Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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selbst war von einer Schwiegertochter zur Hausherrin geworden, und deshalb wusste sie nur zu gut um die zwingende Notwendigkeit einer strengstens eingehaltenen Hausordnung. Auch wenn sie meine Mutter stets mit Güte behandelte und ihr niemals Steine in den Weg legte, so waren und blieben Regeln eben Regeln! Jedoch an diese erinnerte meine Großmutter stets mit sanfter Stimme. Obwohl wir eine große Dienerschaft besaßen, war es die Aufgabe der Schwiegertochter, der Mutter ihres Gatten das Essen stehend zu servieren und in respektvollem Abstand bei Tisch zu warten, bis diese ihre Mahlzeit beendet hatte. „So gehört es sich für eine Familie gehobenen Standes“, meinte Großmutter. Für mich hegte sie eine besonders herzliche Zuneigung, war sie es doch gewesen, die mir das Leben gerettet hatte. Ich kann mich noch erinnern, dass sie, als ich etliche Jahre später ins Xishan-Sanatorium in Peking eingeliefert werden musste, so bitterlich um mich weinte.

      Die Heimkehr des Großvaters war immer ein riesiges Ereignis. In jenen Tagen war er bereits ein mächtiger Offizier, daher standen vor unserem Haustor immer vier Soldaten mit Mauser Pistolen auf Wachposten.In Bezug auf Garderobe und Tischmanieren stellte Großvater hohe Ansprüche. Wenn es ihm nicht passte, explodierte er gleich. Die ganze Familie hielt so lange den Atem an, bis er wieder fort war. Mein Vater behauptete, Großvater sei durchaus offen für modernes Gedankengut gewesen, aber da er eine Person von solch großer Autorität war, habe es einfach niemand gewagt, mit ihm zu diskutieren.

      Eines Tages, kurz nach meiner Geburt, kam Großvater nach Hause. Er blickte nur flüchtig auf den in Decken gehüllten Säugling, der auf den warmen Kang gebettet lag. Dann nahm er mit bedeutungsschwangerem Gebaren im Hauptsaal Platz und verlangte: „Bringt mir mal dieses Kätzchenmädel, damit ich es auch richtig sehen kann!“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erweckte dieser Winzling, der kaum 2500 Gramm wog und es nicht einmal wert war, getragen zu werden, seinen Beschützerinstinkt. Er befahl daraufhin kurz und bündig: „Niemand darf meiner Enkelin etwas zu Leide tun! Das ist mein letztes Wort!“ Dieser Befehl galt insbesondere meinem älteren Bruder, seinem erstgeborenen und recht stämmigen Enkelsohn. Obwohl wir in einem Zeitalter lebten, da Jungen mehr zählten als Mädchen, so waren die Chis doch eine recht kleine Familie, und deshalb wurde jedes Kind als Schatz betrachtet. Durch Großvaters „militärischen Befehl“ war mein Stellenwert in der Familie deutlich gestiegen.

      Während seiner Zeit beim Militär erhielt Großvater zum 40. Geburtstag ein hübsches Geschenk: eine zierliche und anmutige Konkubine im Alter von 20 Jahren. Jedes Mal, wenn seine Truppe versetzt wurde oder er in den Krieg zog, schickte er sie zu uns nach Hause, wo sie von Großmutter mit Freundlichkeit und Fürsorge aufgenommen wurde. Nur wenige Jahre später verstarb die junge Frau an den Folgen einer Tuberkulose und hinterließ einen Sohn, Chi Shihao. Kleiner Onkel Shihao war in meinem Alter, und so spielten wir als Kinder recht häufig miteinander. Mein großer Bruder und meine Vettern liebten es, ihn an der Nase herumzuführen. Und auch mir spielten sie gern Streiche, das machte ihnen einfach einen Heidenspaß. Kleiner Onkel hatte trotzdem das Glück, unter der schützenden Hand meiner Großmutter aufzuwachsen, denn sie erzog ihn stets mit viel Liebe. Nachdem die Japaner Nordchina besetzt hatten, wurde er als Absolvent der Mittelschule umgehend zum Wehrdienst in einer der Hilfstruppen für die japanische Armee eingezogen. Eines Tages, während er in seiner japanischen Uniform eine schmale Dorfstraße entlanglief, schoss ihm jemand in den Rücken. Vermutlich war dieser Jemand ein antijapanischer Widerstandskämpfer. Kleiner Onkel starb alleingelassen auf dieser abgelegenen Dorfstraße, was unserer Großmutter eine kaum zu verkraftende Trauer zufügte.

