Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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Hinter uns wurde es chaotisch, weil zu viele Menschen auf den Steg drängten. Dann hörten wir Menschen ins Wasser fallen – die Laufplanke hatte dem Gewicht der Massen nicht mehr standhalten können und war auf einmal mit einem dumpfen Krachen zerbrochen. Menschen heulten in der Dunkelheit auf, stürzten schreiend ins Wasser und versanken im pechschwarzen Fluss. An Bord und an Land herrschte ausschließlich Panik! Überall liefen Kinder und Erwachsene durcheinander und suchten ihre Familienangehörigen.

      Es wurde eine gefährliche, angsterfüllte Nachtfahrt und die Erinnerung daran sollte mich bis ins hohe Alter hinein verfolgen: Der rabenschwarze Fluss, die erstickten Hilfeschreie im Wasser, die verzweifelten Rufe der Eltern, die in jener grauenhaften Nacht nach ihren Kindern suchten. All diese Geräusche verschmolzen mit den gellenden Schreien jener Menschen, die tagsüber vom Dach des Zuges gestürzt waren, zu einer unerträglichen Kakofonie des Leidens. Das alles prägte sich tief in mein Gedächtnis ein. Jene verzweifelten und erbarmungswürdigen Schreie hallten durch so manche meiner schlaflosen Nächte bis in mein Herz hinein. Sie waren es, die meine Einstellung zur Nation und Heimat prägten – zunehmend in mir die Auflehnung gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt erstarken ließen und ein tiefverwurzeltes Mitgefühl für die gesamte Menschheit schufen. Und auch das Lesen bekam für mich einen gänzlich neuen Stellenwert, der weit über das rein Literarische hinausreichte!

      In jenen Tagen bildeten die Versorgungsschiffe der Marine eine der wenigen noch funktionierenden Lebensadern von Nanking. Zudem waren die Truppentransporte über den Yangtse unverzichtbar für die Verteidigung der Hauptstadt. Unglücklicherweise konnten die Schiffe vom flussaufwärts gelegenen Hankou bestenfalls bis Wuhu fahren, da die restliche Strecke nicht mehr schiffbar war. Shanghai war bereits zehn Tage zuvor gefallen. Nachdem die letzten chinesischen Verteidiger von dort abgezogen worden waren, konzentrierten sich die japanischen Bombenangriffe auf die Schiffe, die den Yangtse befuhren, um die Städte von jeglicher Versorgung abzuschneiden. Die Wasserstraße unmittelbar um Xiaguan, dem Hafen von Nanking, war gerammelt voll mit liegen gebliebenen Schiffen und auf weite Strecken verstopft durch zahlreiche zerbombte Wracks. Das machte Wuhu zum letzten erreichbaren Hafen in nächster Umgebung zur Hauptstadt Nanking.

      Nachdem die Truppen in Wuhu entladen worden waren, begannen die Transportschiffe sofort mit dem Einladen des Personals der Regierungsbehörden und der wichtigen Dokumente, einschließlich der wertvollen Sammlung von Kunstschätzen aus dem Kaiserpalast. Im Schutz der Nacht traten sie dann die gefahrvolle Rückfahrt nach Hankou an. Bei gutem Wetter fuhren die mit Baum-Ästen getarnten Schiffe auch tagsüber, wobei sie sich möglichst dicht am Ufer hielten, um im Schutz der ausladenden alten Bäume unentdeckt zu bleiben. Unser Schiff war wahrscheinlich eines der letzten, welches noch Truppen zur Verstärkung transportiert hatte. Um die japanische Bodenoffensive zu erschweren, waren die Eisenbahn- und sämtliche Straßenbrücken von Wuhu durch unsere eigenen Soldaten am 1. Dezember gesprengt worden. Zu diesem Zeitpunkt konnten Schiffe nur noch den Hafen von Anqing am oberen Flusslauf erreichen. Auch die Bahnverbindung zwischen Nanking und Anqing hatte eingestellt werden müssen, da sämtliche Züge bombardiert worden und die Strecke nicht mehr befahrbar war. Den Menschen in Nanking waren somit sämtliche Fluchtwege versperrt, wer sterben oder überleben würde entschied nun einzig das Schicksal – nur wenige Tage später begannen die Japaner mit einem grauenhaften Massaker an der Bevölkerung von Nanking!

      Laut Plan sollte die Fahrt flussaufwärts von Wuhu nach Hankou zwei Tage und eine Nacht dauern. Um jedoch den ständigen Luftangriffen zu entgehen, musste der Dampfer bei Tageslicht immer wieder am Ufer haltmachen, da wir nicht aus dem Schutz der Baumwipfel herausfahren durften. Glücklicherweise nahte der Winter und so gab es nur wenige Stunden Tageslicht. Wir erreichten Hankou im Morgengrauen des vierten Tages. Die Schüler, die während der ganzen Fahrt unter Deck auf dem Fußboden gesessen hatten, stolperten auf wackligen Beinen von Bord und wurden so schnell es ging zu einer Fähre gebracht, die sie zum gegenüberliegenden Ufer des Yangtse transportierte, in die Stadt Wuchang. Unweit der Anlegestelle befand sich die Mittelschule, wo sie endlich wieder mit ihren Schulkameraden der ersten Gruppe vereint wurden. Die Schulleitung hatte die Aula umfunktioniert und dort ein provisorisches Lager eingerichtet, wo sie alle vorerst Unterschlupf fanden. Mein Vater, der sich sehr um Mutters Zustand sorgte, hatte zuvor einen vor Ort lebenden Freund beauftragt, ein Hotelzimmer zu buchen, wo seine Familie untergebracht wurde. Er hoffte auch, dadurch den Kontakt mit uns einigermaßen sicher aufrechterhalten zu können, während wir auf seine Ankunft warteten.

