Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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detonierten, trösteten wir uns immer wieder aufs Neue damit, dass wir glücklicherweise so weit weg vom Stadtzentrum wohnten.

      Nachts schlief ich allein in meinem Zimmer, gleich neben dem Schlafraum meiner Eltern. In klaren Nächten, wenn der Mond besonders hell schien, flog die japanische Luftwaffe zusätzliche Bombenangriffe. Dann klang das Heulen der Sirenen besonders schrill und ohrenbetäubend. Nach dem Alarmsignal, das aus einem langen Ton bestand, auf den zwei kürzere folgten, dauerte es nur kurze Zeit, bis wir das erste gefährliche Brummen wahrnehmen konnten. Mit dem Herannahen der Maschinen wurde das Brummen immer lauter und bedrohlicher. Dann hörte man den Krach der Explosionen, bis die Flammen der Brände den Horizont hell erleuchteten. Ganz allein in meinem Bett lauschte ich in das nächtliche Dunkel. Ich hörte, wie eine lose Ecke vom Fliegenschutz im Herbstwind flatterte und starrte dann zum Fenster. Das Flattern schien immer lauter zu werden und ich glaubte zu sehen, dass es feinen weißen Kalk vom Himmel regnete. Kalk, Löschkalk! Es schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte mich verkriechen, doch ich war wie erstarrt. Vor meinen Augen fiel der Löschkalk auf die unendliche Treppenflucht, die zum Sun-Yat-Sen-Mausoleum auf dem Purpurberg hinaufführt. Er fiel auf die sanften Wellen des Xuanwu-Sees, dort wo der Wassergott in Gestalt eines schwarzen Drachens lebte, und bedeckte den Park an der Dongchang-Straße. Auch auf die Wippen der Trommelturm-Grundschule regnete es Löschkalk, auf die Blüten der Pagodenbäume vor unserem Haus in der Fouhou-Gang-Straße. Es schien, als verfolgte mich der Tod, und nun hatte sein Weg ihn schließlich bis vor mein Fenster geführt, wo er sich auf den Blüten der Sternwinde niederließ, welche bereits an dem neu geflochtenen Bambusvordach emporgerankt waren … Niemals werde ich vergessen können, wie meine von Krankheit stark geschwächte und zutiefst beunruhigte Mutter sich jeden Nachmittag bei Einbruch der Dämmerung mühsam vom Bett erhob, um meinen von Sorgen geplagten Vater zu begrüßen. Das war ihre Art, ihm zu zeigen, wie glücklich sie darüber war, ihn wiederzusehen und die Familie unversehrt beisammen zu haben!

      Mein Vater war seinem Wesen entsprechend stets unverzagt und optimistisch. Dennoch war auch ihm nur allzu bewusst, dass er vor der schier unlösbaren Aufgabe stand, sämtliche Lehrer und Schüler der Zhongshan-Oberschule zuerst von Nanking nach Hankou, und dann weiter nach Südwesten ins sichere Hinterland zu evakuieren.

      Die Evakuierung erfolgte in zwei Etappen. Mitte Oktober wurde die erste Gruppe von knapp 700 Personen zusammengestellt. Dazu gehörten sämtliche Schülerinnen aller Klassenstufen und die Schüler der Unterstufe. Sie wurden von ihren Lehrern und etlichen Mitarbeitern der Nordostchinesischen Gesellschaft begleitet, deren Kinder zu den Schülern zählten. Der Transport erfolgte von Nanking aus mit der Bahn bis nach Anqing in der Provinz Anhui. Von dort aus sollte sie ein Flussdampfer Richtung Westen den Jangtse-Fluss hinaufbringen, bis nach Hankou, dem neuen vorläufigen Regierungssitz des Generalissimus.

      Die zweite Gruppe umfasste die mehr als 300 Schüler der Oberstufe. Sie mussten vorerst noch in der Schule bleiben, bis man auch für sie Transportmöglichkeiten per Bahn und Schiff arrangieren konnte. Die Leitung hatte man dem neu ernannten Schuldirektor Wang Yuzhang übertragen. Er war einer der fünf legendären Wang-Brüder, die in der nordöstlichen Provinz am Amur-Fluss bewaffneten Widerstand gegen die Japaner geleistet hatten. Kurz zuvor war er noch ein einfacher Lehroffizier an der Zentralen Militärakademie gewesen, nun trug er die Verantwortung für insgesamt mehr als 1000 Lehrer und Schüler der Zhongshan-Oberschule, die es sicher ins Hinterland zu bringen galt. Unsere Familie hatte man der zweiten Gruppe zugeteilt.

      Abgesehen von den logistischen Herausforderungen bereitete meinem Vater die Sicherheit seiner Schützlinge einiges an Kopfzerbrechen. Vor allem in den abgelegenen ländlichen Gebieten kam es immer wieder zu Übergriffen durch Plünderer und Kriminelle jeglicher Art. Er und seine Mitstreiter kamen zu dem Schluss, dass man sich selbst verteidigen müsse, und daher forderte er einen Monat vor der geplanten Evakuierung vom Kommandierenden General des 67. Korps, Wu Keren, hundert Gewehre samt Munition zum Schutz der Schule an. General Wu erklärte sich einverstanden und lieferte das Gewünschte. Sobald die Waffen geliefert worden waren, mussten sich die Oberprimaner einer kurzen, jedoch intensiven Militärausbildung unterziehen. Danach wurden sie militärisch gegliedert, bewaffnet und bildeten fortan die schützende Hand, die uns sicher ans Ziel bringen sollte.

