Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
wo ihr Waffen zur Verfügung standen.
Unzählige Jugendliche flüchteten nach Peking und Tianjin, um sich den Umerziehungsmaßnahmen der Japaner in den von ihnen besetzten Gebieten zu entziehen. Die einen fanden Zuflucht bei Verwandten und Freunden, die anderen zogen von Ort zu Ort auf der Suche nach einer sicheren Bleibe. Die Nationalregierung verlor den Überblick über die Zustände im Nordosten und ergriff auch keine Maßnahmen, um irgendeine Lösung zu finden. Meinem Vater wurde klar, dass er selbst in die Mandschurei gehen musste, um sich einen Eindruck von der Lage vor Ort zu verschaffen – hautnah in der Höhle des Löwen. Es war ein riskantes Unterfangen, ein Akt der Verzweiflung geradezu, bei dem mein Vater alles würde in die Waageschale werfen müssen, was ihm zur Verfügung stand. Doch er war fest entschlossen und machte sich, all seinen Mut zusammennehmend, auf den Weg, oder wie es das leidenschaftliche Volk der Mandschu nannte: „jiazhe naodai gan“ – Den Kopf untern Arm klemmen und los geht’s!
Zuerst kündigte er seinen Posten in der KMT-Zentrale und reiste dann mit der gefälschten Identität eines in Deutschland ansässigen Geschäftsmannes in aller Heimlichkeit nach Shanghai. Dort schiffte er sich als Herr Zhao nach Kobe, dem größten Seehafen Japans, ein und dann ging es weiter auf dem Seeweg ins russische Wladiwostok. Ohne weitere Verzögerung ging es dann mit dem Zug, der alle zwei Tage fuhr, über die Grenzstadt Suifenhe in die Provinzhauptstadt von Helongjiang nach Harbin. Dort bezog er Quartier in einem von Weißrussen betriebenen Hotel und versuchte Kontakt zu den Verantwortlichen einer Untergrundorganisation aufzunehmen. Es sollte nicht lange dauern, bis er sich mit einigen der Kampfgefährten traf, denen es nur unter größten Schwierigkeiten gelang, die Stellung in Jilin zu halten. Zu diesen gehörten unter anderem Xu Zhen, der Direktor des regionalen Fernmeldeamtes, Zang Qifang, der Direktor der Landesverwaltung in Liaoning, und Zhou Tianfang, der Leiter des Amtes für Bildung und Erziehung. Endlich war es ihm möglich, sich ein genaueres Bild von den gegenwärtigen Verhältnissen in seiner Heimat nach dem Mukden-Zwischenfall zu machen: Die Provinz Liaoning war mittlerweile fast vollständig von Japanern besetzt. Freiwilligen Widerstandstruppen wie der Yiyong-jun, der „Armee der Rechtschaffenen und Mutigen“, war es lediglich möglich, aus dem Untergrund heraus zu agieren, und das auch nur, weil einige ihrer Anführer in ihrer offiziellen Funktion als höhere Beamte ein gewisses Maß an Deckung gewährleisten konnten. Doch der Widerstand war insgesamt viel zu schwach. In Changchun, der Hauptstadt von Jilin, konnte der bewaffnete Widerstand unter Han Chinglun und Gai Wenhua, welche ihre Freiwilligentruppe bereits vor den entscheidenden Ereignissen zusammengestellt hatten, zumindest einen Monat lang den aggressiven Vormarsch der japanischen Truppen nach Norden verzögern, doch schließlich verloren auch sie den Kampf. Gai und sieben weitere Anführer wurden nach ihrer Gefangennahme umgehend enthauptet. Ihre Köpfe wurden zur öffentlichen Abschreckung über dem Stadttor von Shenyang aufgehängt.
Mein Vater reiste von Harbin aus weiter in den Nordosten bis nach Hailun, der provisorischen Hauptstadt der Provinz Heilongjiang, wo er die Führer der schlagkräftigsten Widerstandsmilizen gegen die japanischen Invasoren, Wang Binzhang, Wang Yuzhang und drei weitere Brüder traf. Diese organisierten für ihn ein geheimes Treffen mit dem kurzfristig ernannten Gouverneur und Oberbefehlshaber von Heilongjiang, Ma Zhanshan, seines Zeichens General der Fengtian-Armee, und Su Bingwen, einem ehemaligen General der chinesischen Streitkräfte, welche sich nach einer Meuterei dem Widerstandstrupp angeschlossen hatten und fortan Nationale Befreiungsarmee Heilongjiang nannten. Von ihnen erfuhr er, wie verzweifelt die Lage der Widerstandstruppen tatsächlich war. Es mangelte an Ausrüstung, Munition und Verpflegung – also eigentlich an allem. Die Überreste der von dem jungem Marshall Zhang befehligten Armee hatten bereits jeglichen Widerstand aufgegeben, und auch die Kommunikation zu der tausende von Kilometern entfernten Nationalregierung war inzwischen abgebrochen. Aufgrund der harschen Witterungsbedingungen und mit wenig mehr als ihren bloßen Händen ausgestattet war es den Soldaten nicht länger möglich, sich allein mit patriotischer Leidenschaft, sturer Willenskraft und heißblütiger Kampfbereitschaft gegen die japanische Kwantung-Armee zu behaupten. Obwohl die Situation vollkommen hoffnungslos erschien, gelang es meinem Vater, die Generäle davon zu überzeugen, unter keinen Umständen zu kapitulieren. Er riet ihnen, die Kämpfer nach Hause zu schicken, damit der Feind keine Gelegenheit bekäme, die Männer in ihre eigenen Truppen zu zwingen, und stattdessen würde die Saat des Widerstandes im gesamten Land gestreut werden. Das erschien ihm sinnvoller als ein heldenhafter, doch gleichermaßen nutzloser Opfertod. Nachdem mit der Provinz Heilongjiang auch die letzte Bastion der Defensive gefallen war, organisierte er verschiedene Fluchtmöglichkeiten über zum Teil unvermeidbare Umwege, wie zum Beispiel für General Su, der über Deutschland nach Shanghai reisen konnte. Oder General Ma, der den beschwerlichen Weg durch die Berge und einen Pass in der großen Mauer auf sich nehmen musste, um bis nach Nanking zu gelangen. In Nanking und Shanghai wurden sie als Nationalhelden gefeiert, und die Legenden, die sich um ihr Heldentum rankten, sollten die Kampfmoral der Bevölkerung noch lange Zeit stärken und sie zum Widerstand gegen Japan mobilisieren.
