Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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Haus in der Ninghai-Straße umgezogen waren, denn in regelmäßigen Abständen mussten wir etliche von ihnen für eine Weile bei uns zu Hause aufnehmen, bis sie eine eigene Bleibe gefunden hatten. Unser neues Heim war ein beigefarbener Neubau mit zwei Etagen und einem großen Garten. Meine Mutter legte dort einige Etagenbeete an, die sie mit allen erdenklichen Blumen und Gräsern bepflanzte. Es sah wunderschön aus. Das Schlafzimmer unserer Eltern lag im oberen Stockwerk, und von ihrem Fenster aus, welches nach Osten ging, konnten wir den Purpur-Berg sehen, die höchste Erhebung im Umland von Nanking. Am Nordhang des Berges lag das Grabmal von Doktor Sun Yat-Sen, dem Begründer des modernen China. Je nach Art und Farbe der Wolken über dem Purpurnen Berg konnten wir das Wetter mit ziemlicher Genauigkeit voraussagen. Ein weiterer Grund für unseren Umzug in das größere Haus lag darin, dass mein Vater häufig Gäste zu sich nach Hause einlud, und ebenso häufig übernachteten diese dann auch bei uns. Ausschlaggebend war jedoch die erneute Schwangerschaft meiner Mutter gewesen. Für mich war das der schönste Grund: Die Geburt meiner zweiten, der jüngsten Schwester Xingyuan. Für meine Mutter zählten diese Jahre zu den schönsten in ihrem Leben, denn nun war sie schließlich, nach mehr als einem Dutzend Ehejahren, doch noch selbst zur Herrin des eigenen Hauses geworden.

      Jedes Wochenende luden meine Eltern grüppchenweise Studenten aus der Heimat zu uns nach Hause ein. Es zählte zu den Aufgaben meines Vaters, sich um die jungen Leute zu kümmern, die nun so weit weg von zu Hause in Nanking lebten. Mutter liebte es, ihre Landsleute mit all den köstlichen Mehlspeisen zu bewirten, die sie nach traditionell nordchinesischer Art anfertigte. Sie genoss es ganz unverhohlen, sich von diesem allgemeinen Gefühl der Nostalgie tragen zu lassen, denn es half ihr, die eigene Sehnsucht nach der Heimat für eine Weile zu stillen, und jeder dieser jungen Gäste war für sie wie ein Teil der Familie. Wie gern lauschte sie auch nach dem Essen den unterschiedlichen Erzählungen aus der Heimat, die von den Jahreszeiten in der Mandschurei, den Familien unserer Gäste und der mühseligen Arbeit auf den fruchtbaren Feldern handelten.

      Nachdem wir in die Ninghai-Straße umgezogen waren, entdeckte Mutter, dass unser geräumiger Hinterhof auch tagsüber schattig und kühl war. Dort, wo es am kältesten war, stellte sie Tongefäße in allen möglichen Größen auf und begann, in großen Mengen gegorenen Chinakohl herzustellen. Von Bekannten ließ sie sich auch einen großen kupfernen Feuertopf aus Peking mitbringen. In den Jahren vor dem Ausbruch des Sino-Japanischen Krieges hat der Feuertopf mit Bauchfleisch und Sauerkohl der Familie Chi mehr heimwehkranke Herzen aus dem Nordosten Chinas erwärmt, als ich zu zählen vermochte! Meine Mutter war der Ansicht, dass Sojabohnenpaste aus der Mandschurei eine Delikatesse und die beste überhaupt sei. Um sie herzustellen, musste man die Bohnen jedoch verschimmeln lassen, und das war wirklich kein schöner Anblick. „Was ist denn das für gammeliges Zeug?“, fragte eines Tages Vater meine Mutter. „Das wird die beste Sojabohnenpaste der Welt“, antwortete Mutter voller Stolz, „und ich mache sie ja hier im Hof, wo es niemand sehen kann.“ Vater mochte es überhaupt nicht leiden und verbot daher, dass in seinem Haus so etwas Ekelhaftes hergestellt würde. Mutter wiederum wollte es sich nicht gefallen lassen, dass man ihr als Herrin über Haus und Herd dazwischenfunkte, doch sie ließ ihn einfach reden. Als am darauffolgenden Wochenende wieder eine Gruppe von Kadetten zu Besuch kam, servierte Mutter ihnen Zwerggurken mit Bohnenpaste und dazu noch Feuertopf mit Bauchfleisch und Sauerkohl. Während die jungen Männer beim Essen saßen, bekamen einige von ihnen regelrecht feuchte Augen und seufzten wehmütig. Und plötzlich bekamen wir alle eine so große Sehnsucht nach der Heimat. Heimat, ja das war ein Ort, an den diese jungen Männer nicht mehr zurückkehren konnten. Was konnte mein Vater da noch gegen ein paar schimmlige Bohnen sagen?

      Als die chinesischen Kommunisten 1958 begannen, zwei Inseln vor Taiwan, Jinmen (Quemoy) und Matsu, massiv zu bombardieren, eilte mein Vater mit einigen Parlamentsabgeordneten an den Kriegsschauplatz. Der Befehlshaber von Jinmen, General Wang Duonian, war ein Absolvent des zehnten Jahrgangs der CMA und einer der jungen Männer, die regelmäßig bei uns zum Feuertopf-Essen eingeladen gewesen waren. Während um sie herum die Granaten einschlugen, schwärmte er meinem Vater gegenüber voller Begeisterung von Mutters heimatlichen Leckerbissen, an die er sich zeitlebens erinnern würde.

