Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
ihnen anzuschließen. In jenen Tagen lernte er unter anderem auch die einflussreichen Chen-Brüder, Guofu und Lifu, kennen, welche später innerhalb der Partei den Beinamen Anführer der CC-Clique bekamen. Als es wenig später zu einer Spaltung innerhalb der KMT kam, verlegte der linke Flügel unter der Führung von Wang Jingwei seine Parteizentrale nach Hankou, welches heute ebenfalls ein Stadtteil von Wuhan ist, und versuchte dort, die Regierung zu etablieren. Chiang wiederum erklärte daraufhin das gerade von ihm eroberte Nanking zum neuen Hauptsitz der Partei und rief dort am 18. April 1927 die Bildung der neuen Nationalregierung unter seiner Führung aus. Diese Ereignisse führten unter anderem zum endgültigen Bruch der KPCh mit der KMT im Herbst desselben Jahres. Während dieser Zeit lernte mein Vater in Nanchang, Jiujiang und Hangzhou viele bedeutende und einflussreiche Politakteure kennen und erlangte einen zunehmend tieferen Einblick in die vorherrschenden Zustände innerhalb der KMT und deren Beziehungen zur Kommunistischen Partei Chinas. In diesem Jahr war er auch mehrmals nach Japan gereist, um das Nachbarland eingehender zu beobachten und zu erforschen. Aus seiner Zeit in Guo Songlings Armee, als diese den revolutionären Militäraufstand gewagt hatte, war ihm vor allem die Erkenntnis gegenwärtig: Nach all den politischen Höhen und Tiefen, deren Zeuge er geworden war, benötigte er unbedingt mehr militärisches Wissen, wenn er weiterhin in der Politik tätig sein wollte. 1928 besuchte mein Vater im Rang eines chinesischen Oberleutnants die Infanterieschule der Kaiserlich Japanischen Armee. Bevor der Lehrgang begann, absolvierte er das vorgeschriebene Praktikum als stellvertretender Kompaniechef des 30. Infanterie-Regiments der legendären 13. Takada-Division. Während seiner Zeit an der Infanterieschule fuhr er jedes Wochenende mit dem Nachtzug nach Tokio, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Er lernte dort auch etliche junge Offiziere aus China kennen. Die meisten von ihnen waren Absolventen des ersten Jahrgangs der von Chiang Kai-Shek gegründeten Huangpu-Militärakademie, deren erster Kommandant er selbst war. Mein Vater besaß aufgrund seiner Studienzeit in Kanazawa ausgezeichnete Kenntnisse der Sprache, des Landes und der Mentalität, so dass er den jungen Männern viele gute Ratschläge geben konnte. Er beschäftigte sich intensiv mit der Militärgeschichte Japans und machte sich mit der Philosophie des Shogun-Zeitalters vertraut, wobei ihn im Besonderen der Ehrenkodex des Bushido, also die Seele des Kriegers, faszinierte. Ferner studierte er zielbewusst die Modernisierung des Militärs seit der Meiji-Restauration und die Entwicklung des japanischen Expansionismus im 20. Jahrhundert. Aus seiner Studienzeit in Japan unterhielt er noch zahlreiche Kontakte vor Ort, und gelegentlich traf er sich mit seinen japanischen Klassenkameraden, um gemeinsam mit ihnen in Jugenderinnerungen zu schwelgen. Die meisten jener intellektuellen Freunde waren sehr an der Mandschurei interessiert, und als Guo Songlings Gefolgsmann war mein Vater ein stets willkommener Gesprächspartner. Doch er war nicht nur ein guter Erzähler, sondern auch ein sehr guter Zuhörer, und so erfuhr er mit der Zeit durch die freimütigen Gespräche sehr viel mehr über die wahren Absichten Japans in Bezug auf die Mandschurei, welche ihn zutiefst beunruhigten.
Nach dem Scheitern des Putsches von General Guo, als für den damals 27-jährigen Mann aus dem Nordosten Chinas bereits alles verloren schien, folgten nun drei ereignisreiche Jahre, die ihn auf seine Zukunft vorbereiten würden. Seit jenem ersten Gespräch vor dem Kamin in General Guos Haus bis zu den Lagern am Liao-Fluss hatte er zahlreiche Persönlichkeiten kennengelernt und so viele Nächte im angeregten Gedankenaustausch über Ziele und Ideale verbracht. Diese Brüder im Geiste, mit denen er gestern noch debattiert hatte, waren morgen schon die Mitgestalter des modernen China. Die politische Überzeugung meines Vaters und seine wesentlichen Charakterzüge sind ganz entschieden von ihnen geprägt worden.
6 - Der Mukden-Zwischenfall
Im Juni 1928 wurde Marshall Zhang Zuolin unweit der Bahnstation Huanggutuen, einem Vorort von Shenyang, während eines Bombenattentats getötet. Der Anschlag war von einem Offizier des japanischen Militärs verübt worden. Am 18. September 1931, inszenierten japanische Soldaten der Kwantung-Armee (Guandong Jun) erneut einen Anschlag bei Shenyang, der als Mukden-Zwischenfall29 in die Geschichte eingegangen ist. Noch in derselben Nacht besetzten sie die Stadt und markierten so einen der schmerzlichsten Augenblicke in der Geschichte des modernen China. Meine Mutter, die gerade erst begonnen hatte, ihr neu gewonnenes Glück zu genießen, traf der Schock unerwartet bis ins Mark. Da ihr nun die Rückkehr verwehrt war, fürchtete sie, ihre geliebten Eltern nie mehr wiederzusehen.