Während dieser geheimen Mission in der Mandschurei hatte mein Vater zahlreiche Kontakte zu den örtlichen Widerstandsorganisationen geknüpft, doch für sich selbst sah er zu jenem Zeitpunkt keine Möglichkeit mehr, dort weiterhin effektiv etwas bewirken zu können, und deshalb kehrte er wieder nach Nanking zurück. Nach seiner Ankunft wurde er von General Chiang Kai-Shek mit dem Vorsitz der kurz zuvor von der Regierung gegründeten „Dongbei Xiehui“, der Nordostchinesischen Gesellschaft mit Sitz in Shanghai betraut. Somit übernahm mein Vater die Verantwortung für sämtliche Verbindungen zwischen der chinesischen Nationalregierung und den Untergrundorganisationen in der Mandschurei. Vorrangiges Ziel war es, möglichst umfangreiche und sichere Kommunikationswege aufrechtzuerhalten. Des Weiteren oblag es ihm in seiner Position, langfristig orientierte Strategien und politische Konzepte im Kampf gegen Japan zu entwickeln und Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge aus der Mandschurei bereitzustellen. Mein Vater versprach dem Generalissimus, sein Bestes zum Wohle der Landsleute zu geben und niemals in seinen Bestrebungen nachzulassen.
7 - Köpfe über dem Stadttor
Meine Großmutter und meine zwei Tanten waren mittlerweile schon nach Peking umgezogen. Kurz zuvor hatte mein Vater bereits einen Freund mit der Aufgabe betraut, meine Mutter, meinen Bruder und mich von Nanking aus dorthin zu begleiten, damit sie ihre Schwiegermutter, so wie es die Tradition erforderte, pietätvoll und mit dem gebührenden Respekt, „betreuen“ konnte. So zumindest ließ er es im Freundeskreis verlautbaren, doch insgeheim fungierte seine Familie als Tarnung für seine verdeckten Tätigkeiten in den nordchinesischen Gebieten, damit er ohne Misstrauen zu erregen seine Mission weiterführen konnte. Nach der vollständigen Übernahme der Mandschurei durch die Japaner hatte mein Vater sich dazu entschieden, so lange wie möglich im Nordosten zu bleiben, damit er zu möglichst vielen antijapanischen Untergrundorganisationen Kontakte knüpfen konnte. Er wollte sein Möglichstes tun, um zwischen den vielen versprengten Gruppen zu vermitteln und die Widerstandskämpfer auf diese Weise dabei zu unterstützen, möglichst schnell Herr der Lage zu werden. Viel schneller jedoch, als seine Bemühungen Fortschritte machten, erkannte er, dass Peking auch kein sonderlich sicherer Ort mehr war. Überall in der Stadt schnüffelten die Spitzel der Japaner herum und ihm fehlten die Kontakte, um unseren Schutz zu gewährleisten. Also veranlasste er, dass meine Mutter und ich in die 140 Kilometer entfernte Hafenstadt Tianjin umzogen, während mein Bruder in Peking bei Großmutter blieb. Er sorgte dafür, dass wir im französischen Konzessionsviertel der Stadt eine Bleibe zugeteilt bekamen. Von nun an gab es eine neue Rolle im Leben meiner Mutter, die sie auszufüllen hatte. Unversehens sah sie sich mit der Aufgabe konfrontiert, die vielen Familienangehörigen der Untergrundkämpfer, welche aus allen Teilen der nordöstlichen Gebiete ins unbesetzte China flohen, sowie zahlreiche Schüler und Studenten aus der Mandschurei, die schließlich in Tianjin landeten, zu betreuen. Der Dienst an ihrem Heimatland hielt sie derart auf Trab, dass sie nur noch ab und an die Zeit fand, nach Peking zu fahren und bei Großmutter nach dem Rechten zu sehen. Endlich gab es eine Rolle in ihrem Leben, das bis dahin nur die der Ehegattin, Mutter und Hausfrau gekannt hatte, die ihrem Dasein einen tieferen Sinn verlieh und welche sie von Herzen gern übernahm!
Ich kann mich noch sehr lebhaft an den Tag erinnern, als wir Besuch von einer gewissen Frau Gai und ihren zwei Kindern bekamen, deren Ehemann und Vater ein patriotischer Untergrundkämpfer in unserer Heimat war. Plötzlich hörte ich heftiges Schluchzen aus dem