Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
ganz plötzlich hohes Fieber bekommen. Immer wieder hätte man mich eilends in ein Krankenhaus bringen müssen. „Na, du warst mir ja vielleicht ’n spackes Püppchen!“, scherzte er in seinem ausgeprägten Hunan-Dialekt. „Ne Menge Sorgen un Mühe haste mir gemacht!“ Die Zhounan war ein Internat, und als solches trug die Schule gegenüber den Eltern die volle Verantwortung für deren Töchter. Das war eine gravierende Verpflichtung, insbesondere da es sich um einen Haufen pubertierender Mädchen handelte.
Ich war tatsächlich nur kurze Zeit an dieser Schule, genau genommen ein einziges Semester. Doch während meines Aufenthaltes war ich eine fleißige Schülerin, die alle Aufgaben sorgfältig und gewissenhaft erledigte. Als die Japaner schließlich bis nach Hankou vorgedrungen waren und nach monatelanger Belagerung in die Stadt einmarschierten, verwandelte sich Changsha in einen brodelnden Kessel aus Angst und Wut. Hankou war von Changsha aus gesehen die nächstliegende Großstadt im Norden. Nachdem sie vom Feind eingenommen worden war, stand die Bedrohung nun wieder unmittelbar vor unseren Toren. Die Zhounan-Mädchenschule war nicht nur für ihr hohes Bildungsniveau berühmt, sondern auch für ihre Fortschrittlichkeit. Während des Antijapanischen Krieges wurde dort auch das patriotische Bewusstsein der Mädchen gefördert und wir Schülerinnen erfuhren zum ersten Mal eine deutliche Veränderung unseres Stellenwertes in der Gesellschaft. Deshalb sollte auch die gesamte Schule an einer großen patriotischen Demonstration durch die Innenstadt teilnehmen. Von meinem neuen Selbstbewusstsein durchdrungen, meldete ich mich sofort als Freiwillige bei der Trommelgruppe an. Herr Li, unser Klassenlehrer, fragte mich, was ich denn dort machen wolle. Daraufhin antwortete ich voller Überzeugung: „Die große Trommel schlagen!“ Ich war der Ansicht, dass nur das größte und lauteste Schlaginstrument dazu geeignet wäre, meinen überstarken antijapanischen Gefühlen hinreichend Ausdruck zu verleihen.
Diesem leidenschaftlichen Aufbegehren war es damals auch geschuldet, dass ich dabei eine entscheidende Tatsache völlig außer Acht ließ: Ich wog gerade einmal etwas mehr als 30 Kilogramm, also nicht viel mehr als ein mageres Äffchen. Wie hätte ich da solch eine große und schwere Trommel den ganzen Weg durch die Stadt tragen können? Herr Li, dem nicht entgangen war, wie wichtig mir dieses Anliegen war, löste das Problem mit salomonischer Weisheit: Er wählte eine Mitschülerin aus, die viel kräftiger war als ich, damit sie die Trommel während des Umzugs auf dem Rücken trug, so dass ich neben ihr herlaufen und dabei kräftig auf das Instrument schlagen konnte. Den Organisatoren gefielen wir als Zweiergespann sogar so gut, dass sie uns nach vorn holten, damit wir die Kundgebung anführten. Die Entscheidung zeugte gleichzeitig von einem großen Verständnis für all die Flüchtlinge aus den nordöstlichen Landesteilen Chinas – sie war eine offenkundige Ermutigung für Schüler und Erwachsene, trotz Verlust und Vertreibung niemals aufzugeben.
Aus jenen Tagen besitze ich noch ein kleines Freundschaftsheft, in dem sich Lehrer und Mitschülerinnen mit aufmunternden Sprüchen und glückbringenden Wünschen verewigt haben. Es begleitete mich vom Festland bis nach Taiwan und schenkte mir Freude und Trost während der vielen dramatischen Veränderungen in meinem Leben. Ja, sogar während der kurzen Pausen zwischen dem Wechseln von Windeln, der täglichen Hausarbeit und der Zubereitung von drei Mahlzeiten warf ich gern einen Blick in das Album und erinnerte mich an diesen aufregenden Tag, da ich, eine kleine dürre Dreizehnjährige, jene Demonstration durch die von patriotischer Inbrunst brodelnden Straßen Changshas geführt und dabei voller Wut und Verzweiflung unnachgiebig die große Trommel geschlagen hatte.
Wann genau ich anfing, diese patriotischen Gefühle zu entwickeln, das weiß ich heute nicht mehr genau. Vielleicht wurde mein Kampfgeist durch das Soldatendasein von Zhang Dafei geweckt! Etwa zwei Monate nach unserer Ankunft in Xiangxiang erhielt ich ein Schreiben von Dafei. Es war das erste Lebenszeichen von ihm, seitdem er sich in einem militärischen Ausbildungslager befand. Einige der jüngeren Ausbilder dort waren mandschurischer Abstammung und hatten zuvor die Huangpu-Militärakademie absolviert. Von ihnen erfuhr Dafei, wo sich die Zhongshan-Schule inzwischen befand, und ging davon aus, dass auch wir dort sein mussten. Sein Brief war an meinen Bruder und mich adressiert. Vielleicht hatte er befürchtet, dass mein schreibfauler Bruder ihm nicht antworten würde, doch insgeheim hoffte ich auch ein wenig, dass er den Brief an mich adressiert hatte, weil er mich mochte. Als Erstes erkundigte er sich nach dem Befinden meiner Mutter (er hätte es niemals zu fragen gewagt, ob sie noch am Leben ist). Er bat uns, ihn auf jeden Fall auf dem Laufenden zu halten.
