Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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ein Jahr alt, bekam ich sehr hohes Fieber, welches sich nicht mehr senken lassen wollte. Mein Zustand wurde immer kritischer. Am Ende konnte ich kaum noch atmen. Mutter saß auf dem Kang, einem beheizten Bett aus Lehmziegeln, welches bei uns im Nordosten Chinas gebräuchlich war, und presste mich ganz fest an sich. Eine Verwandte, die angereist war, um bei uns das Frühlingsfest zu feiern, sagte zu ihr: „Das Kind ist doch so gut wie tot. Es atmet kaum noch. Warum hältst du noch an ihr fest? Lass es doch einfach sein!“ Meine Mutter konnte nicht aufhören, bitterlich zu weinen, aber sie gab mich auch nicht her. Es war bereits Mitternacht, als meine Großmutter schließlich den Beschluss fasste: „Schickt einen der Diener in die Stadt, um einen Arzt zu holen. Mal sehen, ob der das Mädchen noch retten kann!“ Der Diener ritt also zu einem etwa fünf Kilometer weit entfernten Städtchen und fand auch tatsächlich einen Arzt, der nicht nur reiten konnte, sondern auch noch willens war, sich mitten in der Nacht und bei Eiseskälte zu unserem Landgut zu begeben. Und so wurde ich tatsächlich gerettet. Der sterbende Säugling, den Mutter beharrlich umklammert gehalten hatte, gewann bald wieder an Lebenskraft und sollte diese zurückgewonnene Vitalität nie wieder verlieren.

      Laut Statistik betrug die Sterberate von Säuglingen zu jener Zeit um die 40 Prozent. Ein Leben wie das meine war also vergleichbar mit einem flackernden Öllämpchen im Wind. Die Liebe meiner Mutter jedoch und die Hilfe aller guten Menschen um uns herum waren wie ein Lampenschirm, der diese winzige, beinahe erlöschende Flamme vor dem Wind schützte. Einige Tage später kam der Arzt erneut in unser Dorf, um einen seiner Patienten zu besuchen. Meine Mutter brachte mich zu ihm und dankte ihm aufs Herzlichste: „Sie haben dieses Kind gerettet. Ihr Vater studiert in Deutschland und hat ihr noch keinen Namen gegeben. Würden Sie ihr nun einen Namen geben, um diese schicksalhafte Patenschaft des Glücks zwischen ihnen zu besiegeln?“ Der Arzt wählte für mich den Namen „Pang-Yuan“ (Bangyuan) und ließ mir damit bereits seinen zweiten Segen zu Beginn meines Lebens zuteilwerden.

      Marschall Zhang Zuolin stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte seine Karriere als Bandit begonnen. Doch er besaß eben jenen Edelmut und ausgeprägten Sinn für Rechtschaffenheit, welche den raubeinigen Volkshelden dieser Epoche zu eigen war. Wegen seiner Unnachgiebigkeit den Japanern gegenüber wurde er bei einem von diesen inszenierten Bombenattentat während einer Zugfahrt in der Nähe des Ortes Huanggutun getötet. Auf solche Weise endete die legendäre Ära dieses Kriegsherren, der eine unermessliche Erbschaft hinterließ: die von allen Seiten bedrohte Mandschurei. Sein Sohn Zhang Xueliang (genannt „Jungmarschall“, 1901–2001) erbte seinen Titel, seine Macht und sein Vermögen. Doch es fehlten ihm die Führungsqualität, Weisheit und Würde, um ein derart großes Gebiet zu regieren. Der Traum von einer autonomen, in Wohlstand gedeihenden Mandschurei sollte niemals Wirklichkeit werden.

      Meine Großmutter, Zhang Congzhou, entstammte dem Mandschu-Volk. Sie war 19 Jahre alt, als sie mit Großvater verheiratet wurde und fortan zur Chi-Familie gehörte. Sie gebar ihm einen Sohn und zwei Töchter. Während der ersten Jahre ihrer Ehe, als Großvater noch ein Truppenoffizier unteren Ranges war und häufig versetzt wurde, begleitete sie ihn überall dorthin, wo man ihn hinschickte. Später jedoch, als jemand benötigt wurde, der unseren weitläufigen Familienbesitz bewirtschaftete und verwaltete, kehrte sie zurück ins Dorf und wurde sesshaft. Sie und meine Mutter, zwei einsame Frauen, mussten sich fortan um uns drei kleine Kinder kümmern. Mit Hilfe von zwei Dutzend Angestellten und Arbeitern brachten sie im Frühjahr die Saat aus und fuhren im Herbst die Ernte ein. Für uns Kinder war es eine wunderschöne Zeit. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder rannte ich die Hügel hinauf bis zum Westberg, wo wir ausgelassen herumhüpften oder Gottheil pflückten. In den verwilderten Ecken unseres weitläufigen Hinterhofes suchten wir gern nach Brombeeren und sammelten wild wachsende Zwerggurken. Und im Winter gehörte es zu unserer Lieblingsbeschäftigung, auf dem vereisten Flüsschen herum zu laufen. All diese schönen Kindheitsereignisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung!

      Großmutter war eine würdevolle, vornehme und zugleich großherzige,


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