Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
jenseits der Großen Mauer sei, die vom Kriegsfürsten Sun Chuanfang angeführte Armee „Allianz der Fünf Provinzen“ zu zerschlagen und somit die Vormachtstellung der Fengtian-Armee in den Provinzen Hebei, Shandong, Anhui und Jiangsu zu manifestieren. Aber er, Guo, der siegreiche Truppenführer, sei kriegsmüde und habe das sinnlose Blutvergießen satt. Daher beabsichtige er, seine Truppen in die Mandschurei zurückzuführen und Zhang Zuolin zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes zu zwingen, notfalls auch mit Gewalt! Im Vorfeld hatte Guo bereits alle seine Kommandeure oberhalb der Regimentsebene zu einem Treffen versammelt und ihnen seine Absichten dargelegt. Dazu legte er ihnen einen Friedensplan für die zukünftige Entwicklung der Mandschurei vor. Jene, die willens waren, ihm in den Nordwesten zu folgen, sollten diesen Plan unterzeichnen. Die Mehrheit der Anwesenden war dafür gestimmt und bekräftigte dies mit ihrer Unterschrift. Lediglich einige wenige langjährige Weggefährten des Marschalls Zhang Zuolin verweigerten die Teilnahme an dem geplanten Putsch, den sie für unangemessen befanden, und blieben in Tianjin, wo sie den Truppen von General Li Jinglin zugeteilt wurden.
Guo bat meinen Vater als Emissär internationale Unterstützung für seine „Operation Rückverlegung“ zu gewinnen. Vor allem sollten sich Japan und seine zum Schutz ihrer Südmandschurischen Eisenbahn stationierten Truppen zu einer neutralen Haltung verpflichten. Rückhalt fand er auch bei einigen wichtigen Politikern Chinas, die seinen Friedensplan guthießen und als Berater seines Führungsstabes fungierten. Unter ihnen waren Rao Hanxiang, Generalsekretär des ehemaligen Staatspräsidenten Li Yuanhong, Yin Rugeng, Gao Xibing, Yang Mengzhou, Lin Changmin und Lu Chunfang. Der designierte Sektionschef der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten und zukünftige Außenminister, Wang Zhengting, hatte sein Amt noch nicht antreten können, weshalb mein Vater diesen Aufgabenbereich stellvertretend übernahm. Guo sagte zu seinen hoch motivierten Mitstreitern, die allesamt größtes Vertrauen in seine innovativen Ideen setzten: „Sind wir erfolgreich, so wie ich es mir erhoffe, großartig – sollte es jedoch misslingen, dann ist euch allen ein Leben im Exil gewiss oder der Tod.“
Am 22. November verlegte General Guo seine Truppe in die Provinz Hebei nach Luanzhou und schickte Marschall Zhang Zuolin ein Telegramm, worin er ihn aufforderte, die Kampfhandlungen einzustellen, zurückzutreten und stattdessen seinem Sohn, Zhang Xueliang, die Kontrolle über die Armee und seine Regierungsämter zu überlassen. Das Telegramm begann mit einem Bericht über die verheerenden Verluste während des Angriffs auf Shanhaiguan und die hohe Anzahl der gefallenen Soldaten sowie die erbärmliche Lebenssituation der Hinterbliebenen, welche keinerlei Hilfe zu erwarten hatten. Ferner wies er Zhang auf die reale Bedrohung durch die machtpolitischen Ambitionen der Nachbarn Russland und Japan hin, welche eine Invasion von Tag zu Tag wahrscheinlicher machten, und deshalb sei es zum Wohle der Mandschurei unumgänglich, sich auf den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau, die Bildung operativer Reserven zum Schutz des Landes und den Ausbau der allgemeinen Bildung für das Volk zu konzentrieren, anstatt sinnlose Bürgerkriege zu führen. Nur auf diese Weise sei es möglich, sämtliche Kräfte und natürlichen Ressourcen der Region, welche die reichsten in ganz China seien, erneut zu bündeln und somit dauerhaft gegen ausländische Aggressoren gewappnet zu sein.
Die Antwort des Alten Marschalls ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am nächsten Tag erhielt er Zhangs Telegramm, in dem dieser Guo zu einem persönlichen Gespräch nach Shenyang einlud, ohne jedoch auf seinen Friedensplan oder die Rücktrittsforderungen einzugehen. Es war allzu offensichtlich, dass diese Einladung eine Falle war, die unweigerlich auf die Ermordung des Eingeladenen abzielte. Wiederum einen Tag später schickte Guo ein Telegramm, in dem er seine Forderungen wiederholte, welches Zhang jedoch unbeantwortet ließ, woraufhin er den Befehl zum Vormarsch gab. Von Luanzhou aus führte er seine Truppen zum Shanhai-Pass am Golf von Bohai, wo sie die Große Mauer überquerten. Von dort aus ging es entlang der Küste hinauf bis Huludao, von wo aus der Angriff auf die Truppen des Gegners in Lienshan erfolgen sollte. Während ihres Vormarsches gab es einen plötzlichen Temperatursturz und sie gerieten unversehens in einen heftigen Schneesturm. Es war ein selten strenger Winter mit Temperaturen von minus 20 Grad Celsius. Die beißende Kälte hatte sogar das Meer in der Bucht einfrieren lassen, so dass Menschen und Pferde sie zu Fuß überqueren konnten. Die Vorhut von Guos Truppen, das Zweite Korps, nutzte diesen Umstand zum Angriff, stürmte über die Eisfläche und stieß dem Feind von der Bucht her in dessen Flanke. Zhangs Verteidigungseinheiten wurden vollkommen überrascht und zogen sich aus Huludao zurück. Drei Tage später fiel auch Jinzhou, die zweitgrößte Küstenstadt Liaonings. Als die Nachricht Shenyang erreichte, war Marschall Zhang zutiefst schockiert. Umgehend ließ er seine angehäuften Reichtümer auf Dutzende von LKWs laden und schickte sie zur Einlagerung in ein Depot der von den Japanern betriebenen Eisenbahngesellschaft. Mehr als zehn Fahrten mussten die LKWs machen, bis alles sicher untergebracht war. Um seine Residenz herum ließ er Holz aufstapeln und Benzinfässer verteilen, damit sie im Falle einer Flucht alles niederbrennen konnten. Das Provinzparlament und die Handelskammer bekundeten Guo ihre Loyalität und den Willen zur Kooperation mit der Bitte, nach der Einnahme Shenyangs sämtliche militärischen Aktivitäten einzustellen. Aufgeschreckt durch Guos Vorstoß befand sich die japanische Regierung in höchster Alarmbereitschaft.
