Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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verabschieden, dann trug die Ordensschwester sie hinaus. Inzwischen war es hell geworden, aber es regnete unaufhörlich. Ich schaute in den winterlichen Himmel. Er hatte die stumpfe Farbe von Metall, grau in grau. Ich war 13 Jahre alt und befand mich in einer fremden Stadt. Schweren Herzens und voller Angst schlich ich durch die Gänge bis zum Zimmer, in dem meine Mutter lag. Mutter konnte mich nicht wahrnehmen, da sie noch immer nicht bei vollem Bewusstsein war. So blieb ich hilflos an der Tür stehen.

      Um ihr Krankenbett herum standen Ärzte und Krankenschwestern. Obwohl sie gerade eine weitere Bluttransfusion erhalten hatte, verlor Mutter erneut das Bewusstsein. Der ältere Arzt nahm meinen Onkel zur Seite: „Bereiten Sie sich bitte auf das Schlimmste vor. Wir werden weiterhin unser Möglichstes tun, aber es wird wohl kaum Besserung bringen. Es besteht keine große Hoffnung mehr.“

      Mein Onkel war wie vor den Kopf gestoßen. Blass und wortlos machte er sich auf den Weg, um die Vorbereitungen für das scheinbar Unvermeidliche zu treffen. Begleitet von einigen Schülern fand er in der für ihn vollkommen fremden Stadt schließlich einen Sarghersteller. Bei diesem kaufte er einen kleinen Sarg und bestellte einen großen. Er ließ sich noch ein Bekleidungsgeschäft empfehlen, wo er für meinen 16-jährigen Bruder und mich Trauerkleidung bestellte. Als er schließlich ins Krankenhaus zurückkam, war der Puls meiner Mutter schon so schwach, dass man ihn kaum noch fühlen konnte. „Yuzhen! Wach auf!“, schrie mein Onkel voller Verzweiflung, „Du darfst noch nicht sterben! Schau deine Kinder an! Sie sind noch so jung! Bitte! Bitte geh noch nicht!“

      Jahrzehnte später sollte Mutter uns dann erzählen, dass sie sich noch daran erinnern konnte, wie sie inmitten eines grauen Nebels plötzlich diese Worte hörte. Irgendjemand rief ihren Namen, und in den dunstigen Schwaden erkannte sie nach und nach mich und meinen Bruder. Bis zu den Knien hätten wir vor ihr im tiefen Schnee gestanden und hielten drei kleine Kinderfiguren in den Händen, unsere jüngeren Geschwister … Sie fühlte, dass wir in großer Not waren, und wollte uns holen kommen, doch der Schnee war so hoch und weich, dass sie kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte. So kämpfte sie sich Schritt für Schritt, rutschend und stolpernd auf uns zu, immer weiter vorwärts, bis sie langsam und mühselig ins Leben zurückgekehrt war.

      In meiner Hilflosigkeit hatte ich die ganze Zeit verängstigt im Türrahmen gehockt. Niemand hatte Zeit gehabt, sich um mich zu kümmern. Und als ich dann hörte, wie mein Onkel meine Mutter anflehte, da wurde mir ganz kalt und ich fühlte mich noch ängstlicher und verlassener. Plötzlich kam Zhang Dafei zu Tür hereingestürmt und wäre fast über mich gestolpert. Ich brach erneut in Tränen aus und heulte: „Die kleine Schwester ist tot! Und Mama auch bald!“ Er ging zu meiner Mutter, kniete vor dem Bett nieder, senkte den Kopf und begann mit gefalteten Händen zu beten. Nach einiger Zeit kam er dann zu mir auf den Gang und erzählte: „Ich habe mich an der Militärakademie angemeldet. Ich komme ins Ausbildungsbataillon der Luftwaffe. Und deswegen habe ich auch meinen Namen geändert. Ich nenne mich jetzt Dafei – ‚Ruhmreicher Flug‘. Wir sollen uns um elf Uhr an der Anlegestelle im Hafen versammeln, bereit für die Abfahrt. Vorher musste ich aber unbedingt noch Mutter besuchen kommen. Bitte sag es auch dem älteren Bruder. Ich werde euch schreiben, sobald ich kann.“

      Dann holte er noch ein kleines Päckchen aus seinem Rucksack und legte es in meine Hände. Für einen Augenblick hielten seine Hände die meinen mit dem Päckchen umschlossen und er sagte: „Bewahre es gut auf. Es enthält all die Worte, die ich dir gern sagen würde.“ Dann verließ er mit eiligen Schritten das Krankenhaus. Später schrieb er mir in einem Brief, dass er den ganzen Weg vom Krankenhaus zum Hafen hatte rennen müssen, um noch pünktlich zum Sammelpunkt zu kommen. Dabei hätte er immerzu daran gedacht, dass er im Laufe des vergangenen Jahres so viel Liebe und Wärme von meiner Mutter empfangen hatte, gerade so wie von seiner eigenen Mutter. Und dann hatte er sich von ihr verabschieden müssen, als sie sich in solch einem kritischen Zustand befand, ohne zu wissen, ob er sie je wiedersehen würde. Den ganzen Weg zum Hafen hätte er seine Tränen immer abwischen müssen.

