Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


Скачать книгу
und Fabelwesen klar umrissen vor meinem inneren Auge – sie wirkten so echt, dass ich vor lauter Angst fast ins Bett gemacht hätte. Doch die Vorstellung, zur Toilette gehen zu müssen, jagte mir einen noch größeren Schrecken ein, und dann zog ich mir die Decke über den Kopf, damit ich nicht mehr zuhören musste. Irgendwie entwickelte sich daraus eine Art „Furcht vor der Abenddämmerung“, was mich wieder an meine Zeit im Westberg-Sanatorium erinnerte. Gott sei Dank mussten wir schon bald darauf Guilin wieder verlassen und weiter Richtung Nordwesten ziehen, in die Provinz Guizhou. Für mich war das wirklich eine große Erlösung.

      Die Lage verschlechterte sich rasant. Die Armee der Republik China hatte große Verluste zu verzeichnen und der Nachschub an militärischer Ausrüstung sowie Lebensmitteln war unterbrochen. Auch in Guilin wurde die Lage zunehmend instabiler, da sie sich binnen kürzester Zeit zu einer Flüchtlingsstadt entwickelte. Unzählige Vertriebene aus Shanghai, Nanking und Wuhan strömten in die einst so idyllische Stadt des Duftblütenwaldes, bis sämtliche Aufnahmekapazitäten vollständig ausgeschöpft waren. Die Stadt schien vor lauter Menschen schier aus allen Nähten platzen zu müssen. Auch für die Zhongshan-Schule gab es nur provisorische Notunterkünfte. Schüler und Lehrer männlichen Geschlechtes wurden in den Tropfsteinhöhlen im „Park der sieben Sterne“ untergebracht; den Lehrerinnen und Schülerinnen wurden provisorisch errichtete Schilfgrashütten zur Verfügung gestellt. Inzwischen war mein Vater in die Provinz Sichuan gereist und suchte dort nach geeigneten Räumlichkeiten für die Schule. Mit Hilfe der örtlichen Behörden fand er schließlich eine Unterkunft im Ningjing-Tempel in der Nähe von Ziliujing, heute ist Ziliujing ein Stadtteil von Zigong in der Provinz Sichuan. Der Tempel der Stille war eine großzügige Anlage mit etlichen Hallen und Höfen, die ausreichend Platz bot, um all die Schüler unterzubringen und zu unterrichten.

      Die nächste Etappe der Evakuierung sollte wesentlich beschwerlicher werden. Die Lehrer und Schüler wurden in drei Gruppen aufgeteilt und marschierten zu Fuß von Guilin aus Richtung Südwesten bis nach Liuzhou. Von dort aus ging es dann in westlicher Richtung nach Huaiyuan, einer kleinen Stadt im Landkreis Yishan, welche wiederum zum Verwaltungsbereich von Hechi gehört. Dort sollten sich die Gruppen an einem zuvor vereinbarten Platz wieder sammeln und eine Zeitlang abwarten. Nachdem sie sich etwas ausgeruht und ein klares Bild von der vorherrschenden Situation gewonnen hatten, brachen sie erneut auf und marschierten Richtung Chongqing. Das war die längste Etappe, denn Chongqing lag weit im Norden, im östlichen Teil der Provinz Sichuan.

      Meinem Vater war es gelungen, dem Armeekommandanten von Guilin drei Armee-Lastwagen samt Fahrern und einigen Helfern abzuschwatzen, die er für den Transport der Schuleinrichtung benötigte. Meine Schwestern fuhren mit unserer Mutter in einem Linienbus nach Liuzhou, während ich gemeinsam mit meinem Onkel auf einem der Lastwagen mitfahren durfte. Die Ladefläche des Lasters war bis obenhin voll und wir mussten auf diesen Berg von Koffern und Kisten klettern, um einen Platz zum Sitzen zu finden. Damit wir während der Fahrt durch die bergige Landschaft nicht vom Wagen geschleudert werden konnten, hatten wir uns mit einem Seil am Geländer festgebunden. Trotzdem wurden wir während der Fahrt so richtig durchgeschüttelt, und es gab etliche Situationen, wo wir fürchteten, in einen der karstigen Abgründe zu stürzen. Eigentlich war ich ja eher ein Angsthase, aber ich war so mächtig stolz darauf, nicht mit den Kleinen im Bus fahren zu müssen, dass es in meiner schmächtigen Brust gar keinen Platz mehr gab für irgendeine kindische Furcht. Auch wenn es mir selbst nicht bewusst war, der Krieg ließ mich schnell erwachsen werden.

      Wir blieben einige Tage in Liuzhou, um die nächste Etappe unserer Flucht zu organisieren. Der Kommandeur des erst seit kurzem dort stationierten Panzerregiments war ein Landsmann von uns aus dem Nordosten Chinas und Absolvent des achten Jahrgangs der Huangpu-Militärakademie. Dank seiner Fürsprache wurden uns einige Transportfahrzeuge zur Verfügung gestellt, mit denen meine Familie und die letzte Gruppe von Lehrern mitsamt ihren Angehörigen nach Huaiyuan gebracht werden konnten, wo wir vorerst wohnen sollten. Der Großteil der Lehrer und ihrer Familien befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach Sichuan. Die kleine Stadt Huaiyuan liegt direkt am Ufer, wo der Xiaohuan-Fluss in den Drachen-Fluss mündet, eingebettet in die Ausläufer der Hochebene von Yunnan und Guizhou. Die Landschaft dort ist von atemberaubender Schönheit, doch meine Mutter hatte nach unserer Ankunft für all das keinen Blick: Jeden Tag ging sie, nachdem sie uns Kinder versorgt hatte, allein zum Ortseingang und starrte auf die staubige Straße. Über Stunden hockte sie dort am Straßenrand und wartete auf die Marschkolonne der Zhongshan-Schule, in der sich auch mein Bruder befand.