      Gegen Ende des Jahres 1937, als wir uns noch auf unserem eigenen leidvollen langen Marsch von Nanking nach Chongqing befanden, trafen wir einige junge Offiziere, die ebenfalls bei uns zu Gast gewesen waren. Sie alle bemühten sich sehr um uns, soweit es ihnen möglich war, und versuchten uns das Leben etwas angenehmer zu machen. Es war ihrerseits vor allem ein Zeichen großer Dankbarkeit meiner Mutter gegenüber. Viele Jahre später, auf dem Begräbnis meiner Mutter, ließ es sich Botschafter a. D. Zhao Jinyong nicht nehmen, ihr zu Ehren eine Rede zu halten. Er erzählte von seiner Studentenzeit an der Zentralen Politischen Hochschule in Nanking und bedankte sich bei meiner Mutter für ihre Großzügigkeit und Fürsorge, denn sie hatte ihm bei jedem Besuch ein kleines Taschengeld zugesteckt, nachdem der Kontakt zu seiner eigenen Familie aufgrund des Krieges abgebrochen war.

      In jenem Jahr, als wir in der Ninghai-Straße ansässig waren, kam uns mein Großvater endlich wieder einmal besuchen. Als er sah, dass seine Lieblingstochter ihre Trauer überwunden hatte und in bester Stimmung geschäftig zwischen den Blumen im vorderen Garten und den Tontöpfen im Hinterhof herumwuselte, da fiel ihm ein Stein vom Herzen und er wusste, dass er sich um sie keine Sorgen mehr machen musste. Zwei Jahre später verstarb er friedlich, ohne Bedauern und ruhigen Gewissens.

      Ihren eigenen Haushalt zu führen machte Mutter wirklich glücklich! So konnte ich häufig ihr leises Summen hören, wenn sie mit irgendeiner Arbeit beschäftigt war. In der Regel gelang es mir nicht herauszuhören, welche Lieder sie gerade vor sich hin summte, doch wenn sie meine jüngste Schwester in den Armen hielt, dann sang sie mit leiser klarer Stimme, dann konnte ich jedes einzelne Wort verstehen. Es war das Lied von „Su Wu, dem Schäfer vom Baikalsee“. Die letzte Strophe sang sie mit besonders viel Gefühl: „… Aufrecht saß er dort in rauer Kälte. Die Einsamkeit am westlichen Ende jener Großen Mauer, durchbrochen nur vom Klang der Zither. Sein Herz – es ward getroffen, schubweise von der Tartaren Musik – der Schmerz wie ein Peitschenhieb.“

      Diese Strophe wiederholte sie immer und immer wieder, bis meine kleine Schwester eingeschlafen war. Dann legte sie das Kind in die Wiege und saß noch eine ganze Weile allein in der sich ausbreitenden Stille.

      Mehr als ein Jahrzehnt später, nach dem Sieg über Japan, fuhr meine Mutter zurück in die Heimat, wo sie die Gräber ihrer Eltern besuchte, um ihnen Respekt zu erweisen und sich zu verabschieden. Danach blieb sie noch einige Tage auf unserem Gutshof, wo sie einst zehn lange Jahre auf ihren Ehemann gewartet hatte, bevor sie hatte flüchten müssen. Und nach diesem Besuch war sie wieder auf der Flucht, nur sollte der Weg sie dieses Mal viel weiter von der Heimat wegführen als je zuvor – bis nach Taiwan. Nun, 20 Jahre danach in Mittel-Taiwan, saß sie an der Wiege meines Sohnes und sang flüsternd erneut das Lied von „Su Wu, dem Schäfer vom Baikalsee“. Ja, der gute Su Wu lebte nach all den Jahren in ihrer Vorstellung noch immer am Baikalsee, allein in jenem fremden Land und voller Wehmut. In Wirklichkeit hatte Su Wu nach 19 Jahren im Exil wieder in seine Heimat, das damalige Han-China, zurückkehren dürfen. Während der 38 Jahre, die meine Mutter auf der Insel Taiwan lebte, bis wir sie in der Nähe der Hafenstadt Danshui an einem Berghang begruben, hatte sie ihre Heimat jedoch niemals wiedergesehen.

      Die Gründung der staatlich geführten Nordöstlichen Zhongshan-Oberschule war für meinen Vater die Erfüllung seiner Berufung. Als er 1932 unter Lebensgefahr in die Mandschurei zurückgekehrt war, befanden sich die Untergrundmilizen der verschiedenen Widerstandsgruppen und die Freiwilligen-Armee, die jeder für sich gegen die japanischen Aggressoren kämpften, in einer vollkommen aussichtslosen Lage. Seine Kameraden aus den Untergrundorganisationen waren der Ansicht, dass mein Vater nach Nanking gehen sollte, denn dort könne er aufgrund seiner engen Beziehungen zur Parteizentrale der KMT und seiner leitenden Position in der bereits etablierten Nordostchinesischen Gesellschaft mehr für seine Heimat und seine Landsleute tun, als es ihm in dem von Japan besetzten Gebiet jemals möglich sein würde. So machte sich mein Vater schließlich wieder auf den Weg Richtung Süden. Er unterbrach seine Reise für ein paar Wochen, als er in Peking ankam, und gründete kurzerhand die „Hilfsorganisation zur Förderung für Jugendliche aus dem Nordosten“. Diese Einrichtung wurde von freiwilligen


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