      In dem Päckchen, das er mir überreicht hatte, befand sich eine nagelneue Bibel mit Goldschnitt und einem Umschlag aus Leder. Es war genauso eine wie die, die er selbst auch besaß. Seit jenem Tag trage ich sie immer bei mir, auf all den beschwerlichen Reisen durch die unwirtlichsten Gegenden dieser Welt und mit den unterschiedlichsten Beförderungsmitteln, sei es zu Lande, zu Wasser oder in der Luft. Bis heute, nach mehr als 60 Jahren, ist die Schrift noch immer unverblasst und sehr gut lesbar. Auf der ersten Leerseite hatte er eine Widmung geschrieben:

      Für meine kleine Schwester Pang-Yuan:

      Dieses Buch ist das Leben der Menschheit, die Seele des Universums und die spirituelle Quelle aller Christen. Möge der ewige Gott stets mit Dir sein und Dich mit seiner Liebe erfüllen.

      Ich wünsche Dir eine helle und liebevolle Zukunft, auf dass Du stets im Garten der Freude leben mögest. Amen!

      Zhang Dafei, Dein vierter Bruder im Geiste des Herrn

      18. November 1937

      Bis zu jenem Tag hatte noch nie ein Mensch mein von Krankheit und Sorgen dominiertes Leben mit dem Wunsch für eine „liebevolle Zukunft“ gesegnet.

      Am 7. Dezember traf endlich auch mein Vater in Hankou ein. Zusammen mit einigen Dutzend treuen Mitgliedern des Obersten Führungsstabes hatte er Nanking verlassen müssen, wo sie trotz der drohenden Gefahr durch die Japaner bis zuletzt ausgeharrt hatten. Sie wurden mit Generalissimus Chiang Kai-Shek zuerst nach Yichang in der Provinz Hubei ausgeflogen und bestiegen dort eine Marine-Fregatte, die sie nach Hankou brachte.

      Die Familie hatte endlich wieder ihren Vater zurück. Seine Haut war von der Wintersonne dunkelbraun gebrannt und er war vollkommen abgemagert, da es während der letzten Tage in Nanking kaum noch möglich gewesen war, an ausreichend Lebensmittel zu gelangen. Er schaute sich um und sah in unsere verängstigten Kindergesichter. Da brachen die Tränen einfach aus ihm heraus und rannen entlang seiner Falten das Gesicht herunter. Er zog sein Taschentuch heraus. Früher hatte er es stets makellos weiß gehalten, doch mittlerweile war es vom Staub gelblich-grau verfärbt. Er wischte sich immer wieder die Tränen vom Gesicht, und bald war das Tuch völlig durchnässt. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen erwachsenen Mann so bitterlich weinen. „Unser Land ist verwüstet, unsere Familie vertrieben. Das ist die Realität!“, sagte er schlicht, und sein langer, tiefer Seufzer erzählte uns mehr von dem Schmerz, der ihn erfüllte, als jegliche Worte es gekonnt hätten. Für uns, seine Familie, bedeutete es jedoch ein Glück im Unglück, denn immerhin war Vater unversehrt zu uns zurückgekehrt. Seine Anwesenheit erleichterte und beruhigte auch unsere Mutter sehr und gab ihr wieder neuen Lebensmut. Tag um Tag kam sie ein wenig mehr zu Kräften, und schließlich konnten wir uns sicher sein: Unsere Mutter würde überleben!

      Jeden Morgen nahm mein Vater die Fähre von Hankou nach Wuchang, welches der Generalissimus zum neuen Regierungssitz erklärt hatte. Die Oberste Kommandozentrale im Antijapanischen Krieg bezog ihre neuen Diensträume in der örtlichen Garnison, und dort arbeitete auch mein Vater weiterhin für den Obersten Führungsstab. Zu seinen Aufgaben gehörten unter anderem die tägliche Auswertung der Lageberichte von den Fronten sowie die Verwaltung und Koordination der übergreifenden Planungsbereiche. Zu diesem Zeitpunkt dauerte der Krieg bereits fünf Monate, und Japan, welches sich zuvor damit gebrüstet hatte, dass es China binnen drei Monaten unterwerfen würde, sah sich nun mit einer Nation konfrontiert, die aufgewacht war und sich gegen den Feind erhoben hatte.

      Die Luftangriffe der Japaner hatten sich bisher auf Shanghai, Nanking, Wuhu und Nanchang konzentriert. Nun wurde auch HankouTag und Nacht intensiv bombardiert. Alles, was nach den Bombardements von dem einst dicht bevölkerten Stadtzentrum noch übrig geblieben war, waren die skelettartigen Ruinen der einst so prächtigen und hohen Häuser zwischen Bergen aus Schutt und Leichen. Des Nachts konnte man überall entlang des Jangtse die unaufhörlich lodernden Feuer erkennen. Tag um Tag schien die Zahl der angreifenden Bomber zuzunehmen, doch unsere eigene Luftwaffe flog todesmutig Staffel um Staffel frontal gegen den Feind. Es gelang ihnen während der Luftkämpfe zahlreiche Kampfflugzeuge mit dem strahlenden Sonnenzeichen abzuschießen. Bei jedem Abschuss vergaßen die Menschen die drohende Lebensgefahr und kamen aus den Ruinen, um den tapferen Kämpfern zuzujubeln. Das neue China feierte


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