Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
zu meinen Großeltern und schlugen die Vermählung der Kinder der drei Familien vor. Die Tochter von Inspektor Jiang war im gleichen Alter wie Onkel Shichang, und Herr Peis Tochter Yuzhen passte altersmäßig hervorragend zu meinem Vater. Die Jungen waren attraktiv und die Mädchen bildhübsch, zudem waren alle drei Familien von gleichwertig sozialem Stand. Die Familienoberhäupter wurden sich daher schnell einig und machten die Verlobungen offiziell.
Da mein Vater und mein Onkel zu dieser Zeit die Mittelschule in Shenyang besuchten, bekamen sie keine Gelegenheit, ihre eigene Meinung zu den Verbindungen zu äußern. In den Sommerferien begleitete Vater einige Verwandte zu einer Besichtigung des familieneigenen Weinbergs, welcher in jener Zeit eine große Rarität in der Mandschurei darstellte. Während dieses Ausflugs begegnete der 14-jährige Junge zum ersten Mal seiner zukünftigen Braut. Das junge Mädchen war durchaus positiv beeindruckt von ihrem Verlobten, den auch sie zum ersten und vorerst letzten Mal sah, und dachte bei sich, dass er mit Sicherheit einen besseren Ehemann abgeben würde als irgendein Bauernsohn. Und so begann sie sich in ihren Träumen das Leben auszumalen, welches sie schon bald führen würde, und sah natürlich nur die schönen Seiten. In ihr erwachte eine tiefe Sehnsucht nach jener Welt, welche weit über die Grenzen ihres bisherigen Lebens hinausreichte.
Bereits seit frühester Kindheit hatte Vetter Shichang einen großen Einfluss auf meinen Vater gehabt. Shichang war vier Jahre älter als er und voller fortschrittlicher Ideen. Als Nachrichten von der Revolution in Wuhan 1911 endlich bis nach Shenyang durchgedrungen waren, ließ er sich sofort den altmodischen Zopf abschneiden. Sein jüngerer Cousin, der gerade einmal neun Jahre alt war, machte es ihm in bewunderndem Eifer sogleich nach. Ebenso folgte er seinem Vetter auch zum Haus des Gouverneurs, vor dem die beiden dann stundenlang knieten, als Teilnehmer einer öffentlichen Petition zur Einführung einer parlamentarischen Volksvertretung. Aus Unzufriedenheit über den Lehrplan an ihrer Mittelschule gingen sie ohne Wissen und Erlaubnis ihrer Eltern nach Tianjin, wo sie gemeinsam die Prüfung zur Aufnahme an einer von englischen Missionaren geführten und sehr modernen anglikanische Schule ablegten und auch bestanden. Nachdem sie dort ihren Schulabschluss gemacht hatten, gingen sie gemeinsam zum Studium nach Japan. Mein Vater erhielt dank seiner überragenden Prüfungsergebnisse ein Stipendium, welches von der Stadtverwaltung finanziert wurde, und konnte somit an der First Tokio High School studieren. Ein Jahr später wurde er der Kanazawa Fourth High School zugeteilt. Er war mittlerweile 19 Jahre alt. Während der Sommerferien erreichte ihn ein Brief von zu Hause: Großmutter sei krank und deshalb nun eine frische Hand bitter nötig, die sich an ihrer Stelle um den Haushalt kümmert. Er solle umgehend heimkommen und heiraten. Mein Vater weigerte sich jedoch, nach Hause zu reisen. Daraufhin schickte Großvater einen seiner Vettern nach Japan, um meinen Vater doch noch umzustimmen, und gelänge dies nicht, dann solle man ihn einfach nach Hause zurückschleppen. Bis ins hohe Alter erzählte uns Vater immer wieder gern diese Anekdote. Nach eigener Aussage hatte er daraufhin einige Bedingungen aufgestellt, damit er sich zur Heirat bereit erklären würde: Es dürfen keine Kotaus gemacht werden, es dürfe keine rote Kleidung getragen werden und auch auf den roten Schleier muss verzichtet werden. Es würde auch keine überdachte Sänfte geben, stattdessen dürften sie auf Pferden reiten. Überdies forderte er, dass seine Braut ihn nach der Eheschließung ins Ausland zum Studium begleiten dürfe. Würde allen seinen Bedingungen stattgegeben, dann kehre er heim, wenn nicht, dann würde er bleiben, wo er sei. Die Familie versprach dann, seine Forderungen zu erfüllen. Aber eingehalten wurde nur, dass er während der Hochzeitsprozession hoch zu Ross thronen durfte. Alles andere verlief nach guter alter chinesischer Tradition. Einen Monat später war er bereits wieder in Japan, jedoch ohne die Braut.
