Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
dann hätte ich im Augenblick der Gefahr eine Eskorte mit dem Befehl losschicken können, Frau Guo zum japanischen Konsulat zu begleiten. Dort wäre sie in Sicherheit gewesen und der General hätte keine Rücksicht mehr auf sie nehmen müssen. Ich hätte dann mit ihm und seinen Gefolgsmännern in Windeseile zurück nach Jinzhou reiten können, wo wir zu Guos treu ergebenen Truppen gestoßen wären, die noch immer das Westufer kontrollierten. Dann wäre noch nicht alles verloren – der General hätte überlebt und wir hätten die Truppenstärke bewahren können, um einen erneuten Angriff vorzubereiten. Wir hätten noch eine zweite Chance …
So saß mein Vater monatelang versunken in nachdenklichem Schweigen und zutiefst bekümmert; O wehe, dieser unbezwingbare Strom! Unbezwingbar die Fluten, die sie nicht hatten überqueren können. Sollte das Wasser dieses Flusses die frierende Wirklichkeit sein, in der alle Bestrebungen zur diplomatischen Verhandlung und auch die Erneuerung bringenden Ideen eingefroren sind?
Mit dem Frühling kam auch die Fengtian-Armee wieder zurück und überquerte abermals die Große Mauer. In Shanhaiguan angekommen griff sie in den Bürgerkrieg zwischen den Warlords von Hebei, Shandong und Henan ein. Das japanische Konsulat in Xinmin lag nur 500 Meter von der Beijing-Shenyang-Eisenbahnlinie entfernt. Es war nicht zu überhören, dass die zunehmenden Truppen- und Versorgungstransporte des Militärs die Gleise abnutzten. Doch das schrille Kreischen der Zugräder war das geringste Problem der Menschen dort. Es waren die Soldaten der Fengtian-Armee, die den Leuten das Leben zur Hölle machten. Und es war nicht zu übersehen, dass Marschall Zhang Zuolin nur seine eigenen Interessen vor Augen hatte – das Wohlergehen des Volkes kümmerte ihn nicht die Spur. Selbst wenn mein Vater unterwegs nicht verfolgt und getötet worden wäre, so wäre es ihm unter diesen Umständen dennoch unmöglich gewesen, nach Hause zurückzukehren. Ihm blieb nur noch die Hoffnung zu entfliehen und irgendwo anders zu überleben:
„Und wäre ich auch der Letzte, den man am Leben ließe – ich werde dieses Übel bis zum letzten Atemzug bekämpfen!“
Das schwache Licht des abnehmenden Sichelmondes vermochte kaum die Dunkelheit der Nacht zu durchdringen, als den sechs Männern am 1. Juli 1926 mit Hilfe von Angehörigen des japanischen Konsulates die Flucht gelang. Der Konsulatssekretär Nakata Chiyoda und der Polizeibeamte Kanei Fusataro waren Sympathisanten von General Guo. Sie besorgten unauffällige Verkleidungen und halfen den Flüchtenden, die hohe Konsulatsmauer zu überwinden. Im Schutz der Dunkelheit passierten sie die Absperrung, ohne von den Fengtian-Soldaten bemerkt zu werden, deren Aufmerksamkeit nach all den Monaten nachgelassen hatte, und marschierten dann 30 Kilometer entlang der Eisenbahnschienen bis nach Xinglongdien. Dort wurden sie von japanischen Freunden in Empfang genommen, die sie nach Huanggutun brachten, einem kleinen Dorf etwa fünf Kilometer westlich von Shenyangs Altstadt. Hier trafen sich der 27-jährige Chi Shiying und der 48-jährige Yoshida Shigeru wieder und führten zum ersten Mal ein richtiges Gespräch miteinander. Es war ein langes und anregendes Nachtgespräch, bei dem sie Meinungen und Gedanken austauschten und sich besser kennenlernten. Yoshida war von dem aufrichtigen, kultivierten jungen Mann mit seinen innovativen Ideen sehr beeindruckt. Als Diplomat musste er offiziell die neutrale Haltung Japans vertreten, dennoch hatte er den politisch Verfolgten Zuflucht gewährt und sie aus den Fängen von Marschall Zhang Zuolin gerettet. Dass er den Männern dann noch zur Flucht verholfen hatte, bewies durchaus seine Aufgeklärtheit und eine versteckte Sympathie für die Helden der „Sturm und Drang-Epoche“ des modernen China. Mein Vater war zutiefst dankbar für die helfende Hand, die ihm gerade noch rechtzeitig gereicht worden war, und als er seinen Retter nach Ende des Zweiten Weltkrieges wiedertraf, entwickelte er sich zu einem glühenden Bewunderer Yoshidas. Vor allem dessen Einschätzung der Weltlage und Weitsichtigkeit beeindruckten ihn zutiefst, sowie dessen Haltung zu Bildung und Förderung junger Talente, die er voll und ganz teilte.