      Nach 27 langen Tagen erschienen endlich die ersten Schüler am Horizont. Sie hatten 380 Kilometer Fußmarsch bei Wind und Wetter, bergauf und bergab über steinige Straßen hinter sich gebracht. Meine Mutter entdeckte unter den Jugendlichen Dong Xuimin, den einzigen Sohn einer befreundeten Familie, wie er mit zerschlissener Kleidung und ausgefransten Hanfsandalen die Straße entlangtrottete. Seine Siebensachen hatte er in zwei kleinen Bündeln an eine Bambusstange geknotet, die er auf seinen knöchrigen Schultern trug. Als er so auf sie zukam und voller Erleichterung „Tantchen Chi“ rief, da verlor meine Mutter die Beherrschung und brach in Tränen aus.

      Hunderte von halbwüchsigen Schülern waren wochenlang bei gutem wie schlechtem Wetter auf der Flucht gewesen. Während dieser Zeit hatten sie kaum eine Möglichkeit gehabt, sich richtig zu waschen, geschweige denn ihre khakifarbenen Uniformen zu reinigen, und richtige Unterkünfte oder Schlafplätze hatten sie auch nicht gehabt. Verdreckt und mit verfilzten Haaren waren sie nun endlich am Ziel angekommen. Die Jugendlichen waren ausgemergelt und von den wochenlangen Strapazen der Wanderschaft erschöpft und entkräftet. Das Bild dieser tapferen jungen Menschen, das sich meiner Mutter in jenem Augenblick präsentierte, schmerzte sie zutiefst, denn das Ausmaß des ganzen Elends brach ihr fast das Herz. Zwischen all den verschwitzten und staubbedeckten Gestalten in verschlissenen Uniformen hätte sie beinahe ihren eigenen Sohn nicht erkannt.

      Es war schon eine frappierende und zugleich paradoxe Situation, dass wir erst auf der Flucht vor dem Feind, in einer Ära des Leidens, da wir von Fremden erniedrigt und schikaniert wurden, das einzigartige Glück hatten, die unbeschreibliche Vielfalt und landschaftliche Schönheit Chinas kennenzulernen: Die ewig lange Luokou-Eisenbahnbrücke über den Gelben Fluss, welche wir mit der Jinpu-Bahn befuhren, dann die malerische Strecke von Nanking nach Wuhu, und von dort aus, am Jangtse-Fluss entlang, flussaufwärts bis nach Hankou, dem heutigen Wuhan. Von den idyllischen Gewässern und Parks der Stadt Hankou reisten wir über Changsha, Xiangxiang bis in das kleine Städtchen Yongfeng, das uns wie ein wahrhaft paradiesisches Fleckchen Erde mit fruchtbarem Boden, unberührten Wäldern und kultivierten Menschen erschien. Nachdem wir diesen Ort gegen unseren Willen hatten verlassen müssen, offenbarte sich uns während dieser ziemlich holprigen Etappe von Hunan südwärts nach Guangxi die wahre Schönheit des Xiang-Flusses, und nach dessen Überquerung die unbeschreiblich herrlichen Landschaften, in die die Städte Zhuzhou, Hengyang und Chenzhou eingebettet lagen. Und so erreichten wir schließlich die einzigartige Karstlandschaft von Guilin, die mir erschien, als wäre sie einem Märchen entsprungen.

      Während dieser ziemlich beschwerlichen Reise dachte ich oft an ein Gedicht von dem Dichter Qin Shaoyou, welches ich in der Nankai-Schule gelernt hatte: Glückselig fließt der Chen dahin, in sanften Schlingen strömen seine Wasser um den Chen-Berg sacht gewunden. Warum nur müssen diese Wasser weiterfließen? Sich zu vereinen mit den Flüssen Xiao und Xiang? Vielleicht nur, um Schöneres noch zu schaffen … Diese Zeilen berühren mich bis zum heutigen Tag. Wenn ich mich ihrer erinnere und an die Schönheit der Natur denke, welche ich während jener grausamen Tage sehen durfte, dann stehlen sich noch immer heimlich ein paar Tränentropfen in meine Augen.

      Man kann durchaus behaupten, dass ich praktisch die gesamte Provinz Hunan durchquert habe. Und als ich eines Tages las, dass Mao Zedong in den 1920er-Jahren ein erklärter Befürworter der Autonomiebestrebungen Hunans gewesen war, da dachte ich mir, dass das gar keine so verrückte Überlegung für jene weitestgehend unaufgeklärte Epoche war. Von Guilin aus flohen wir auf Umwegen durch die Provinz Guangxi bis in die weiter nördlich gelegene Nachbarprovinz Guizhou. Die Strecke führte durch jäh aufragende Gebirge und tiefe Schluchten auf unbefestigten Serpentinen. Die Straßen waren zum Teil derart kurvenreich, dass wir den zurückgelegten Weg nicht mehr sehen konnten, sobald wir eine Biegung hinter uns gelassen hatten.


Скачать книгу