Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
Feldern, die längst abgeerntet waren, so dass wir nichts als die endlose Weite der schwarzen Erde bis hin zum Horizont erblickten, nur ab und an unterbrochen von schmalen Waldstücken, welche als Windschutz dienten. Großvater sagte, erst wenn die Zeit des Frostes vorüber sei, im kommenden März, könnten die Äcker wieder bepflanzt werden.
Der Zug fuhr von Shenyang über Shanhaiguan bis nach Peking. Dort stiegen wir um und fuhren weitere drei Tage und zwei Nächte mit der Jin-Pu-Bahn bis Nanking. Als wir in den Bahnhof Xiaguan in Nanking einfuhren, sah meine Mutter aus dem Fenster und erblickte ihn sofort, diesen attraktiven „Fremden“ mit den lebhaften, klaren Augen und dem selbstsicheren Gesichtsausdruck. So stand er auf dem Bahnsteig, kerzengrade, wartend und von Schwaden weißen Kesseldampfes umhüllt. Diese aufrechte Haltung sollte ihm bis zu seinen letzten Jahren erhalten bleiben, kerzengrade und ungebeugt. Während sich die weißen Schwaden langsam lichteten, sah der junge Mann die Frau aus dem Zug aussteigen, mit der er im Alter von 19 Jahren verheiratet worden war. Ihre Schritte waren zögerlich, und ihre Hand, welche die meine hielt, zitterte so heftig wie Espenlaub. Auf ihrem schönen Gesicht lag ein Ausdruck von Schüchternheit, der ihre wahre Freude verbarg. So stand sie dort auf dem Bahnsteig, zwischen ihren beiden Kindern, unübersehbar ihre Provinzialität, auch wenn man sie in nagelneue, baumwollgefütterte Roben gesteckt hatte.
Großvater war keine zwei Wochen in Nanking gewesen, als er bereits wieder in den Zug stieg, um nach Hause in die Mandschurei zu fahren. Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, brach meine Mutter in Tränen aus. Es war herzzerreißend. Als fünftes und zuletzt geborenes Kind war sie auch die einzige Tochter im Hause gewesen. Die Familie hatte sie daher behütet wie eine zerbrechliche Eierschale. Umso schwerer fiel es dem Großvater in jenem Augenblick, sein geliebtes Küken hilflos in einem Meer von Menschen hier im Süden zurückzulassen. Doch es musste sein! Geprägt durch eigene Erfahrungen oder einfach nur aus Angst vor der beständigen Unsicherheit im Leben ermahnte uns Mutter in den folgenden Jahren regelmäßig: „Wenn ihr nicht fleißig lernt, wird euer Vater uns bestimmt wegschicken.“ Es war nicht wirklich verwunderlich, dass ich bereits im zarten Kindesalter begonnen hatte, mich zu sorgen. Vor lauter Kummer schlief ich oft sehr schlecht, und manchmal, wenn ich mitten in der Nacht aus wirren Träumen aufschreckte, hörte ich Vater im Nebenzimmer leise mit meiner Mutter sprechen. Seine Stimme klang sanft und gelassen. So schlief ich doch beruhigt wieder ein.
Kurz nach unserer Ankunft in Nanking wurde ich in der Volksschule angemeldet, wo ich in die erste Klasse kam. Für mein Alter war ich eher klein und viel zu dünn. Vermutlich wirkte ich wie ein richtiges Landei, und es fiel mir schwer, den Nanking-Akzent zu verstehen. Am ersten Tag hatte ich von dem, was der Lehrer uns gesagt hatte, nur so viel verstanden: „Es ist nicht erlaubt zu trinken und gleich darauf aufs Klo zu gehen!“ Und schon hatte ich große Angst, zur Schule zu gehen. Außerdem fiel es mir anfangs schwer, neue Kontakte zu knüpfen, doch mit der Zeit gelang es mir schließlich und ich fand neue Freunde unter den Mitschülern. Eines Tages schenkte mir eine dieser Schulfreundinnen einen bunten Radiergummi. Grün und rot strahlten die Farben. Ich hatte so etwas auf dem Lande noch nie gesehen und war sehr glücklich darüber. Ein paar Tage später, als sie schlechte Laune hatte, verlangte sie den Radiergummi wieder zurück. Ich fühlte mich furchtbar und war sehr traurig. Bis heute kann ich mich noch an diesen herrlichen Radiergummi erinnern. Das war auch der Grund dafür, warum ich damit anfing, auf meinen vielen Reisen schöne Radiergummis zu kaufen.
Es gibt noch eine weitere kleine Episode aus jenen Tagen, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat und mir eine unvergessliche „Lektion“ erteilte: Es geschah in jenem ersten Frühling in Nanking, als der Schnee zu schmelzen begann und die Straßen in schlammige Furchen voller Schneematsch verwandelte. Mein Bruder und ich mussten zu Fuß zur Schule gehen, die einige Gassen entfernt lag. Da es nur wenige halbwegs trockene Stellen zu beiden Seiten des Weges gab, mussten wir vorsichtig von Insel zu Insel hüpfen. Da ich ein sehr neugieriges Kind war, schaute ich ständig voller Begeisterung mal hierhin, mal dorthin, betrachtete die Umgebung und die Ereignisse zu beiden Seiten der Straßen. Es kam, wie es kommen musste. Ich latschte unversehens in ein größeres Matschloch und blieb mit meinem wattierten Schuh stecken. Mein Bruder ärgerte sich mächtig über meine Unachtsamkeit, da wir ohnehin schon spät dran waren, und scheuerte mir eine. Vor lauter Schreck fing ich an zu heulen und verlor das Gleichgewicht, so dass mein Fuß samt Schuh noch tiefer in dem Gemisch aus Schlamm und Schnee versank. Da erschien wie ein Wunder plötzlich ein Auto und hielt neben uns an. Im Wagen saß unser Vater. Auf dessen Anweisung stieg sogleich der Fahrer aus, zog mich mitsamt meinem Schuh aus dem Matsch und half mir auch noch, selbigen wieder anzuziehen. Daraufhin stieg er wieder ins Auto und die beiden fuhren davon.
