Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
Vorbereitungsjahr an der Ersten Hochschule von Tokyo, um Japanisch zu lernen. Anschließend wurde er der Vierten Hochschule in Kanazawa zugewiesen, wo er Naturwissenschaften studierte. Zu dieser Zeit gab es in Japan nur acht Hochschulen. Kanazawa liegt in Zentraljapan, direkt an der Küste zum Japanischen Meer. Als bedeutende Kulturstadt mit alter Tradition, berühmt als Blüte der feinen Künste und aufgrund ihres Reichtums bekam sie im 16. Jahrhundert den Beinamen „Hyakumangoku“26 – Stadt der Millionen Tonnen Reis. Die Hochschule war bekannt für ihre hohen Standards und man legte dort großen Wert auf die Sprachstudien. So musste mein Vater neben Japanisch auch noch Englisch- und Deutschkurse mit jeweils acht Wochenstunden belegen. In den drei Jahren, die er dort zugebracht hatte, wurde der Grundstein für seine lebenslang währende Leidenschaft des Lesens gelegt. Anfangs ging er regelmäßig in die Kirche, um in der dazugehörigen Bibliothek Bücher über die christliche Lehre zu lesen. Dies genügte ihm jedoch schon bald nicht mehr, und so begann er, philosophische Werke zu lesen. Von allen Lehrern dort war es Professor Kitaro Nishida, der als geistiger Vater der Kyoto-Schule gilt, der auch den größten Einfluss auf meinen Vater hatte. In späteren Jahren lehrte Professor Nishida dann an der Kaiserlichen Universität von Kyoto Philosophie. Unter seiner Anleitung begann Vater sich mit Philosophie, Wirtschaft und Sozialismus zu befassen. Von allen Büchern, welche die sozialen Missstände anprangerten, war es die „Erzählung zur Armut“ von Kawakami Hajimi, die ihm eine tiefe Erkenntnis des unfassbaren Ausmaßes der sozialen Ungleichheit vermittelte. Da mein Vater nicht die finanziellen Mittel besaß, nach Belieben Bücher zu erwerben, handelte er mit einem Buchladen aus, dass er die gekauften Bücher in tadellosem Zustand zurückbringen durfte und dafür 80 Prozent Gutschrift für den Kauf anderer Bücher bekam. Mein Vater hatte damals viel Zeit zum Lesen, weil es in Kanazawa häufig regnete, und während des Winters lag die Stadt für lange Zeit unter einer hohen Schneedecke verborgen. So entwickelte sich der kluge, lebhafte Jugendliche mit den Jahren zu einem belesenen, nachdenklichen jungen Mann.
Mit 22 Jahren folgte er dann seinem Vetter Shichang nach Berlin, um dort Wirtschaftsphilosophie zu studieren. Er hatte Karl Marx’ Kapital und andere Publikationen zum Sozialismus eingehend studiert und wurde das Gefühl nicht los, dass zu viele seiner Fragen unbeantwortet blieben. Er zweifelte nach wie vor, und es gelang ihm nicht, seine Ideale mit einer soliden Grundlage zu untermauern. Seine Unentschlossenheit wuchs eher noch, so dass er zeitweilig den Eindruck hatte, sich in einem Zustand geistiger Verwirrung zu befinden. Es war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, den Deutschland verloren hatte, und die Inflation war immens. Die chinesische und die japanische Silber-Währung standen hoch im Kurs. Die dort lebenden chinesischen Studenten bekamen plötzlich so viel Geld bar auf die Hand, dass sie ein komfortables Leben führen konnten. Immer häufiger genossen mein Vater und seine Kommilitonen die Ausschweifungen der Großstadt und lernten somit in erster Linie Land und Leute kennen, so dass für ernsthafte Studien kaum noch Zeit blieb. Im darauffolgenden Semester wechselte er des guten Rufes wegen nach Heidelberg, schrieb sich an der Universität ein und studierte Geschichtsphilosophie bei renommierten Professoren wie Heinrich Rickert und Alfred Weber. Den Verführungen der Unterhaltungsmetropole entronnen, konnte er nun seine volle Konzentration wieder dem Studium widmen. Er besuchte regelmäßig die Vorlesungen und beteiligte sich aktiv an den Diskussionen. Nach den Vorlesungen blieb er meist noch, um weitere Fragen zu stellen. Während seines Studiums der Geschichte im philosophischen Kontext erkannte er die Unverzichtbarkeit des rationalen Denkens und dass die tatsächlichen regionalen Zustände und Verhältnisse in der Tagespolitik berücksichtigt werden mussten. Ihm wurde bewusst, dass man zur Umsetzung von Theorien, wie sie unter anderem in Das Kapital beschrieben waren, diese nicht einfach voller Enthusiasmus oder durch Zwang zu allgemeinen Richtlinien erklären konnte. Diese Erkenntnis führte ihn zu der festen Überzeugung, dass nur aufgeklärte, umfassende Bildung und vernunftorientierte Erziehung das geschwächte China retten konnten. Zudem könne dies auch nicht durch gefühlsgeladene Massenbewegungen oder die Klassenrevolution geschehen, wo der Zweck praktisch alle Mittel heilige, sondern ausschließlich durch einen langfristigen und schrittweisen Prozess. Kulturelle und soziale Probleme ließen sich nur mit Vernunft lösen, denn jedwede überstürzte Veränderung würde nur zu noch größeren Problemen führen.