      Nun wähnte uns mein Vater in relativer Sicherheit, und auch von uns ahnte noch niemand, dass der ganzen Familie eine viel größere Herausforderung bevorstand. Ein Kampf auf Leben und Tod lauerte schon in den Schatten von Wuchang.

      Seit unserer Abfahrt vom Bahnhof in Nanking bis zur Ankunft am Marinestützpunkt im Hafen von Wuhu wurde meine Mutter immer von jemandem huckepack getragen, wenn wir eine Strecke zu Fuß gehen mussten. Dennoch litt sie die ganze Zeit unter starken Schmerzen und blutete auch immerzu. Am dritten Tag der Schiffsreise erlitt sie aufgrund der übermäßigen Anstrengung erneut einen Blutsturz. Die blutstillenden Pillen zeigten keine Wirkung mehr, obwohl wir die Dosis erhöht hatten. Nachdem sämtliche Betttücher verbraucht waren, nahmen wir alles, was noch an sauberer Unterwäsche da war, und platzierten sie unter ihrem Unterleib.

      Als der Dampfer endlich in dem Hafen von Hankou einlief, war meine Mutter bereits seit einigen Stunden bewusstlos. Sie schien in den letzten Zügen zu liegen, als man sie an jenem Morgen vom Anleger direkt in ein katholisches Krankenhaus brachte. Mit ihr zusammen musste auch meine 18 Monate alte Schwester Jingyuan ins Krankenhaus gebracht werden. Die Kleine war noch nicht vollkommen abgestillt, und da sie gerade erst zu laufen begonnen hatte, war sie mit ihren tapsigen kleinen Schritten einfach unglaublich drollig. Jingyuan war ein echter Nestflüchter und mit ihren kleinen Beinchen richtig flink unterwegs. Während sich an Bord alle Erwachsenen um meine kranke Mutter kümmerten, gelang es meiner kleinen Schwester immer mal wieder, allein und unbeaufsichtigt auf dem Schiff herumzulaufen. Vermutlich haben Mitreisende sie währenddessen mit allerlei Proviant gefüttert, denn nach drei Tagen litt sie plötzlich an Durchfall und musste sich dauernd erbrechen. Daher wurde sie gleich in die Kinderstation gebracht, die sich im rechten Flügel des Krankenhauses befand. Der behandelnde Arzt stellte bei ihr eine akute Darmentzündung fest und sie musste zur weiteren Behandlung dortbleiben.

      Meine Tante, die Schwester meines Vaters, nahm mich am nächsten Tag bei der Hand, denn ich wollte unbedingt meine Mutter und meine kleine Schwester besuchen. Sie war doch noch so klein und ich wollte sie nicht allein lassen in dieser fremden Umgebung. Man hatte veranlasst, dass meine Mutter auf die Intensivstation kam, die sich am Ende des linken Flügels befand. Mutters dritter Bruder Pei Yuqing war die ganze Zeit bei ihr am Bett geblieben und hatte voller Sorge beobachtet, wie die Ärzte rund um die Uhr darum gekämpft hatten, Mutters Zustand zu stabilisieren, denn durch den hohen Blutverlust war sie bereits lebensbedrohlich geschwächt. Onkel Pei war früher Direktor einer Volksschule gewesen, aber nach dem Fall von Tianjin und Peking hatte auch er die Mandschurei verlassen müssen und war zu uns nach Nanking geflüchtet. Jetzt wollte er gemeinsam mit uns ins halbwegs sichere Hinterland fliehen.

      Es war der fünfte Tag im Katholischen Krankenhaus von Hankou und ich hatte die ganze Nacht am Bett meiner kleinen Schwester verbracht. Im Morgengrauen war ich dann todmüde und frierend zu ihr in das schmale Bettchen gekrochen und eingeschlafen. Ich kann nicht sagen, wie lange ich so bei ihr gelegen hatte, als ich plötzlich durch das laute Schluchzen meiner Tante geweckt wurde. Der kleine, schmächtige Körper meiner kleinen Schwester war ganz kalt geworden. Ihr kleines süßes Gesicht so blass und weiß, wie frischer Schnee. Jingyuan war tot! Wie hatte das nur geschehen können? Bevor ich vor Erschöpfung eingeschlafen war, hatte sie ihre Augen noch ganz weit geöffnet, mich angeschaut und dabei gemurmelt: „Arm nehmen, Jiejie, Arm nehmen.“ Jetzt lag sie regungslos da, kalt geworden wie Eis, und ihre Augen waren noch immer halb geöffnet.

      Alarmiert durch unser lautes Weinen und Schluchzen kam eine Ordensschwester herbeigeeilt. Sanft legte sie ihre Hand auf das kleine Gesicht und schloss meinem Schwesterchen die Augen. Dann nahm sie mich in den Arm und erklärte mir: „Nun weine nicht mehr, denn solange deine Tränen ihr Gesicht nass machen, kann sie nicht zum Himmel aufsteigen.“ Meine Tante schickte mich aus dem Zimmer. Ich sollte auf dem Gang warten, bis


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