Mein Vater hatte schon seit langem gewusst, dass dieser Tag früher oder später kommen würde. Seit die Granaten während des Russisch-Japanischen Krieges in den Hügeln unweit des heimatlichen Gutshofs detoniert waren, seit Guo Songling mit seinem Leben für den Versuch bezahlt hatte, das Schicksal der Mandschurei zum Besseren zu wenden, und spätestens als auch Marschall Zhang getötet worden war, da war ihm vollends bewusst geworden, dass ein solches Unheil nicht mehr abzuwenden sein würde. Nachdem es den Alten Marshall in Stücke gerissen hatte und ein Machtkampf um die Nachfolge entbrannt war, musste sein Sohn, Zhang Xueliang, in aller Eile sein schweres Erbe antreten, um den Machterhalt als Kriegsfürst zu sichern. Es fehlten ihm jedoch die Kühnheit, die Willensstärke und die Führungsqualitäten, die es gebraucht hätte, um ein derartig riesiges Land und seine Bevölkerung vor den Japanern zu schützen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit schreckgeweiteten Augen anzusehen, wie das herrscherlose Land vor die Hunde ging. Für meinen Vater war es über die Maßen schmerzhaft, dass die Mandschurei für immer verloren sein sollte. Doch seine Heimat, dieses riesige, fruchtbare Land durch die Unfähigkeit eines ignoranten Erben zu verlieren, der regieren wollte, wie es die Familien der feudalen Kriegsherrn schon viel zu lange getan hatten, empfand er als beschämend und empörend zugleich.
Seitdem es die Südmandschurische Eisenbahngesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts übernommen und das Streckennetz in der Mandschurei ausgebaut hatte, hatte Japan geduldig 30 Jahre lang darauf gewartet, dass dieser Tag kommen würde. Nach dem Mukden-Zwischenfall kontrollierte die japanische Kwantung-Armee in der Mandschurei sämtliche Verbindungen zur Außenwelt wie die Eisenbahn, sämtliche Straßen, und überwachte den gesamten Telegramm- und Funkverkehr. Dennoch leisteten zahlreiche Einheiten der örtlichen Milizen von Shenyang bis Harbin noch ein ganzes Jahr lang bewaffneten Widerstand. Wo waren da der junge Marschall Zhang Xueliang und seine ruhmreiche Fengtian-Armee während dieser ganzen Zeit? Was taten sie, während das ganze Land endgültig besetzt wurde?
Schließlich wurde 1932 der Marionettenstaat Mandschukuo ausgerufen, ein von den Japanern errichtetes Kaiserreich auf dem Boden unserer Heimat mit einem vermeintlichen Kaiser, der einst der Kaiser von ganz China gewesen war. Dies war ein bedeutsamer Schritt für Japans Bestrebungen, sein Konzept von der Großostasiatischen Wohlstandssphäre umzusetzen, und fortan konnten sie sich auf die totale Niederwerfung Chinas konzentrieren. In einer einzigen Nacht war China zu einem Riesen geworden, dem im Schlaf beide Füße abgehackt worden waren. In dieser Nacht weckte der Schmerz über den Verlust ein ganzes Land aus dem Schlaf. Landesweit kam es plötzlich zu Aufmärschen und Massenprotesten. Die Demonstranten skandierten: „Nieder mit dem japanischen Imperialismus!“ und „Unser Leben für unser Land!“ Doch die Rufe wurden nur von uns selbst gehört. Die Welt befand sich noch im Zeitalter des Kolonialismus, und die Hauptakteure der Weltpolitik, die in der Lage gewesen wären, Sanktionen gegen Japan zu verhängen, waren zumeist selbst Kolonialmächte. Der Völkerbund schickte zwar eine Untersuchungskommission unter der Leitung des ehemaligen Vizekönigs von Indien, Graf Victor Bulwer-Lytton, nach China, doch auch das führte zu keinem Ergebnis. Der Gerechtigkeit wurde wie so oft nicht Genüge getan.
Während des ganzen Jahres nach dem Mukden-Zwischenfall machte sich mein Vater Gedanken darüber, was man gegen die Japaner unternehmen könnte. In den letzten zwei Jahren, in denen er in der KMT-Zentrale gearbeitet hatte, hatte er meist nur Kontakte zu Lehrern und Bildungsfunktionären in der Mandschurei gehabt. Aufgrund des Zwischenfalls und der Besetzung Shenyangs waren die meisten von ihnen nach Peking gezogen und hatten dort ein Büro für die Flüchtlinge eingerichtet. Einige von ihnen waren dann nach Nanking gefahren, um der Nationalregierung persönlich Bericht zu erstatten und an sie zu appellieren, den freiwilligen bewaffneten Widerstand in den Provinzen Jilin und Heilongjiang endlich tatkräftige Unterstützung zu schicken. Die Elitetruppen der Fengtian-Armee, welche nun von dem Jungen Marschall, Zhang Xueliang befehligt wurden, hatten sich, seiner „Kein-Widerstand-Erklärung“ Folge leistend, in den Nordwesten Chinas zurückgezogen, denn sie fühlten sich der Übermacht des japanischen Gegners unterlegen. Die einheimische