Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
ein Jahr alt, bekam ich sehr hohes Fieber, welches sich nicht mehr senken lassen wollte. Mein Zustand wurde immer kritischer. Am Ende konnte ich kaum noch atmen. Mutter saß auf dem Kang, einem beheizten Bett aus Lehmziegeln, welches bei uns im Nordosten Chinas gebräuchlich war, und presste mich ganz fest an sich. Eine Verwandte, die angereist war, um bei uns das Frühlingsfest zu feiern, sagte zu ihr: „Das Kind ist doch so gut wie tot. Es atmet kaum noch. Warum hältst du noch an ihr fest? Lass es doch einfach sein!“ Meine Mutter konnte nicht aufhören, bitterlich zu weinen, aber sie gab mich auch nicht her. Es war bereits Mitternacht, als meine Großmutter schließlich den Beschluss fasste: „Schickt einen der Diener in die Stadt, um einen Arzt zu holen. Mal sehen, ob der das Mädchen noch retten kann!“ Der Diener ritt also zu einem etwa fünf Kilometer weit entfernten Städtchen und fand auch tatsächlich einen Arzt, der nicht nur reiten konnte, sondern auch noch willens war, sich mitten in der Nacht und bei Eiseskälte zu unserem Landgut zu begeben. Und so wurde ich tatsächlich gerettet. Der sterbende Säugling, den Mutter beharrlich umklammert gehalten hatte, gewann bald wieder an Lebenskraft und sollte diese zurückgewonnene Vitalität nie wieder verlieren.
Laut Statistik betrug die Sterberate von Säuglingen zu jener Zeit um die 40 Prozent. Ein Leben wie das meine war also vergleichbar mit einem flackernden Öllämpchen im Wind. Die Liebe meiner Mutter jedoch und die Hilfe aller guten Menschen um uns herum waren wie ein Lampenschirm, der diese winzige, beinahe erlöschende Flamme vor dem Wind schützte. Einige Tage später kam der Arzt erneut in unser Dorf, um einen seiner Patienten zu besuchen. Meine Mutter brachte mich zu ihm und dankte ihm aufs Herzlichste: „Sie haben dieses Kind gerettet. Ihr Vater studiert in Deutschland und hat ihr noch keinen Namen gegeben. Würden Sie ihr nun einen Namen geben, um diese schicksalhafte Patenschaft des Glücks zwischen ihnen zu besiegeln?“ Der Arzt wählte für mich den Namen „Pang-Yuan“ (Bangyuan) und ließ mir damit bereits seinen zweiten Segen zu Beginn meines Lebens zuteilwerden.
Erst als Erwachsene erfuhr ich, dass sich mein Name aus der Verszeile „Jene, die mit Gott im Herzen alt wird“ herleitete, welche aus dem „Buch der Lieder“16 stammte: „Ihre klaren Augen strahlen voller Liebe und wohlgeformt ist ihre hohe Stirn. Wahrhaft, sie ist eine Person von großer Schönheit! Sie ist die Prinzessin unseres Landes.“ Wie großzügig er war, dass er mir solch einen Segen gab. Den Namen einer Frau, die etliche Jahrhunderte zuvor gelebt hatte und für ihre Tugendhaftigkeit bekannt blieb. Er erwies mir damit eine Ehre, die ebenso groß wie furchteinflößend war. Ich, die ihr halbes Leben in dieser modernen Welt darum gekämpft hat, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, denke oft an jenen Arzt im Bergdorf meiner Heimat. Ich hoffe, dass er weiß, wie hart ich gearbeitet habe, um mich der Ehre seiner Segnungen würdig zu erweisen. Jener Segnungen, die er mir in einer Zeit zuteilwerden lassen hatte, wo das Leben eines Mädchens keinen Pfifferling wert war.
2 - Familie Chi aus Tieling
Während meiner Kindheit erlebte ich die Welt als einen Ort ohne Vater. Als ich zwei Jahre alt war, sah ich ihn zum ersten Mal, doch das war nur eine flüchtige Begegnung. Mein Vater befand sich damals auf der Flucht, und eines Nachts, während draußen ein eisiger Schneesturm tobte, schlich er sich ins Haus und war im Morgengrauen bereits wieder verschwunden. Zwei Tage später brachten Großmutter und Mutter meinen älteren Bruder und mich zu einem nahegelegenen Dorf, welches noch kleiner war als das unsrige. Dort mussten wir uns eine Zeitlang bei Verwandten verstecken, weil die Truppen von Marschall Zhang Zuolin17 den Auftrag hatten, meinen Vater Chi Shiying festzusetzen. Als Verbündeter des abtrünnigen Generals Guo Sungling18, der einen Putschversuch gegen den Marshall unternommen hatte, war er der Verschwörung mitschuldig und sollte daher, gemeinsam mit seiner gesamten Familie, hingerichtet werden. Während wir uns dort versteckt hielten, schrie ich jeden Abend, wenn es dunkel wurde: „Ich will nach Hause, ich will nach Hause!“ Für Großmutter und Mutter war es eine unerträgliche Situation, da mein Verhalten alles noch schwieriger machte und sie befürchten mussten, unsere Verwandten in Gefahr zu bringen. Um dies zu vermeiden, beschlossen alle gemeinsam, dass wir wieder nach Hause zurückkehren sollten, und so legten wir unser Schicksal in Gottes Hände.