Während der ersten zehn Jahre ihrer Ehe war es meiner Mutter weder erlaubt noch praktisch möglich, das Gelände unseres Anwesens zu verlassen. Lediglich in Ausnahmefall wurde ihr gestattet, das Familiengrundstück zu verlassen. Mein Vater war der einzige Sohn der Familie, daher hatte sie als Einzige all jene Aufgaben zu erfüllen, die der chinesischen Tradition gemäß einer Schwiegertochter zufielen. In ihrer dürftigen Freizeit nähte sie Kleider, stichelte Schuhsohlen25 oder stickte die Außenschafte der Schuhe. Ihre Lieblingsbeschäftigung war es jedoch, Kopfkissenbezüge mit selbsterdachten Mustern zu besticken. Es war die einzige Tätigkeit, die sie als wirklich entspannend empfand. Als Angeheiratete hatte meine Mutter keine Freunde in der Nähe und auch keinerlei gesellschaftliches Leben. Umso dankbarer war sie für die Erlaubnis, zweimal im Jahr ihr zehn Kilometer entferntes Elternhaus besuchen zu dürfen. In meinen Kindheitserinnerungen erscheint meine Mutter entweder als die Frau, die mit hängenden Armen demütig bei Tisch stand und meinen Großeltern das Essen servierte, oder als die, die verborgen im hohen Weidegras bitterlich weinte und schluchzte. Während dieser zehn Jahre war mein Vater nur vier- oder fünfmal in den Sommerferien nach Hause gekommen und kaum zwei bis drei Monate geblieben. Eines Tages, als meine Mutter gerade schwanger war, verspürte sie einen großen Heißhunger auf Kirschen. In unserer Region gab es nur eine Saison für Kirschen, daher waren sie nur kurze Zeit von Juli bis August erhältlich. Ein Wanderhändler, der mit Körben an seiner Schulterstange von Ort zu Ort zog, verkaufte gerade seine Kirschen am Eingang zu unserem Dorf. Mein Vater, der damals 21 Jahre alt war, lief schnell hinaus, um noch welche zu ergattern, und vergaß in der Eile, einen Beutel mitzunehmen. Kurzerhand raffte er den vorderen Teil seines langen Gewandes zusammen und ließ sich die Kirschen hineinfüllen. Mit einem Schoß voller Kirschen lief mein Vater vom Dorfeingang zurück zu unserem Gutshof. Die Erinnerung an diesen Schoß voller Kirschen sollte meiner Mutter in den folgenden neun Jahren voller Einsamkeit die Kraft zum Durchhalten geben. In jenen Ferien entschied mein Vater auch, dass der Name meiner Mutter, „Yuzhen“, welcher Leben in Keuschheit bedeutet, zu altmodisch und zu gewöhnlich sei, und gab ihr daraufhin einen neuen Namen. Von da an war ihr Name „Chunyi“, denn er vertrat die Ansicht, dass Rein und Dauerhaftigkeit viel angemessener für sie wäre und auch wesentlich besser zu ihm passen würde.
Nach seinem Studium in Japan ging mein Vater direkt nach Deutschland. Alle seine Briefe und die darin enthaltenen Fotos waren an meine Großeltern adressiert. Sie begannen allesamt mit „Hochverehrte liebste Eltern“ und lediglich am Schluss eines Briefes schrieb er gewöhnlich „Grüße auch an Yuzhen“. Vielleicht lag es daran, dass Männer sich in jener Zeit noch genierten oder er sich aufgrund seiner bedeutenden Position als erstgeborener Sohn des Hauses nicht die Blöße zu geben wagte, persönliche Gefühle für seine Frau in einem Familienbrief, wobei das Familienoberhaupt der Adressant war, zu zeigen. Ganz zu schweigen von einem privaten Brief an seine Frau als deutliches Liebeszeichen. Und so beschritten meine Eltern, obwohl sie im gleichen Alter waren, vollkommen verschiedene Lebenswege. Während mein Vater sich in der weiten Welt mit Büchern, neuen Ideen und gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigte, blieb meine Mutter daheim und kümmerte sich tagein tagaus um die nicht enden wollenden Aufgaben im Haushalt und auf dem Gehöft. Auf ihrer Liste stand: Täglich drei Mahlzeiten kochen, danach Geschirr und Töpfe abwaschen. Sand und Staub wegfegen, die ohne Unterlass von den unendlichen Weiten hinter der Großen Mauer herüberwehten. Zwischendurch nach dem Wohlbefinden der Schwiegereltern erkundigen und alle Wünsche erfüllen. Dazu noch das Polieren auf Hochglanz der rituellen Gegenstände für das Frühlingsfest sowie die Vorbereitung der zahlreichen Familienfeste und Feiertage im Allgemeinen. Jedes Jahr im Oktober musste sie dafür Sorge tragen, dass die Knechte und Mägde rechtzeitig den Chinakohl und die großen Rettichwurzeln im Keller als Wintervorrat einlagerten. Dann wurde ihr erst bewusst, dass sich ein weiteres Jahr bereits dem Ende zuneigte. Die Wege dieser zwei Menschen entfernten sich immer weiter voneinander und meine Mutter vermochte sich schon längst nicht mehr vorzustellen, welche Kreise das Leben ihres Mannes zog und wie es in seiner Welt aussah. Ihr Leben und Erleben konnten unterschiedlicher nicht sein, und selbst wenn sie den Wunsch verspürt hätten, die starke Zuneigung, welche sie füreinander empfanden, dem jeweils anderen mitzuteilen, so gab es doch keine gemeinsame Sprache mehr, um dies noch zu tun.
Den wichtigsten Rückhalt in ihrem von Einsamkeit geprägten Dasein erhielt meine Mutter durch die Ankunft meines älteren Bruders und meine Geburt. Wir Kinder erschienen ihr wie Geschenke des Himmels, wie ein Unterpfand der Treue und der Liebe, somit in gewisser Weise auch wie ein Abbild ihres abwesenden Ehemannes. Mein Bruder Zhenyi, dessen Name Aufschwung und Dauerhaftigkeit bedeutet, war im Frühling zur Welt gekommen, nachdem Vater in den Sommerferien zuvor nach Hause gekommen war. Zwei Jahre später zur selben Jahreszeit wurde ich geboren. Wieder drei Jahre vergingen, da erblickte