Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
auf den Ochsenkopf zu klettern und den Ausblick zu genießen. Kurzentschlossen rannte ich den Jungen hinterher und schloss mich ihnen an, ob sie mich nun dabeihaben wollten oder nicht! Es wurde ein mühseliger Aufstieg, aber die Schönheit der Natur und die Atmosphäre, welche die uralten Bäume umgab, waren jede Kraftanstrengung wert. Immer wieder tauchten irgendwo aus dem Grün der Wipfel die Dächer einer Tempelanlage auf oder man blickte von einem Aussichtspunkt auf eine der beeindruckenden Pagoden. Gegen vier Uhr nachmittags kam ein kräftiger Wind auf und die Jungen beschlossen, dass wir mit dem Abstieg beginnen mussten, damit wir rechtzeitig zu Hause sein würden. Da ich nicht so behände war wie die anderen, musste ich mich die steilen Pfade vorsichtiger hinuntertasten und fiel immer weiter zurück. Nach einer Weile war keiner mehr von ihnen zu sehen oder zu hören. Als die Jungen am Fuße des Berges angekommen waren, da hatte ich gerade erst die Hälfte des Weges zurückgelegt. Es wurde mir richtig mulmig zumute. An einem besonders steilen Hangstück, wo mir der kalte Wind so richtig gemein um die Ohren pfiff, verließen mich die Kraft und auch der Mut. Vor lauter Angst klammerte ich mich an einen größeren Stein und wagte es nicht mehr, mich zu bewegen. Ich fürchtete abzustürzen und begann zu weinen. In diesem Moment sah ich Zhang Dafei weit unter mir auf dem Bergpass. Und … ja – er blickte in meine Richtung zurück. Mittlerweile setzte auch die Dämmerung ein und ich begann vor Erschöpfung und Kälte zu zittern.
Ich betete, dass Dafei wirklich umgekehrt war, denn ich konnte ihn nirgends mehr erblicken. Doch er kam zurück, erklomm flink den steilen Hang und kam mich holen. Als er mich endlich erreicht hatte, hüllte er meinen zitternden kleinen Körper in seinen Baumwoll-Mantel und versuchte, mich zu beruhigen. „Nicht weinen, nicht weinen! Die große Straße ist da vorne“, sagte er, während er mich bei der Hand nahm und den schmalen steilen Pfad hinunterführte. „Es wird bald alles wieder gut.“ In seinen Augen sah ich Wohlwollen und Sorge. Eine solch warmherzige Fürsorge war mir, einer zwölfjährigen Vertriebenen, die am Rande der konventionellen Gesellschaft lebte und ihr Zuhause ebenso häufig wie die Schule hatte wechseln müssen, kaum je von einem Fremden zuteilgeworden.
Und von meinem Bruder hatte ich bestimmt kein Mitgefühl zu erwarten. Zu Hause angekommen, sagte mein aufgebrachter Bruder zu unserer Mutter: „Die nehme ich nie wieder mit! So ein kleiner Berg, aber sie kriecht wie eine Schnecke rauf. Dann kommt sie nicht mal runter. Steht dumm rum und macht dann einen auf Heulsuse! Flennt und flennt und flennt. Was für eine Nervensäge!“
Im Frühsommer zogen wir dann wieder nach Nanking zurück, da meine Mutter sich auf die bevorstehende Geburt vorbereitete. Doch ein weiteres Familienmitglied sollte nicht die einzige Veränderung sein, die uns unmittelbar bevorstand. Schon bald würden unsere Leben und das Schicksal der Nation eine völlige Veränderung erfahren. Das kleine Häuschen im Dorf Holzbrücke, welches uns so lieb geworden war, sollten wir auf den verschlungenen Wegen einer ewig andauernden Flucht niemals mehr wiedersehen.
Auf allen Reisen, die ich in den darauffolgenden Jahrzehnten unternommen habe, erinnerte ich mich jedes Mal, wenn ich vom Zug aus einen kleinen üppig bewachsenen Berg vorbeihuschen sah, an jenen halbwüchsigen, liebenswürdigen Zhang Dafei. Ich erinnere mich immer an diesen Moment, da er allein auf jenem kalten, windigen Bergpass steht und voller Sorge zu mir herüberschaut …
Skizzierte Landkarte: Verlauf der japanischen Invasion in der Mandschurei
Anm.: Foto H. Brosius, „Fernost“ 1940
Chi Shiying (23 Jahre), Vater der Autorin, nach seiner Rückkehr aus Heidelberg
Gründer der ersten modernen Nordöstlichen Mittelschule in Shenyang (Mukden): Chi Shiying (m.), Mei Gongren (r.) und Huang Henghao (l.)
General Guo Songling, Anführer der Revolution und Kamerad von Chi Shiying
Chi Pang-Yuan und ihre Schwester Ningyuan (Mandschurei 1930)
Westberg-Sanatorium bei Peking: Chi (9 Jahre) und Mit-Patientin Zhang sind gute Freundinnen geworden
Generalissimus Chiang Kai-Shek, späterer Präsident und militärischer Oberbefehlshaber der Republik China
Anm.: Foto aus Privatbestand der Übersetzerin
1930 vor der Abreise nach Nanking: Autorin an der Hand ihrer Mutter (sitzend), ihr Bruder Chi Zhenyi (ganz rechts) und drei Cousins
Chi Shiying (Mitte unten), seine Schwester Chi Jinghuan (unten rechts) mit Untergrundkämpfern nach dem Mukden-Zwischenfall vom 18. 9. 1931
5 Mandschurischer Ortsname. Hier wurde die erste Hauptstadt der Herrscherfamilie „Aisin Gioro“ gegründet.
6 Japanisch: Dait
7 Su Wu (140–60 v. Chr.) war ein Diplomat der Handynastie. Als Gesandter wurde er 19 Jahre lang von Hunnen gefangen gehalten, wo er zum Überleben eine Herde Schafe am Baikal-See hüten musste.
8 Die Legende „Die Tränen der Dame Meng Jiang beim Bau der Großen Mauer“ spielt in der Qindynastie (221–207 v. Chr.). Der frisch angetraute Ehemann der jungen Dame Meng Jiang wurde zur Zwangsarbeit am Mauerbau eingezogen und kam dabei ums Leben, während sie sich noch auf der langen Reise befand, um ihn zu besuchen. Bei ihrer Ankunft erfuhr sie die schreckliche Wahrheit und brach in Tränen aus. Blind vor Verzweiflung stolperte sie an der Mauer entlang und rutschte in ein Erdloch unter der Mauer. Kurz darauf sollten ihre nicht versiegenden Tränen einen Teil der Mauer zum Einsturz gebracht haben. Fortan galten die Legende und die Redewendung von Tränen, die eine massive Festungsmauer zum Einsturz bringen, in China als Sinnbild für den gewaltlosen Widerstand.
9 Shanhaiguan: Tor und Durchgang Nordchinas zur Mandschurei
10 Chinesisch: Changjiang, der längste Fluss Chinas. Auch geschrieben: Jangtse-jiang
11 Min-Fluss, ein 735 km langer Nebenfluss des Jangtsekiang in Zentral-Sichuan
12 Dadu He, ein Nebenfluss des Min-Flusses im Westen von Sichuan mit einer Länge von 1155 km
13 Chongqing, Kriegshauptstadt Chinas während des Antijapanischen Krieges 1937–1945
14 Chinesisch: Changcheng yao, Text von der „Great Wall Ballad“ (Chinesisch: Changcheng