      Auf dem Weg zum Bahnhof sahen wir kaum eine Menschenseele. Erst am Bahnhof trafen wir auf eine nie zuvor erlebte Menschenmenge, zehntausende drängten sich dort dicht an dicht. Es gab kaum einen Fleck in der Vorhalle, auf den Bahnsteigen, wo sich in wattierte dunkle Baumwollmäntel gehüllte Männer, Frauen und Kinder mit ihrem zu dicken Bündeln geschnürten Bettzeug, mit Koffern und Kisten drängten. Eine Woge aggressiver Schreie, hysterischen Heulens und panischer Zurufe gellte in unseren Ohren, während wir wie all die anderen versuchten, uns im Geschiebe und Gedränge zu den Bahngleisen vorzuarbeiten. Jeder versuchte, seine älteren Familienmitglieder stützend durch das Gewühl zu schieben und die Kinder sowie das Gepäck bis zu einem der Züge zu manövrieren. Überall lagen Koffer, zusammengerollte Schlafmatten und vollgepackte Körbe auf der Erde, vor und in den Warteräumen, sogar auf den Bahngleisen. Der gesamte Bahnhof hatte sich in einen gefährlich brodelnden Kessel verwandelt.

      Das Erziehungsministerium hatte uns zwei Waggons zur Verfügung gestellt, was unter normalen Umständen zu wenig gewesen wäre, doch angesichts der prekären Lage war es ein unermessliches Privileg. Die bewaffnete Schüler-Truppe tat ihr Bestes, um uns zu schützen und einen Weg durch die Massen zu bahnen. Sie trugen ihre Gewehre auf dem Rücken, hatten Wickelgamaschen an den Beinen, und mit ihrem grimmigen Gesichtsausdruck wirkten sie trotz ihrer Jugend doch ziemlich respekteinflößend. Halbwegs unbehelligt gelangten wir schließlich zum wartenden Zug. Mein Bruder, Vetter Pei Lienju und der 19-jährige Zhang Dafei hoben meine kranke, in eine Baumwolldecke gehüllte Mutter in den Waggon und fanden darin noch eine freie Ecke, wo sie halb sitzend, halb liegend die Reise durchstehen konnte. Anschließend wurden meine drei Schwestern und ich von den Jungs einfach hochgehoben und durch ein offenes Fenster in den Zug hineingehievt. An meinem Gürtel trug ich eine kleine Stofftasche, in der sich zwei goldene Ringe, etwas Bargeld und ein Zettel mit der Kontaktadresse eines Bekannten in Hankou befanden. Während ich durch das Fenster kletterte, passte ich gut auf, dass sie nicht abgerissen wurde. Körper an Körper, dicht gedrängt standen, saßen und hockten die Menschen, dass man den Eindruck hatte, sie wären mit Leim zusammengeklebt worden. Selbst oben auf dem Dach drängten sich die verzweifelten Menschen. Der Bahnhofsvorsteher schrie unaufhörlich, dass sie herunterkommen sollten, bis er kaum noch Stimme hatte, aber die Menschen blieben oben auf dem Dach. Sie wollten alle nur eines – endlich aus Nanking entkommen. Offenbar dachte jeder, man wäre schon in Sicherheit, wenn man bloß einen Platz in oder auf dem Zug ergattert hätte.

      Gegen Mittag fuhr der völlig überladene Zug endlich ab. Mein Vater stand draußen vor dem Bahnhof im kalten Herbstwind und beobachtete schweren Herzens den mit Flüchtlingen voll beladenen Zug, der sich nur langsam in Bewegung setzten wollte. Schwerfällig rollte er aus dem Bahnhof und Vater machte sich große Sorgen, ob wir die mehr als 250 Kilometer lange Fahrt heil überstehen würden, wo doch die Japaner Tag und Nacht ihre Luftangriffe entlang des Jangtse-Flusses flogen! Und auch wir im Zug hofften inständig, dass kein Unglück unseren Weg kreuzen würde.

      Der Zug fuhr in den ersten Tunnel hinein, als wir verzweifelte Schreie vom Dach hörten: „Aiyo! Jemand wurde runtergefegt! Hilfe! Hilfe! Der Mann ist runtergestürzt!“ Das Heulen und Schreien ging uns durch Mark und Bein. „So helft ihm doch! Kann denn niemand helfen?!“ Doch wir, die im Waggon saßen, konnten nicht einmal die eigene Hand heben, so dicht aneinandergequetscht waren wir, geschweige denn auf irgendeine Weise eine helfende Hand ausstrecken.

      Kilometer um Kilometer kroch der Zug dahin. Immer wieder musste die Fahrt unterbrochen werden. Sobald das erste Brummen der Kampfbomber zu hören war, musste der Zug in einem der Tunnel haltmachen, um nicht unter Beschuss zu geraten. Als wir endlich die Hafenstadt Wuhu erreichten, wo wir auf ein militärisches Versorgungsschiff umsteigen sollten, war die Dunkelheit bereits angebrochen. Es durfte kein Licht gemacht werden, damit die feindlichen Kampfbomber uns nicht ausfindig machen konnten. Deshalb fuhren die Schiffe nur nachts und die gesamte Hafenanlage blieb unbeleuchtet. Nur ein paar schwache Lämpchen glommen über dem Holzsteg, der zum Flussdampfer führte.

      Nachdem wir zu guter


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