Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
große Nachkommenschaft, umso bedeutender für sie und vor allem für meine Eltern war die Geburt und das gesunde Aufwachsen von uns Kindern. Insbesondere in Zeiten, da die medizinische Versorgung noch sehr rückständig war, und dementsprechend hoch fiel auch die Sterberate bei Kleinkindern aus. Mein jüngerer Bruder war erst drei Jahre alt, als er sich eines Tages beim Herumtollen im Haus versehentlich mit den Händen auf dem beheizten Ofen abstützte und sich dabei schwere Verbrennungen zuzog. Er wurde zur ärztlichen Behandlung nach Shengyang geschickt, wo er bei meiner Tante untergebracht wurde. Während seines Aufenthaltes dort steckte er sich bei seiner Kusine mit einer Hirnhautentzündung an und starb zwei Wochen später an den Folgen der Infektion.
Meine Mutter konnte den Tod ihres jüngsten Sohnes nicht verwinden. Sie machte sich schwere Vorwürfe, weinte unaufhörlich und versank tief traumatisiert zusehends in einem Zustand der Verwirrung. Die traditionelle Gesellschaft betrachtete es als unheilvolles Omen, wenn eine junge Schwiegertochter schwermütig wurde und ständig „ohne nennenswerten Grund“ in Tränen ausbrach. Mutter war sich dessen nur allzu bewusst, daher blieb ihr nichts anderes übrig, als sich so lange zusammenzureißen, bis sie das Abendessen serviert hatte, und erst dann lief sie aus dem Haus, tief hinein ins meterhohe Weidegras, wo sie endlich ihrer tiefen Trauer freien Lauf lassen konnte. Tag um Tag, Woche für Woche hockte sie dort nach Sonnenuntergang im Verborgenen und weinte. Während all dieser Monate, da das zarte Grün im Frühling nach der Schneeschmelze zu sprießen begann, bis zu dem Zeitpunkt, da es zu einem faden Grau verblasst war und wieder unter einer dichten Schneedecke versank, bot ihr das Dickicht aus mannshohem Weidegras am hinteren Ende unseres Gartens eine Zuflucht, wo sie ihrer tagsüber unterdrückten Trauer endlich mit gedämpften Schluchzern Luft machen konnte. Als der Frühling zurückkehrte und der Schnee endlich wieder geschmolzen war, nahm meine Mutter mich mit zum nahegelegenen Familiengrab. Dort angekommen warf sie sich auf den kleinen Erdhaufen, welcher die letzte Ruhestätte meines kleinen Bruders markierte, und weinte bitterlich. Ich kann mich noch erinnern, dass um den kleinen Friedhof herum Fichten wuchsen, welche wild im Frühlingswind tanzten. Überall auf den Gräbern blühten langstielige rosarote Blumen. Die üppige Fülle dieser zarten, beinahe transparenten Blütenblätter im Kontrast mit den viel zu dünnen Stängeln erschienen mir wie eine zierliche und edle Schönheit, die ihresgleichen weit und breit nicht zu finden vermochte. Sie waren so gänzlich anders als die mir bekannten Wildblumen, die überall bei uns in der Gegend wuchsen. Begleitet vom leisen, schmerzerfüllten Weinen meiner Mutter pflückte ich geschäftig eine große Anzahl dieser herrlichen Blumen. Auf dem Weg nach Hause trug ich dann voller Stolz den riesigen Blumenstrauß vor mir her. Großmutter freute sich sehr über die wunderschönen Blumen, als wir nach Hause kamen, und erklärte mir, dass es Pfingstrosen seien. Seither verbinde ich mit Pfingstrosen das unermesslich, unvergänglich Schöne und die ewige Trauer zugleich. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, klingen in meinen Ohren das leise Schluchzen meiner Mutter und die Leiden jener Frauen einer vergangenen Epoche.
Seit jenem Besuch am Familiengrab saß meine Mutter häufig apathisch auf der Bettkante. Ihr starrer Blick auf das Fenster gerichtet ging in eine ferne Leere. Selbst Großmutters Rufe konnten sie manchmal nicht wachrütteln. Nach dem Qingming-Fest im April, dem Gedenktag für die Verstorbenen, an dem ihre Grabstätten gefegt werden, kam die Schneeschmelze und die Natur erwachte aus ihrem Winterschlaf. Überall schoss das zarte Grün der Pflanzen aus der Erde empor, und dann zeigte sich unter ihnen auch wieder eine besondere Seltenheit: die Gänsedistel, die einen frischen und leicht bitteren Geschmack hat. Die Frauen unseres Dorfes sammelten sie am gegenüberliegenden Ufer des Flusses und ich ging natürlich sehr gern mit. Als wir das Brachland erreichten, erschienen am Himmel immer wieder Scharen von Wildgänsen, welche in typischer V-Formation aus dem Süden heimkehrten, und wir konnten deutlich ihre Schreie hören, rau und klagend. Meine Mutter richtete sich zwischendurch immer wieder auf und schaute ihnen lange Zeit unbewegt nach. Sie kehrte erst heim, nachdem alle anderen schon längst gegangen waren.
