Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
und des Herzens geschenkt hätte wie mir. Mein einzig verbliebener Wunsch ist es, dass unsere drei Söhne meine Freude über die Vollendung dieses Buches wahrhaftig teilen mögen. Mein Leben ist erfüllt.
Juni 2009
1 „Juliu He“ wurde wörtlich übersetzt: Der Mächtige Strom. Das ist auch der chinesische Originaltitel des vorliegenden Romans.
2 „Yakou Hai“ aus dem Chinesischen wörtlich übersetzt: Bucht des Schweigens.
3 „Datun Shan“ ist der namensgebende Vulkan der Datun-Vulkane, einer Vulkanlandschaft ca. 15 km nördlich von Taipei, deren höchster Berg, Berg der Siebensterne, sich ca. 1.100 Meter über den Meeresspiegel erhebt.
4 Tamsui (Danshui) ist der gleichnamige Bezirk und Hafenstadtteil, wo der Danshui-Fluss in die Taiwan-Straße mündet, ca. 40 km nördlich von der Stadt Neu-Taipei.
Kapitel I
Heimat nur in Liedern
Vorspann
Im letzten Jahr des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden zwei Personen, die später meine Eltern werden sollten, in Dörfern geboren, die etwa zehn Kilometer voneinander entfernt in der Flussebene des Liao in der Mandschurei lagen. Das Gebiet, in das sie hineingeboren wurden, ist ein riesengroßes fruchtbares Weideland. Eigentlich sollte es die ideale Heimat der Hirten mit ihren Rindern und Schafen sein. Aber in der Geschichte Chinas sind seit 2000 Jahren unzählige Kriege auf diesem endlosen Weideland ausgetragen worden, und so kam es, dass während der Blütezeiten der Han- und Tangdynastien auch eine Vielzahl an Kriegshelden aus dem Volke der Han entstammte. Die Mongolen und die Mandschus wiederum eroberten von hier aus ganz China und gründeten die Yuan- und Qingdynastien, die mehr als 400 Jahre über das Land herrschten. Die Familie der Chi stammte aus dem Han-Volk und hatte ihren Ursprung in Taiyuan, in der Provinz Shanxi. Nachdem sie in die Mandschurei ausgewandert war, ließ sie sich im Kreis Tieling, was so viel wie Eisenberg bedeutet, in der Provinz Liaoning nieder. Unser Gutshof Fanjiatun lag in der Nähe von Hetu’ Ala. Der Überlieferung nach dort, wo „der Drache der Qing-Herrscher aufgestiegen“5 war. Die Provinzhauptstadt Shenyang (Mukden) lag nur eine Stunde Bahnfahrt von uns entfernt.
In meiner Kindheit hörte ich bei meiner Großmutter immer von älteren Verwandten, Tieling liege am Ende der Großen Mauer. Im 17. Jahrhundert, nachdem sich die Qing-Herrschaft in Peking etabliert hatte, befahl der erste Kaiser Kangxi den Weiterbau der Großen Mauer einzustellen, denn das Feindbild der Chinesen außerhalb der Langen Mauer entwickelte sich bereits zum Herrn des Hauses, und wovor sollte man sich noch schützen? Angefangen bei der ersten Qin- über die Han-, Tang- und Song- bis zur Mingdynastie hatte China immer erhebliche Grenzprobleme mit dem Norden gehabt. Am Ende der Mingdynastie gelang es den Mandschu-Armeen, in die Reichsmitte Chinas einzudringen; nicht einmal die tausende Kilometer lange Große Mauer konnte ihnen Einhalt gebieten. Zuzeiten der Späten Qingdynastie und des Anfangs der Republik China waren die drei mandschurischen Provinzen im Nordosten mit ihrem riesigen Weideland, das eine Fläche von 1.230.000 Quadratkilometern ausmachte, zwar integraler Bestandteil Chinas, aber China war durch Konflikte mit der Außenwelt und Unruhen im Inneren bereits stark geschwächt. Die Grenzzwischenfälle mit dem Nachbarn Russland häuften sich und für Japans expansionistisches Interesse an einer „Neuordnung im Kreis Groß-Ostasiens“6 bot es ebenfalls ein einladendes Ziel. Der Reichtum an natürlichen Ressourcen brachte der Mandschurei großes Unheil und verheerende Katastrophen. Doch die unnachgiebige Seele des kriegerischen Nomadenvolkes blieb am Ende unbesiegbar.