Marschall Zhang war für die Japaner generell kein bequemer Bündnispartner, da er stets seine eigenen Interessen konsequent verfolgte, dennoch war er für sie ziemlich berechenbar. Guo hingegen war ein Nationalist aus Überzeugung und ließ sich nicht korrumpieren. Seine Pläne würden mit aller Wahrscheinlichkeit Japans Vormachtstellung in der Mandschurei gefährden. Im Gegensatz dazu signalisierte der in Not geratene Zhang, dass er Japan noch mehr Zugeständnisse machen würde, wenn die japanischen Truppen Guo an einem weiteren Vormarsch hindern würden. Und so geschah es. Die Japaner gingen ein Bündnis mit der Fengtian-Armee ein. General Guo vermochte seine anfänglichen Erfolge nicht mehr auszuweiten und die massiven Behinderungen durch japanische Truppen entlang der Eisenbahnlinie verlangsamten seinen Vormarsch zusehends. Dies verschaffte Zhang die nötige Zeit, Verstärkung aus den benachbarten Provinzen Jilin und Heilongjiang zu beordern und eine Frontlinie am östlichen Ufer des mächtigen Liao-Stroms zu formieren. Inzwischen gelang es Guo Songlings Truppenspitze doch noch die Stadt Xinmin einzunehmen und nun, da Shenyang zum Greifen nah erschien, errichtete dieser am Westufer des Liao-Flusses ein Feldlager, um auf das Eintreffen der Hauptkampftruppe zu warten. Aufgrund der verheerenden Witterungsbedingungen in jenem Winter hatte der Großteil seiner Einheiten Versorgungsprobleme und musste zwangsläufig einige Tage in der Stadt Jinzhou pausieren. Diese Verzögerung hatte es seinem Gegner nicht nur ermöglicht, seine Reihen wieder aufzufüllen und neu zu formieren, sondern auch die Gelegenheit verschafft, Guos Truppen zu infiltrieren und Unruhe zu stiften. Die andauernde extreme Kälte begann zudem die Moral der sonst so erfahrenen Kämpfer aufzuweichen und schwächte den Kampfgeist der Angreifer noch zusätzlich Der Alte Marshall, Zhang Zuolin, dem keine Kriegslist fremd war, setzte gezielt auf psychologische Demoralisierung der feindlichen Truppen.
Drei Tage lang verharrten Guos Armee und Zhangs Truppen, nur durch den eingefrorenen Liao getrennt, einander belauernd aus und beständig schallte es aus Lautsprechern vom Ostufer her: „Brüder der Heimat! Beendet das gegenseitige Morden!“ oder „Wir sind Landsleute, eine Familie! Jene, die an Zhangs Tisch essen, dürfen doch Zhangs Leute nicht bekämpfen!“ Wohlwissend, dass man sie psychologisch unter Druck setzten wollte, zeigten die Zurufe bei Guos Soldaten dennoch Wirkung und sie gerieten zunehmend in einen Gewissenskonflikt, der die Truppe zu spalten begann.
Als das Hauptquartier Zhangs nur noch fünf Kilometer entfernt war, gab Guo den Befehl zum Angriff, doch im entscheidenden Augenblick versagte plötzlich die Artillerie. Die abgefeuerten Granaten explodierten nicht, weil sämtliche Zünder zuvor von Saboteuren entfernt worden waren. In der Nacht zum 24. 12. 1925 suchten Stabschef Zou Zuohua und zwei weitere Generäle, die bereits seit einiger Zeit als Agenten der Fengtian-Armee agierten, Guo Sungling mit der Forderung auf, die Operation abzubrechen, sich zu ergeben und per Telegramm seine Kapitulation zu erklären.
Doch so einfach wollte sich General Guo nicht dem Druck beugen und vorzeitig geschlagen geben, worauf er mit einer 200 Mann starken Garde aus Xinmin Richtung Süden ausrückte. Wären sie allesamt zu Pferde geflohen, dann hätten sie tatsächlich entkommen und einen erneuten Angriff zu einem späteren Zeitpunkt vorbereiten können. Mit Rücksicht auf seine Ehefrau, und einige Zivilberater, die nicht reiten konnten, fuhr Guo gemeinsam mit diesen in einer Kutsche.