4 - Abschied von der Heimat
Eines Morgens kam mein Großvater mütterlicherseits unangekündigt auf einen Besuch vorbei. Jemand hatte ihm erzählt, seine Tochter Yuzhen sei mittlerweile derart verstört, dass sie beim Kochen die Hand mit dem Brennholz zu weit in den glühenden Ofen gesteckt habe, ohne dabei irgendwelche Schmerzen zu spüren. Auch solle sie sich bereits seit einiger Zeit in diesem Zustand von Geistesabwesenheit befinden, erklärte er meinen Großeltern väterlicherseits, weshalb er sich große Sorgen um seine Tochter mache. Außerdem sei ihm noch zu Ohren gekommen, dass mein Vater derzeit in Nanking mit den sogenannten fortschrittlich-modernen Studentinnen und Studenten in einer Wohngemeinschaft zusammenlebe, und das könne er keinesfalls gutheißen. Schließlich willigten meine Großeltern ein, dass er meine Mutter und uns zwei Kinder zu meinem Vater nach Nanking bringen dürfe, damit wir künftig mit meinem Vater leben konnten. Großvater musste ihnen jedoch versichern, dass er uns wieder nach Hause mitnehmen würde, falls mein Vater uns nicht aufnehmen wollte.
Ich kann mich noch ganz genau erinnern, dass es Spätherbst war. Fast alle Blätter waren schon von den Bäumen gefallen und die Hirse war bereits geerntet. Zwei Angestellte fuhren uns mit einer Pferdekutsche zu dem fünf Kilometer entfernten Bahnhof. Die Station hieß Luanshishan (wörtlich: chaotischer Steinberg), und dort sah es wirklich nach Geröllberg aus. Die losen Felsbrocken, die sich überall auftürmten, wurden von der Ostmandschurischen Eisenbahngesellschaft zum Ausbau der Strecke verwendet. Für die Reise nach Nanking, in die Hauptstadt der Republik China, trugen mein Bruder und ich unsere neuen baumwollgefütterten Roben. Meine Mutter hatte die Roben eigens zu diesem Anlass in Shenyang anfertigen lassen. Meine war aus rotem Stoff gefertigt und mit zierlichen blauen Blümchen bestickt. Für mich war das alles unheimlich aufregend.
Kaum hatte die Kutsche unser Dorf verlassen, da tauchte vor uns auch schon die trostlose Landschaft mit den kahlen Geröllhügeln auf. Kein einziger Baum wuchs dort. Ich stieß eine Frage aus: „Mama, wie heißt dieser Berg?“ Meine Mutter, die bereits seit den frühen Morgenstunden meine lautstarke Fragerei erdulden musste, antwortete leicht genervt: „Das ist der Geister-Weinen-Wölfe-Heulen-Berg!“ Dieser sonderbare Name und der eigenartige Gesichtsausdruck meiner Mutter während sie ihn mir nannte, machten auf mich einen so gruseligen Eindruck, dass er noch sehr lange in meiner Erinnerung nachwirken sollte.
Meine Mutter fuhr also mit zwei kleinen Kindern zu ihrem Mann, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, um die Familie wieder zusammenzuführen. Das Ziel war eine Großstadt, die tausende Kilometer von der Mandschurei entfernt lag. Ein riesiger, unvorstellbarer Ort, wo sie niemanden kannte und wo es nicht einmal ein paar Verwandte gab. Kann es da verwundern, dass sie ängstlich und voller Furcht dieser vollkommen fremden Welt entgegensah? Einer Welt, wo die „Geister weinen und die Wölfe heulen“? Meine Mutter wusste nur zu gut, dass die Zukunft keineswegs gesichert sein würde, doch sie war entschlossen, nie wieder in das kleine Dorf jenseits der Großen Mauer im Niemandsland zurückzukehren, wo sie zehn lange Jahre isoliert und einsam wie eine junge Witwe gelebt hatte.
Während meiner Kindheit erzählte Mutter uns häufig Geschichten und Märchen, denn sie war eine ausgezeichnete Erzählerin. Es gelang ihr auf faszinierende Weise, die Wildheit der Natur, die unermessliche Weiten dieser Erde, die bedrohlichen Raubtiere der Mandschurei und die unbeschreibliche Einsamkeit des Lebens einer jungen Frau in diesen Geschichten zu verschmelzen, die sie uns während der Sommerabende am Kinderbett erzählte. Durch ihre lebendige und eindringliche Art der Schilderung erschien uns Kindern, als würden wir alles hautnah miterleben. In vielen ihrer Erzählungen klangen die eigenen stillen Erwartungen und auch eine immerwährende Traurigkeit durch. Und es gab auch solche, in denen sie ihre tief sitzende Unruhe unverblümt äußerte, angefüllt mit den Schrecken, wie sie der Berg der weinenden Geister und heulenden Wölfe bereithielt, sie offenbarte schonungslos und in kraftvollen Bildern ihre eigenen Ängste vor der Größe Nankings und die Sorge um ihr eigenes Schicksal. Für sie war es eine Möglichkeit, sich all die Dinge von der Seele zu reden, worüber sie im Alltag nicht klagen mochte. Meine lebenslange Leidenschaft und das tiefe Verständnis für Literatur verdanke ich, ebenso wie das Vergnügen an der eigenen Schriftstellerei, eigentlich nur meiner Mutter, und damit einer Frau, der nicht mehr Bildung zugestanden worden war als der Besuch einer Mittelschule.
Am deutlichsten ist mir von jener Reise der Augenblick in Erinnerung geblieben, als mein Großvater mütterlicherseits meinen Bruder