Dann berichtete er, warum er sich überhaupt zum Militärdienst gemeldet hatte:
„Ich bin schon 19 Jahre alt, und nach Schulabschluss wäre ich dann über 20. Ob ich dann die Zulassung für eine öffentliche Universität bekomme, ist nicht mehr sicher. Was ich aber ganz sicher weiß, ist die Tatsache, dass die Japaner uns in eine so verzweifelte Lage gezwungen haben, dass ich weder Lust zum Studieren noch die Hoffnung auf eine sichere Zukunft habe. So Gott es will, habe ich zu Hause noch immer drei ältere Brüder und einen jüngeren, also mehrere Stammhalter, die sich um die Familie kümmern. Es war mein innigster Wunsch, an der Offizierschule der Luftwaffe aufgenommen zu werden, und ich bin sehr glücklich, dass es nun geklappt hat. Damit bekomme ich die Möglichkeit, unserem Land tatkräftig zu dienen und den Tod meines Vaters zu rächen.“ Des Weiteren schrieb er, dass die Ausbildung ziemlich hart sei, aber auch, dass sie eine recht ordentliche Verpflegung erhielten, so dass er sich immer richtig satt essen könne: „Seit ich mein Zuhause verlassen musste, habe ich, außer bei Euch in Nanking, selten so viel und so Gutes zu essen bekommen.“
Mit der Zeit sei er kräftiger geworden, robuster und ausdauernder, so dass er den strengen militärischen Drill ohne große Schwierigkeiten ertrüge. Schließlich erkundigte er sich noch, ob ich schon mit dem Lesen der Bibel begonnen hätte, und empfahl mir, mich zuerst mit dem Neuen Testament zu beschäftigen.
Da mein Bruder zu jener Zeit neben dem Unterricht auch noch in etliche schulische Aktivitäten eingebunden war, bat er mich, den Brief umgehend zu beantworten. Das war vollkommen überflüssig, da ich selbst schon geplant hatte, Dafei zurückzuschreiben, sobald ich wieder zurück in der Mädchenschule war. In meinem Brief erzählte ich ihm zuerst von Mutters Genesung und ihrem generellen Zustand, aber auch davon, wie es dem Rest der Familie ergangen war. Zum Schluss berichtete ich ihm selbstverständlich noch, dass ich die Bibel, die er mir geschenkt hatte, stets bei mir trug: „Ich trage sie immer im Beutel meines Leibgürtels, auch wenn die Sirenen heulen und ich um mein Leben rennen muss. Wenn ich dann im Luftschutzkeller hocke, kann ich darin lesen, und das tröstet mich. Dann habe ich nicht mehr so viel Angst.“ Ich schrieb ihm auch, dass ich eine Sache nicht verstehen würde, und bat ihn, mir zu erklären, was Jesus damit gemeint hatte, als er sagte: „Wenn Dir einer auf die linke Backe haut, dann halte ihm auch deine rechte hin!“
Im November 1938 wurde es offensichtlich, dass die Japaner auf Changsha zumarschierten. In der Stadt verschlechterten sich die Verhältnisse von Tag zu Tag und die Luft vibrierte schier vor Angst und Unruhe. Nachdem die KMT-Regierung Anfang September ihren Regierungssitz nach Chongqing verlegt hatte, erreichten täglich mehr und mehr Flüchtlinge aus Hankou und dem Norden der Provinz die Stadt. Die Straßen schienen vor lauter Menschen bersten zu wollen. Schließlich kamen meine Eltern in die Provinzhauptstadt, um mich abzuholen. Wir fuhren noch am selben Abend nach Yongfeng zurück, denn meine Eltern wollten keine Zeit mehr verlieren, um die Vorbereitungen für unsere erneute Flucht abzuschließen.
In dieser Nacht kam es in Changsha zu einem Großbrand, der sich in Windeseile ausbreitete. Die Feuersbrunst tobte fünf Tage lang und zerstörte fast die gesamte Stadt. Zigtausende Menschen kamen in den Flammen oder während der Massenflucht ums Leben. Viel später erst wurde mir bewusst, wie viel Glück ich gehabt hatte. Welcher Engel hatte seine schützende Hand über mich gehalten? Doch ich fragte mich auch, warum so viele Unschuldige hatten sterben müssen, und ob sie vielleicht noch hätten gerettet werden können?!
Es waren sehr schöne Tage, die wir in der Kleinstadt Yongfeng bei Xiangxiang verbracht hatten. Und bis heute ist die Erinnerung daran lebendig! Die Provinz Hunan war bekannt für die Schönheit ihrer Landschaft und den Reichtum an natürlichen Ressourcen. Ihre Einwohner galten als aufrichtig und herzlich, voller Wissensdurst und dennoch beständig in ihren kulturellen Traditionen. Andererseits waren sie auch bekannt für ihre Beharrlichkeit, ihren an Sturheit grenzenden Eigensinn und ihr dünkelhaftes Selbstbewusstsein, weshalb man ihnen auch den Beinamen „Hunan-Esel“