Ich wurde in eine leidvolle Zeit hineingeboren. Mein Leben war eine einzige Wanderschaft. Für mich gibt es kein heimisches Fleckchen Erde, wohin ich zurückkehren kann. Für mich existiert die Heimat nur in den von Sehnsucht ergriffenen Gesängen. Und diesen Liedern lauschte ich schon während meiner Kindheit – lauschte meiner Mutter, die häufig voller Schwermut sang. Es war immer dasselbe Lied: „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee. Er lebte als Gefangener neunzehn lange Jahre, umgeben von Eis und Schnee …“7 20 Jahre später, tausende Kilometer von der Heimat entfernt, in der subtropischen, schneefreien Stadt Taizhong auf Taiwan, unweit vom nördlichen Wendekreis des Krebses, sang sie noch immer dieses Lied, diesmal an der Wiege meines Sohnes. Da sagte ich zu ihr: „Aber Mutter, kannst du denn nichts anderes singen?“, woraufhin sie das Lied „Frau Meng Jiang klagt an der Großen Mauer“8 anstimmte, das von ihrem großen Schmerz über den bitteren Verlust des Ehemannes handelte.
Mutter war 19 Jahre alt, als sie mit Vater verheiratet wurde und zur Familie Chi kam. Einen Monat später ging Vater bereits zum Studium ins Ausland. Er kam nur einige wenige Male während der Sommerferien nach Hause. Unmittelbar nach seiner endgültigen Rückkehr aus dem europäischen Ausland schloss er sich General Guo Sunglings Revolutionsbewegung in der Mandschurei an. Er wurde schließlich ins Exil verbannt. Etliche Jahre lang war es ihm verboten, nach Hause zurückzukehren und seine Familie zu besuchen. Während all dieser Zeit musste meine Mutter sich und uns Kinder ganz allein durchbringen. Die schiere Hoffnungslosigkeit des langen Wartens hatte tatsächlich sehr viel Ähnlichkeit mit der verzweifelten Lage des Han-Beamten Su Wu und dessen historisch belegter Verbannung. Während all der langen Jahre konnte auch er nichts anderes tun als zu warten und dafür zu sorgen, dass aus seinen Lämmern Schafe heranwuchsen.
Als Mutter bereits 30 Jahre alt war, wurde es ihr endlich gestattet, die drei Tage und zwei Nächte dauernde Bahnfahrt über den Shanhai-Guan9, einen weitläufigen Berg- und See-Pass, ins Landesinnere zu unternehmen, um doch noch ein gemeinsames Leben mit unserem Vater zu beginnen. Von nun an begleitete sie ihren Mann von Ort zu Ort. Dabei entfernten sie sich immer weiter von der Heimat. Es verwundert also kaum, dass Mutter wirklich kein anderes Wiegenlied kannte außer „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee“.
Noch bevor ich mein 20. Lebensjahr erreicht hatte, war ich bereits vom nordöstlichen Abschnitt des Liao-Flusses bis nach Südchina gewandert, von dort aus am Jangtse-Jiang 10 und Min Jiang11 entlang Richtung Südwesten bis nach Dadu He12. In dem acht Jahre andauernden Widerstandskrieg gegen Japan existierte meine Heimat für mich weiterhin nur in den Liedern. Unzählige Menschen aus allen Himmelsrichtungen Chinas waren nach Chongqing13 unterwegs, und sie sangen gegen ihre wachsende Verzweiflung an, während sie auf der Suche nach Rettung jeden noch so abgelegenen Fluchtweg probierten, immer wieder hilflos umherirrten und sich selbst durch knietief verschlammte Pfade kämpften, oftmals inmitten der Bombenhagel und begleitet vom Donnern der Kanonen. Was waren das für Lieder, die sie sangen? Was waren das für Lieder, die sie nicht aufgeben ließen?
Es war das Lied:
„Zehntausend Meilen lang ist die Große Mauer,
Zehntausend Meilen lang …
Jenseits der Mauer, dort liegt meine Heimat …“14
Doch wie sollte ich mir eine solche Heimat vorstellen?
„Meine Heimat liegt im Nordwesten am Sungari-Fluss …
unendlich sind dort die saftigen Weiden,
unzählig die Herden von Vieh darauf …“
Während wir diese Lieder sangen, sehnte sich ein jeder nach dem eigenen Heimatfluss, der einem dann so unbeschreiblich schön vor Augen schwebte, wie der Yongding-Fluss, der Gelbe Fluss, der Han, der Huai, der Gan, der Xiang, der Gui, der Yi oder all die anderen herrlichen Flüsse des Landes. So begleitete mich meine Heimat in den sich stets fortbewegenden Strömungen:
„Unter meinem Holzfenster rauschet Nacht für Nacht der Fluss dahin, sein Schluchzen jedoch bleibt, es flutet mir durch Herz und Seele!“
1 - Der Anfang
Ich wurde am Tag des Laternenfestes15 im Jahre 1924 geboren. Um diese Jahreszeit herrscht in meiner Heimat, der Provinz Liaoning, eine strenge Kälte mit Temperaturen von minus 20 bis minus 40 Grad Celsius. Meine Mutter war während