      Meine beiden Tanten waren wohlauf, nachdem sie geheiratet hatten. Die ältere von beiden, Tante Chi Jinghuan, welche wir „Vierte Tante“ nannten, entsprechend ihrer Stellung in der Familie, folgte ihrem Mann Shi Zhihong nach Japan. Sie durfte dort sogar studieren, denn sie war eine wirklich intelligente und zudem sehr mutige junge Frau. Ab 1933 organisierte mein Vater den antijapanischen Widerstand in Nordchina und führte diesen dann einige Jahre lang an. Seit dieser Zeit bis kurz vor dem Sieg im Antijapanischen Krieg 1945 hat Vierte Tante regelmäßig Untergrundkämpfer am Bahnhof von Peking und anderen Treffpunkten abgeholt oder verabschiedet. Jedem dieser Mitglieder des Widerstands stellte sie sich mit ihrer Tarnbezeichnung als „Kusine“ vor. Nach einiger Zeit, als sie für das Bahnhofspersonal schon ein bekanntes Gesicht darstellte, trat einer von ihnen an sie heran und fragte: „Wie kommt’s denn, dass Sie so viele Vetter haben?“ Natürlich wusste man, dass an der Sache etwas faul sein musste, da damals jedoch alle eine Abneigung gegen die Japaner hegten, mochte niemand sie denunzieren. Zudem hielt sie meist auch noch einen Säugling im Arm und verteilte äußerst diskret Geschenke zu Neujahr und an anderen wichtigen chinesischen Feiertagen. Jahre später auf Taiwan sprachen etliche dieser „Vettern“, denen ich begegnete, noch gern über meine Vierte Tante. – Ihre Erzählungen waren voller Dankbarkeit und Bewunderung für diese tapfere Frau. Ich teilte ihre Empfindungen, denn als der Große Krieg ausbrach, waren die Ehemänner beider Tanten gezwungen, das von den Japanern besetzte Peking zu verlassen, da sie schon früh an antijapanischen Aktionen teilgenommen hatten. Also flohen sie gemeinsam mit uns nach Chongqing, wo sie tragischerweise binnen kurzem schwer erkrankten und dann verstarben, während die beiden Tanten und ihre sieben Kinder bei unserer Großmutter in Peking blieben. Sie kümmerten sich redlich weiter um ihre Mutter, bis sie im Alter von 64 Jahren an Krebs verstarb.

      Bereits im ersten Kriegsjahr hatten wir flüchten müssen und die damals unabhängige Hafenstadt Hankou erreicht, nur 20 Tage bevor Nanking (Nanjing) den Japanern in die Hände fiel. Nach kurzer Verschnaufpause brachen wir erneut auf und gingen nach Xiangxiang in der Provinz Hunan, wo wir uns ein halbes Jahr aufhielten. Dann machten wir uns auf den beschwerlichsten Teil unserer tausende von Kilometern langen Fluchtreise nach Chongqing, die uns unter widrigen Umständen über die Xiangqian-Straße, welche die Provinzen Hunan und Guizhou miteinander verband und schließlich quer durch die Provinz Sichuan führte. In Chongqing verbrachten wir dann die restlichen Kriegsjahre. Dort erreichte uns dann auch, mit einem Jahr Verspätung, die Nachricht von Großmutters Tod. Vater hat es zeitlebens von ganzem Herzen bedauert, dass er ihr während der letzten Stunden nicht zur Seite hatte stehen können.

      Mein Großvater mütterlicherseits, Pei Xincheng, war Han-Chinese und hatte eine Mongolin geheiratet. Sie lebten in Xinchengzi (Neustadt), einem kleinen Dorf etwa zehn Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Großvater war ein wohlhabender und sehr einflussreicher Mann. Er betrieb eine Mühle und besaß zudem viele Ländereien. Im Jahre 1904 begleitete er den von der Präfektur entsandten Bildungsinspektor, Herrn Jiang, während dieser die Dorfschule von Fanjiatun besichtigte. In einer der Klassen wurde gerade Ethik unterrichtet, als einer der kleineren Schüler den Lehrer fragte: „Wieso führen die Japaner und die Russen Krieg in unserer Heimat?“ Es war die erste Begegnung meines Großvaters mit meinem Vater. Die zwei Besucher waren von Vater und seinem Vetter Shichang, welcher auch Zweiter Bruder genannt wurde, zutiefst beeindruckt. Erst kurz zuvor hatte Vater aus einiger Entfernung das Trommelfeuer der Artillerie in der Schlacht am Südberg erlebt, während die Russen zerstreut wurden und den siegreichen Japanern diese strategisch bedeutsame Stellung überlassen mussten. Bevor es dann zu einem endgültigen Waffenstillstand kam, hatten die Japaner in unserem Gutshof Quartier bezogen. Nach knapp zwei Monaten war mein Großvater väterlicherseits mit seiner Geduld am Ende, er beorderte seine eigenen Soldaten zu uns nach Hause, woraufhin die Japaner gezwungenermaßen ihre Zelte


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