Nach dem Treffen mit Yoshida reiste mein Vater, noch immer verkleidet, von Liaoning in den Süden der koreanischen Halbinsel nach Busan, nahm von dort aus die Fähre nach Japan. Dort angekommen stieg er schließlich in den Zug nach Tokio. Während eines Zwischenhaltes in Kyoto wurde er zu seiner großen Überraschung von japanischen Journalisten belagert. Bereits am nächsten Morgen erschienen Zeitungsartikel, die nur so strotzten von erfundenen Details und irreführenden Aussagen. Mein Vater, der sich zu den Ereignissen nicht hatte äußern wollen, entschied sich daraufhin, doch einige Interviews zu geben, um eine Richtigstellung zu erwirken. Ausführlich berichtete er über die Ideale von General Guo Songling und schilderte den tatsächlichen Hergang der Militäroperation gegen Zhang Zuolin. Die Interviews wurden nicht nur in sämtlichen japanischen Tageszeitungen veröffentlicht, sondern verbreiteten sich auch wie ein Lauffeuer binnen kürzester Zeit in China. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Tokio erhielt er eine Einladung als Ehrengast für eine Theateraufführung im Stadtteil Asakusa. Das Theater zeigte die Geschichte des Putsches in der Mandschurei als Erstaufführung und die Person des Chi Shiying spielte darin eine maßgebliche Rolle. Für den echten Chi war es ein seltsames Gefühl, sich selbst zuzuschauen. Von dem ursprünglich kühnen Unterfangen, das Schicksal der Mandschurei zum Besseren zu wenden, war nichts als dieses Schauspiel übrig geblieben.
Als er Japan wieder verließ und nach Tianjin zurückkehrte, fand er das Machtgerangel der nordchinesischen Politiker noch in vollem Gange vor. Die alten und neuen Kabinettsminister der Beiyang-Regierung waren nicht willens oder einfach nicht in der Lage, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Mein Vater konnte nicht in die Heimat zurück und hatte weder die Mittel noch die Intention, nach Deutschland zurückzukehren, um sein Studium fortzusetzen. In der italienischen Konzession besuchte er den einflussreichen Politiker General Huang Fu, der ein alter Freund von General Guo war, um sich für dessen schnelle finanzielle Hilfe zu bedanken, als er und seine Mitstreiter im japanischen Konsulat festsaßen. Huang riet ihm zuerst nach Shanghai zu gehen, um von dort aus die politische Entwicklung Chinas zu beobachten und dann erst eine endgültige Entscheidung zu treffen, wohin er gehen wollte. Huang selbst sollte im Jahr darauf zum ersten Bürgermeister der Stadt Shanghai ernannt werden. Mein Vater nahm sich den Rat zu Herzen und reiste erst nach Shanghai und einige Zeit später dann nach Wuchang, da er erfahren hatte, dass Guo Songlings Putschversuch unter den Anhängern der revolutionären Südregierung auf große Sympathien gestoßen war. Auf sich allein gestellt und ohne konkrete Ziele entwickelte er eine Mentalität, die charakteristisch war für all jene, die in der Verbannung lebten: Er machte sich auf die Suche nach Schicksalsgefährten. Auf diese Weise fand er zahlreiche ehemalige Kommilitonen aus seiner Studienzeit in Japan und Deutschland wieder. Im Süden Chinas hatten die Kuomintang (KMT) und die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) gerade erste Bemühungen unternommen, vorsichtig die Grundlagen einer Allianz zu erörtern, aus der später die Erste Einheitsfront Chinas entstehen sollte.
Mein Vater machte schnell die Bekanntschaft von vielen jungen Revolutionären beider Lager, nahm an deren Massenkundgebungen teil, besuchte ihre Parteitreffen, wo er sich die emotionalen Reden anhörte, und führte ungewöhnlich offenherzige Gespräche mit ihnen. Da mein Vater als Guos Hauptmitstreiter ein überall gerngesehener Gast war, gewann er in kurzer Zeit das Vertrauen vieler unterschiedlicher Menschen. Nachdem er die verschiedenen Propaganda-Broschüren studiert und sich eingehend mit den Ideologien beider Parteien auseinandergesetzt hatte, gelangte er zu der Überzeugung, dass die Drei Prinzipien des Volkes der nationalistischen KMT – Volksgemeinschaft, Volksrechte und Volkswohlfahrt – für China in seiner gegenwärtigen Situation den praktikabelsten und auf Dauer stabilsten Kurs gewährleisten würden. Außerdem beeindruckte ihn das hohe Bildungsniveau der meisten KMT-Mitglieder, darunter viele gewinnende Persönlichkeiten von ausgezeichnetem Format und mit einer untadeligen Reputation. Derart beeindruckt trat er Ende 1926 der Nationalen Volkspartei-KMT in Shanghai bei. Als Chiang Kai-Shek meinem Vater zum ersten Mal in Nanchang begegnete, sagte er: „Nun, Sie sehen gar nicht aus wie jemand aus dem Nordosten.“ Eine Bemerkung, die mein Vater niemals wieder vergessen würde, obwohl Chiang damals noch nicht der übermächtige Anführer war. Dreißig Jahre später, als er meinem Vater die Parteimitgliedschaft entzog, erkannte der alte Generalissimus aus Zhejiang zu guter Letzt doch noch, dass der durchaus zuvorkommende Chi Shiying im Grunde sehr wohl die Unnachgiebigkeit und das unbeugsame Wesen besaß, das den waschechten Männern aus dem Nordosten zu eigen war.
Nachdem mein Vater der KMT beigetreten war, pendelte er häufig zwischen Shanghai und Wuchang. Manchmal begleitete er Huang Fu nach Nanchang, dem Sitz der KMT-Zentrale. Chiang Kai-Shek