Der erste Vorfahre der Chi-Familie, von dem ich Kenntnis habe, war als Beamter des Landkreises Xugou in der Provinz Shanxi Anfang des 18. Jahrhunderts nach Fengtien19 versetzt worden, wo er sich nach einigen Jahren dauerhaft niederließ. Innerhalb dieser Ahnenreihe gehörte mein Vater zur inzwischen achten Generation. Unser Gut befand sich in Xiao Xishan, was Klein-Westberg bedeutet, weil es westlich der Stadt Fanjiatun lag und etwa 2,5 km von der Luanshi-Berg-Bahnstation entfernt war. Unser Grundbesitz hatte eine Fläche von etwa 400 Tian20, also ungefähr 4000 Mu21, was umgerechnet etwa 267 Hektar Ackerland sind. Nach damaligen Verhältnissen zählten wir zu den durchschnittlichen Großgrundbesitzern.
Mein Großvater Chi Pengda hatte vier Brüder. Als Jugendlicher wollte er nicht zu Hause bleiben und Bauer werden. Also ging er nach Baoding in der Provinz Hebei und besuchte dort die Offiziersschule. Er diente mehr als 20 Jahre lang in der Fengtian-Armee22 unter Marschall Zhang Zuolin, wo er zuerst vom Bataillons- zum Regimentskommandeur aufstieg und schließlich Brigadekommandeur wurde. Während dieser Jahre blieb er Zhang Zuolin stets treu ergeben. Mein Vater hingegen, Großvaters einziger Sohn, hatte Unmengen neuer Ideen im Kopf, als er von seinem Auslandsstudium in Deutschland zurückkehrte, und vor allem solche, wie man das eigene Land nach westlichen Prinzipien retten könnte. Deshalb schloss er sich Guo Sunglings revolutionären Bestrebungen gegen Marschall Zhang an. Der Putsch hat von seinem Anfang in Tianjin bis zum tragischen Fehlschlag gerade einmal einen Monat gedauert. Großvater war zu dieser Zeit gerade in Baoding, in der Provinz Hebei stationiert und hatte von Vaters Aktivitäten keine Ahnung. Jeder in der Mandschu-Armee erwartete, dass Marschall Zhang meinen Großvater exekutieren lassen würde, doch dieser erklärte zur Überraschung aller: „Der Vater ist des Vaters Generation, der Sohn entspringt einer anderen. Ich habe kein Interesse daran, die Zeche des einen mit dem anderen abzurechnen. Der alte Chi ist mir in all den Jahren immer treu ergeben gewesen. Sein Sohn, dieser Mistkerl, ist durch sein Auslandsstudium ein Wirrkopf geworden, doch das kann nicht bedeuten, dass ich deshalb den Vater töten lasse.“ Später wurde mein Großvater in einem Gefecht leicht verwundet. Er starb jedoch nicht an seiner Verletzung, sondern an einer darauffolgenden Erkältung. Sein Leben endete mit nur 50 Jahren.
Marschall Zhang Zuolin stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte seine Karriere als Bandit begonnen. Doch er besaß eben jenen Edelmut und ausgeprägten Sinn für Rechtschaffenheit, welche den raubeinigen Volkshelden dieser Epoche zu eigen war. Wegen seiner Unnachgiebigkeit den Japanern gegenüber wurde er bei einem von diesen inszenierten Bombenattentat während einer Zugfahrt in der Nähe des Ortes Huanggutun getötet. Auf solche Weise endete die legendäre Ära dieses Kriegsherren, der eine unermessliche Erbschaft hinterließ: die von allen Seiten bedrohte Mandschurei. Sein Sohn Zhang Xueliang (genannt „Jungmarschall“, 1901–2001) erbte seinen Titel, seine Macht und sein Vermögen. Doch es fehlten ihm die Führungsqualität, Weisheit und Würde, um ein derart großes Gebiet zu regieren. Der Traum von einer autonomen, in Wohlstand gedeihenden Mandschurei sollte niemals Wirklichkeit werden.
Meine Großmutter, Zhang Congzhou, entstammte dem Mandschu-Volk. Sie war 19 Jahre alt, als sie mit Großvater verheiratet wurde und fortan zur Chi-Familie gehörte. Sie gebar ihm einen Sohn und zwei Töchter. Während der ersten Jahre ihrer Ehe, als Großvater noch ein Truppenoffizier unteren Ranges war und häufig versetzt wurde, begleitete sie ihn überall dorthin, wo man ihn hinschickte. Später jedoch, als jemand benötigt wurde, der unseren weitläufigen Familienbesitz bewirtschaftete und verwaltete, kehrte sie zurück ins Dorf und wurde sesshaft. Sie und meine Mutter, zwei einsame Frauen, mussten sich fortan um uns drei kleine Kinder kümmern. Mit Hilfe von zwei Dutzend Angestellten und Arbeitern brachten sie im Frühjahr die Saat aus und fuhren im Herbst die Ernte ein. Für uns Kinder war es eine wunderschöne Zeit. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder rannte ich die Hügel hinauf bis zum Westberg, wo wir ausgelassen herumhüpften oder Gottheil pflückten. In den verwilderten Ecken unseres weitläufigen Hinterhofes suchten wir gern nach Brombeeren und sammelten wild wachsende Zwerggurken. Und im Winter gehörte es zu unserer Lieblingsbeschäftigung, auf dem vereisten Flüsschen herum zu laufen. All diese schönen Kindheitsereignisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung!
Großmutter war eine würdevolle, vornehme und zugleich großherzige,