Im Laufe dieser zwei Jahre ging mein Vater in seiner Freizeit oft über die Alte Brücke, und von dort aus spazierte er am Ufer des Neckars entlang. Es war wohl die schönste Zeit seines Lebens. Im Frühling erinnerten ihn die reißenden Fluten des dahinwirbelnden Stromes an den Liao-Fluss seiner Heimat, wenn dessen trübe Wogen während der Schneeschmelze tosend dahinschossen. Dabei dachte er oft über seine zukünftigen Pläne nach und die notwendigen Reformen für seine Heimat, für China. Ja, er spürte die stürmischen Wellen auch in seinem eigenen Blut. Manchmal fühlte er sich wieder wie einst, als fünfjährige Junge, der gerade ein Paar neue Stoffschuhe bekommen hatte und vor lauter Freude ganz aufgeregt um seine Mutter herumhüpfte, damals am Ufer des Liao. Zunehmend fühlte er einen Trieb in seinem Innersten erstarken, und irgendwann hörte er deutlich den Ruf seines Herzens: „Geh zurück in dein Land und bring den Menschen Bildung!“ Ja, das war es, was er wollte. Endlich hatte er seine Bestimmung erkannt, und so leistete er vor sich selbst den feierlichen Eid: „So soll es sein. Dir, meiner schönen und unendlich weiten Heimat, werde ich eines Tages deine Güte reichlich vergelten. Ich werde mich mit ganzem Herzen dem Lernen widmen, damit ich mit all dem Wissen und Können, welches du mir zu erwerben erst möglich gemacht hast, zu dir zurückkommen kann. Dann werde ich eine Schule gründen und mich der Bildung unseres Volkes widmen, basierend auf vernunftgeleitetem Denken und mittels höchst rationaler Lehr-Methoden.“
Einer der härtesten Schicksalsschläge traf ihn, als sein Vetter Shichang in Freiburg an einer Tuberkulose-Infektion starb. Abgesehen von seinem persönlichen Verlust, welcher ihn zutiefst schmerzte, sah er auch seine Zukunftspläne gefährdet, weshalb er sich dazu entschloss, der Familie den Tod des Vetters vorerst zu verschweigen. Eine Zeitlang gelang ihm dies, doch dann starb ganz unvermittelt auch Shichangs Vater. Shichang musste nach Hause, das erwartete seine trauernde Familie. Meinem Vater fiel keine triftige Ausrede ein, mit der sich erklären ließ, warum der in der Ferne weilende Sohn nicht umgehend zur feierlichen Beisetzung seines Vaters eilen konnte. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als mit den sterblichen Überresten Shichangs in einer Urne heimzukehren. Als er in Shenyang ankam, kam auch die Wahrheit ans Licht, so dass Großvater ihm die Erlaubnis verweigerte, wieder ins Ausland zu gehen. Vater war damals 25 Jahre alt. Sein Streben nach höherem Wissen und somit auch sein Lebenstraum kamen zu einem jähen Ende. Nach Beerdigung seines Vetters ging mein Vater wieder nach Shenyang, um herauszufinden, ob es dort noch andere Möglichkeiten zur Fortsetzung seiner Studien gab. In der damaligen Zeit war die Heimkehr eines Stipendiaten aus Deutschland eine absolute Sensation. General Guo Songling27, der Jahrgangskamerad seines Vaters von der Offiziersschule und zugleich auch dessen guter Freund, lud ihn ein, bei ihm zu Hause zu übernachten, da er das Hotel für eher unbequem hielt.
In dieser nördlichen Region herrschte im Januar eine strenge Eiseskälte und die Nächte waren lang, womit sie sich hervorragend für gemütliche Gespräche am Kamin eigneten. Sie sprachen über alles, von lokalen Ereignissen über nationale Angelegenheiten bis hin zur politischen Lage der Welt, und als sie sich verabschiedeten, hatte jeder von ihnen das Gefühl, dass aus dieser Begegnung eine Freundschaft entstehen könnte. Daraufhin wurde Vater gebeten, noch eine Weile zu bleiben, und jedes Mal, wenn General Guo wichtigen Besuch empfing, wurde mein Vater eingeladen, sich der Gesprächsrunde anzuschließen. Seine Erzählungen über Japan und Deutschland stießen bei den Gästen auf großes Interesse, und auch seine Ansichten zur Lage im eigenen Land, welche er als Auslandsstudent durch den räumlichen Abstand gewonnen hatte, wurden mit Aufmerksamkeit verfolgt. Vor allem jedoch beeindruckte er seine Zuhörer mit Schilderungen, welche die Entwicklungen in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg zum Inhalt hatten. Nach dem verlorenen Krieg war Deutschland wirtschaftlich am Boden und die Bevölkerung musste viel Not und Leid erdulden. Was jedoch nicht hatte besiegt werden können, waren der Nationalstolz und die unverbrüchliche Überzeugung des Volkes, diese schwierigen Zeiten bald überwunden zu haben. Und tatsächlich hatten die Deutschen es geschafft. In ihren alten Häusern mit ihren dicken Mauern, welche auf steinernen Fundamenten standen, ebenso wie in den mächtigen Säulen, die noch immer trotzig emporstrebten, und in den knorrigen alten Bäumen, welche die gepflasterten Alleen säumten, konnte man diese Standfestigkeit spüren, deren Stärke in den Tiefen ihrer Kultur verwurzelt lag. In