Am Abend erklärte Vater uns, dass er in einem Dienstwagen gesessen hätte, und diesen dürfe man nur für Dienstangelegenheiten nutzen, genau wie die Briefbögen und das Büropapier mit dem offiziellen Dienstsiegel. Daher hätte er uns Kinder mit dem Wagen nicht zur Schule mitgenommen. Man müsse immer zwischen dienstlichem und privatem Besitz eine Grenze ziehen, außerdem wollte er verhindern, dass seine Kinder der Versuchung erliegen, vor anderen zu protzen.
Als ich sechs Jahre alt war, versohlte Vater mir den Hintern zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben. Auf die Züchtigung erfolgte die Belehrung im gleichen Tonfall wie damals bei der Geschichte mit dem Dienstwagen. Nanking sei kein Bauernland und deshalb dürfe ich nicht wie wild im Stadtpark herumpesen. Auch das Pflücken von Blumen wie vorher in Tieling wäre in der Stadt nicht erlaubt. Und wenn ich sie schon gepflückt hätte, dann dürfte ich nicht auch noch schwindeln! Zum Abschluss erklärte er mir: „Ich habe dich heute verhauen, damit du diese Lektion nie wieder vergisst!“ Diese Lektion hatte mich gewaltig beeindruckt, so dass ich es seither kaum mehr wagte, eine Lüge zu erzählen. Jede noch so kleine Notlüge, sei sie auch nur dazu gedacht, jemanden glücklich zu machen, verursacht mir bis zum heutigen Tage Gewissensbisse.
5 - Der unüberwindbare Liao-Strom
In meiner Erinnerung ist mein Vater, Chi Shiying, zeitlebens ein sanftmütiger Mensch von edlem Charakter gewesen. Er pflegte oft zu sagen, dass dies schon immer seine ureigene Idealvorstellung gewesen sei – die wahrhafte Menschwerdung erfordere von einem, sich ausnahmslos wie ein anständiger Mensch zu verhalten.
Einen Großteil seiner Kindheit hatte mein Vater, den meine Großmutter stets mitnahm, wenn sie ihrem Mann von Garnison zu Garnison folgte, in Kasernen verbracht. Mit den regelmäßigen Versetzungen seines Vaters lernte er das echte Kasernenleben kennen und hatte auch die Gelegenheit, viele unterschiedliche Dörfer im Norden des Landes zu besuchen. Mit der Zeit wurde ihm zutiefst bewusst, wie niedrig das tatsächliche Bildungsniveau der dortigen Menschen und wie engstirnig das Denken von Durchschnittsbürgern allgemein war. Sie hatten überhaupt keine Ahnung vom Schicksal ihrer eigenen Nation, ganz zu schweigen von dem, was auf sie selbst zukam. Hinter dieser Fassade der naiven Einfachheit verbarg sich häufig eine tiefverwurzelte Ignoranz, welche zum Großteil auf den Mangel an Bildung zurückzuführen war. Mein Vater war 15 Jahre alt, als er auf die Schule des Neuen Wissens in Tianjin kam. Drei Jahre lang wurde er in dieser Schule nach britischem Vorbild unterrichtet, welche es sich zum Ziele gesetzt hatte, ihre Schüler zu gebildeten Gentlemen zu formen und zu prägen. Während seiner Schulzeit hörte er oft die spöttischen Bemerkungen der Einheimischen über das primitive und grobschlächtige Gebaren der mandschurischen Fengtian-Armee unter Marschall Zhang Zuolin. Zum täglichen Ablauf an dieser Schule gehörte die frühmorgendliche Bibelstunde genauso wie das Fahnenhissen vor dem Unterricht. Die Schüler waren nicht verpflichtet, der christlichen Kirche beizutreten, dennoch wollte man die jungen Menschen zum rechten Weg dieser Lehre hinführen. So begann mein Vater, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, welche die Seele betrafen, und sich über den Sinn des Lebens Gedanken zu machen.
Als Achtzehnjähriger erhielt mein Vater ein Regierungsstipendium für das Studium in Japan. Dort erlebte er zum ersten Mal ein Land, in dem Moderne und Fortschritt Einzug gehalten hatten. Die Bürger waren im Allgemeinen einfache Leute und waren dennoch dazu erzogen worden, gesetzestreu und nach hygienischen Standards zu leben, im Großen und Ganzen machten sie einen regelrecht gepflegten Eindruck. Die Gebildeteren unter ihnen legten großen Wert auf gute Manieren, Sanftmut und Höflichkeit. Sie förderten das Streben nach Wissen und Bildung. Die absolute Loyalität zur Nation schien etwas ganz Selbstverständliches zu sein, was ganz offensichtlich die Grundlage dafür war, dass ein derartig