Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
nach Expansion war. Was machte es da noch für einen Sinn, in die Bürgerkriege zwischen den chinesischen Kriegsfürsten verwickelt zu bleiben? War es nicht höchste Zeit, das Volk von Einfältigkeit und Fremdbestimmung zu befreien? Immer häufiger diskutierten sie über die Notwendigkeit, den Menschen eine umfassende Bildung und eine Erziehung im Geiste der Aufklärung zu ermöglichen, damit sie endlich diesem Dilemma entkommen konnten. Zu jenem Zeitpunkt war sich mein Vater noch nicht bewusst, dass diese Gespräche, welche bei ihm und den anderen einen starken Widerwillen gegen das Bestehende förderten und den Drang zu Reformen weckten, seinem Leben eine schicksalhafte Wendung geben würden.
Seit Jahrhunderten hatte das sagenumwobene Volk des Nordostens den Ruf, unzählige Helden hervorgebracht zu haben, furchtlose Bogenschützen zu Pferde und begnadete Kämpfer im Gelände, wenn es darum ging, ihr Land zu verteidigen und seine Stärke auszubauen. 1883, im neunten Regierungsjahr des Guangxu-Kaisers der Späten Qingdynastie, wurde General Guo Songling in dem kleinen Dorf Yuqiaozhai in Liaoning geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, und erst im Alter von 15 Jahren wurde es ihm ermöglicht, einige Jahre lang eine altmodische Privatschule zu besuchen. Anschließend ging er auf die Offiziersschule der Fengtian-Armee. Nach bestandener Abschlussprüfung und Ernennung zum Leutnant marschierte er mit seiner Truppe unter dem Kommando von General Zhu Qinglan (1874–1941) nach Sichuan, wo sie sich dem Tongmenghui-Bund anschlossen. Diese 1905 von Doktor Sun Yat-Sen gegründete Geheimgesellschaft hatte es sich zum Ziel gemacht, eine revolutionäre Allianz zu bilden, welche die korrupte mandschurische Herrschaft stürzen sollte, um dann eine neue chinesische Republik auszurufen. Mit 33 Jahren absolvierte Guo schließlich die Führungsakademie des Heeres und wurde auf Empfehlung von General Zhu, der inzwischen zum Gouverneur der Provinz Kanton ernannt worden war, zum Kommandeur des Gardebataillons befördert. Zeitgleich wurde er als Lehrer und Ausbilder an die Shaoguan Militärakademie für Offiziersanwärter berufen, eine Institution der „Verfassungsschützenden Militärregierung“ unter Vorsitz von Doktor Sun Yat-Sen, deren Zweck die Vorbereitung von Streitkräften auf militärische Konflikte mit der Pekinger Regierung war. Dank seines umfassenden Wissens und dem Weitblick seiner Ideen gewann er schnell das Vertrauen der jungen Offiziere. Allein Fachwissen zu vermitteln reichte ihm jedoch nicht aus. Für ihn war es von großer Wichtigkeit, dass seine Schüler sich zu Patrioten mit demokratischer Gesinnung entwickelten.
Nach der Revolution von 1911 herrschten in China chaotische Zustände. Aufgrund seiner häufigen Versetzungen vom Norden bis weit in den Süden des Landes hatte er das große Durcheinander, welches überall herrschte, die Tumulte und unfassbares Elend mit eigenen Augen sehen können. Mit diesen Erfahrungen und seinem Blick fürs Ganze kehrte er schließlich wieder in die Mandschurei zurück, wo er den Posten eines Dozenten für militärische Strategien an der neu errichteten Nordostchinesischen Militärakademie antrat. Es war kein Zufall, dass einer der jungen Offiziersanwärter, der bei ihm die Schulbank drückte, Zhang Xueliang hieß, und trotz seiner Jugend bereits eine führende Position durch seinen Vater in der Fengtian-Armee bekleidete. Der älteste Sohn des Marschalls Zhang Zuolin war ein äußerst zielstrebiger Schüler, der seinen Lehrer geradezu vergötterte. Eines Tages bat er Guo um Hilfe, denn er wollte die Mandschu-Armee reformieren und eine neue, moderne Truppe zusammenstellen. Dies sollte der Beginn einer engen kameradschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden werden. Guo trat daraufhin der Fengtian-Armee bei und wurde vorerst zum Stellvertreter seines Schülers ernannt. Später übernahm er dann ein eigenes Truppenkommando. Seine herausragenden militärischen Erfolge während der zwei großen Schlachten von 1922 und 1924 zwischen Fengtian-Armee und den Verbänden der Nordchinesischen Kriegsfürsten waren das Ergebnis seiner geschickt kalkulierten Taktiken und der ausgezeichneten Ausbildung seiner Truppen. Trotzdem machte Guo sich Gedanken über den Sinn des Krieges: Lohnte es sich überhaupt, ganz China in einen Krieg zu verwickeln? Während die jungen Männer hinter der Großen Mauer kämpften, verdorrten in der Heimat die Felder, da es nicht mehr genügend Arbeitskräfte gab, um sie zu bestellen. All diese Soldaten, die auf feindlichem Gebiet verwundet wurden oder starben, ließen daheim Frauen und Kinder, denen ein schweres Schicksal gewiss war, schutzlos zurück. Er kam zu der Schlussfolgerung: Keine Kriege mehr! Was die Menschen wirklich brauchten waren Frieden, Nahrung und Bildung!
