekamen sie Reis und etwas Stroh als Schlafunterlage. Meistens gab es auch noch gekochten Rettich oder Chinakohl, so dass sie sich einigermaßen satt essen konnten.

      Nachdem mein Bruder aus dem Auto geworfen worden war, nervte ich Vater und Mutter stundenlang mit meinem Gequengel. Ich wollte unbedingt mit meinem Bruder mitgehen: „Wieso darf er zu Fuß gehen und ich nicht? Warum muss ich denn mit dem Auto fahren?“ Da ich auch am nächsten Tag keine Ruhe geben wollte, willigten meine Eltern schließlich ein und ich durfte doch mitmarschieren. Frohmütig lief ich den Rest des Tages mit der Schülertruppe. In der darauffolgenden Nacht, die ich mit den anderen im Stroh schlafend verbrachte, bekam ich auf einmal hohes Fieber. Gleich bei Tagesanbruch wurde ich zu meiner Mutter zurückgebracht. Seit jenem Zwischenfall war für mich das Marschieren mit den anderen Jugendlichen kein Thema mehr.

      Wir erreichten Xiangxiang Ende Januar, nur wenige Tage vor dem Frühlingsfest. Unterwegs war uns bereits aufgefallen, dass es in der Provinz Hunan eine wahre Vielzahl an unterschiedlichen Dialekten gab, was die Verständigung manchmal ziemlich schwierig machte. Obendrauf stellten wir nun fest, dass der Dialekt, der in Xiangxiang vorherrschte, der eigenartigste von allen war. Die Sprache war nur eine der Besonderheiten dieser Region. Xiangxiang war die Heimat des berühmten Malers Qi Baishi (1864–1957), einem Meister der volkstümlichen Malerei. Überhaupt war die ganze Stadt von einem besonderen Lokalkolorit geprägt, überall waren die alten Traditionen und Gebräuche sichtbar. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass die Ahnenverehrung eine besonders große Bedeutung für die Bevölkerung hatte.

      Der für die Zhongshan-Schule


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