In den Augen junger Studenten, die aus Europa zurückkehrten, besaß der Gedanke, eine neue Armee aufzustellen, hohe Anziehungskraft. Zu denen zählte auch mein Vater, der von Guos Persönlichkeit und seinen Idealen absolut begeistert war. Als Anführer des modernisierten Teils der Fentian-Armee befand sich der General in einer herausragenden Stellung, war zugleich eine Person mit Format und besaß ein sympathisches Äußeres. Hinzu kam noch, dass er sich durch Entschlussfreudigkeit und Durchsetzungsfähigkeit auszeichnete. Seine Ehe war entgegen aller Tradition eine Liebesheirat und seine Frau, Han Shuying, eine Absolventin der Yanjing-Universität28, die einst von Missionaren in Peking gegründet worden war. Die beiden empfanden eine tiefe Liebe füreinander, lasen gern Bücher und standen neuen Ideen sehr aufgeschlossen gegenüber. Dem geselligen Paar fiel es leicht, neue Freundschaften zu schließen, und wenn sie sprachen, dann wurde schnell deutlich, dass sie sich viele Gedanken zum Weltgeschehen machten und hinsichtlich der Zukunft des Landes in der Verpflichtung sahen. Zusammen mit dem Junior-Marshall Zhang Xueliang und einigen Unterstützern gründete er eine Mittelschule für die Kinder gefallener Soldaten, um den Kriegskameraden Respekt zu zollen und deren hinterbliebenen Familien zu helfen. Aufgrund ihrer vielen Gespräche wusste General Guo, dass mein Vater seit seiner Rückkehr aus dem Ausland das Ziel verfolgte, jungen Menschen eine fundierte Bildung zu ermöglichen und durch Aufklärung zu einem modernen Denken zu führen. Also wurde mein Vater kurzerhand zum Direktor der neuen Tongze-Mittelschule ernannt. Die Satzung der Schule hatte man nach dem Vorbild der Bildungssysteme aus England, Deutschland und Japan zusammengesetzt, wodurch ein für chinesische Verhältnisse außergewöhnlich solides Fundament der modernen Schulbildung geschaffen wurde. Aus dem ganzen Land wurden hochqualifizierte Lehrer angeworben und eingestellt. Bis zur Gründung Mandschukuos, dem von Japan 1932 in der Mandschurei errichteten Marionettenstaat, galt diese Schule als eine der renommiertesten im ganzen Land und besaß den seltenen Ruf politischer Unabhängigkeit. Später wurde noch eine gleichnamige Mädchenschule gegründet und auch eine Universität hatte man bereits in Planung, welche als rein wissenschaftliche Institution vollkommen unabhängig von behördlichen Vorgaben und ohne jegliche politische Einflussnahme geführt werden sollte. Höhere Bildung durfte nicht mehr ausschließlich zum Ziel haben, Beamte für einen überholten Machtapparat zu schaffen.
Nach der offiziellen Einweihung der Tongze-Schule nutzte man übergangsweise einige frisch renovierte Baracken der Shanzuizi-Kaserne östlich von Shenyang als Unterrichtsräume, da das eigentliche Schulgebäude noch im Bau befindlich war. Im Sommer 1924 wurden die ersten Schlüer eingeschult, allesamt unter 14 Jahre alt. Zu diesen Halbwüchsigen zählte auch Song Changzhi, der spätere Admiral Verteidigungsminister von Taiwan. Für meinen Vater, den jungen Schulleiter, ging ein langersehnter Traum in Erfüllung. Voller Begeisterung und Elan stürzte er sich auf seine Aufgaben und arbeitete unermüdlich: Er suchte und fand die Lehrkräfte, arbeitete Lehrpläne aus, beriet Kollegen und widmete sich voller Hingabe dem Unterrichten seiner Schüler. Kurz gesagt, er war mit Leib und Seele dabei und stand permanent unter Dampf. Er kam sich vor wie die Lokomotive der kleinen Lokalbahn, welche die Kaserne mit der Stadt verband: den Kessel unter Hochdruck, voller Tatendrang und ab nach vorn – immer weiter in die Ferne mit dem Ziel vor Augen.
Doch diese glücklichen Tage währten kein ganzes Jahr. Eines Abends Anfang November 1925 rief General Guo meinen Vater an, weil er ihn dringend unter vier Augen sprechen wollte. Um nach Dienstschluss in die Stadt zu kommen, musste Vater den Lokführer der Lokalbahn bitten, ihn außerplanmäßig in die 20 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Shenyang zu fahren. Der Lokführer hatte bereits Feierabend gemacht und die Feuerbüchse war längst erkaltet. Nach einigem Hin und Her ließ sich der Lokführer durch das drängende Bitten meines Vaters erweichen und entzündete erneut das Feuer. Endlich in der Stadt angekommen, vertraute General Guo meinem Vater an, dass er Befehl erhalten hatte, bereits am nächsten Tag mit seinen Divisionen in den südlichen Teil Nordchinas einzumarschieren. Er bat meinen Vater darum, sich seinen Truppen anzuschließen. Vater sollte den Leiter des Lehrbereiches bitten, vorerst die Vertretung zu übernehmen, da der Truppenttansport bereits in den Morgenstunden des kommenden Tages stattfinden würde. Einige Tage nachdem sie die Hafenstadt Tianjin erreicht hatten, bezog General