Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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„Warum hängt der Kopf unseres Papas über dem Stadttor?“

      Im Jahr 2001, während der Eröffnungsfeierlichkeiten der Chi Shiying Gedenkbibliothek an der Zhongshan-Oberschule in Shenyang, wurde mir ein Bildband überreicht, welcher den Titel „Vergesst niemals den 18. September“ trug. In diesem Buch fand ich ein großes Foto, dass eine Reihe von blutgetränkten Köpfen über einem alten Stadttor zeigte. Es war eine erschreckend scharfe Aufnahme, auf der man die weit aufgerissenen, hasserfüllten Augen und die gefletschten Zähne der Toten sehen konnte, so dass man noch immer die grimmige Wut, die auf ewig in den Gesichtern eingebrannt schien, beinahe am eigenen Leib zu spüren vermochte. Den Zorn über die Willkür dieses blutigen Abschieds von der geliebten Familie und den Verlust der eigenen Heimat nahmen sie mit sich, meine Kindheitserinnerungen jedoch waren mir plötzlich wieder gegenwärtig wie seit langem nicht mehr und sollten mir seither unauslöschlich vor Augen stehen.

      Mit der Zeit stellte sich heraus, dass auch die ausländischen Konzessionsviertel keine absolute Sicherheit bieten konnten. Zudem war der Familienname Chi recht auffällig und weckte häufig das Interesse der Leute. Bis dahin war es nur mein Vater gewesen, der für seine zahlreichen Reisen unterschiedliche Identitäten annahm, doch plötzlich mussten auch wir von Zeit zu Zeit unseren Namen wechseln. Am häufigsten hießen wir Wang oder Xu. Jedes Mal, wenn wir unseren Nachnamen änderten, musste ich auch die Schule wechseln, damit der Schwindel nicht aufflog. Für meinen Vater gehörte das zu seinem beruflichen Alltag, und deshalb irritierte es ihn nicht im Mindesten, dass er mal mit einer Frau Wang und kurz darauf mit einer Frau Xu verheiratet war, je nachdem, wie sich Mutter gerade nannte. Für mich hingegen war es total verwirrend, und manchmal, bevor ich zur Schule ging, musste ich noch einmal nachfragen: „Mama, wie heiße ich heute?“

      Eines Tages, als ich gerade mal wieder Wang Bang-Yuan hieß, besuchte ich die dritte Klasse der Liaoxikai-Grundschule in Tianjin. Meine besorgten Eltern wagten es nicht, mich in solch einer großen Stadt unbeaufsichtigt auf den Weg zur Schule zu schicken, daher heuerten sie den Fahrer eines gelben Rikscha-Taxis an, der mich jeden Tag von unserem Zuhause abholte und nach dem Unterricht auch wieder dort absetzte. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass, wenn ich in dieser Rikscha saß, manchmal ein paar der frecheren Mitschüler hinter dem Taxi herliefen und gehässig „Wangba Yuan, Wangba Yuan!“ riefen. Diese Entstellung meines vermeintlichen Namens zu „Yuan, die Schildkröte“.brachte mich derart auf die Palme, dass ich vollkommen in Tränen aufgelöst war, als ich zuhause ankam. So befremdlich es für mich als Kind auch war, dass wir dauernd unseren Namen wechselten, so war ich doch das eine Mal heilfroh, als ich bald darauf wieder Xu hieß und die Schule wechseln durfte.

      In jenen Tagen, da um uns herum überall Gefahren lauerten und wir andauernd umziehen mussten, hat meine Mutter nicht mehr geweint. Sie war längst nicht mehr die schwermütige, tränenselige Frau von einst. Diese Tage voller Unsicherheit schweißten meine Eltern zusammen, und so akzeptierte sie nicht nur die schwere Bürde der Verantwortung, sondern war regelrecht glücklich, denn nun gab es endlich jemanden, mit dem sie ihren Kummer teilen konnte. Mein Vater teilte wiederum seine Sorgen mit ihr, und so fühlte sie sich endlich nicht mehr einsam. Dank ihrer selbstlosen Hingabe und ihrer liebevollen Fürsorge wuchs ich stets mit dem Gefühl auf, vollkommen sicher und behütet zu sein. Ich fühlte mich einfach geborgen und war glücklich. Viele Jahre später, kurz bevor sie im Alter von 83 Jahren verstarb, unterhielten wir uns einmal über das hart erkämpfte Recht der Frauen in der modernen Zeit, sich selbst die Partner aussuchen zu können. Ich fragte sie, ob sie sich heute, da sie jetzt die freie Wahl hätte, auch für Vater entscheiden und ihn wieder heiraten würde. Daraufhin lächelte sie mich an und schwieg. Einige Tage später antwortete sie mir dann doch noch ganz unvermittelt: „Ja, ich würde ihn wieder heiraten. Mag sein, dass er nicht der geborene Familienmensch ist, aber er ist ein Mann von Ehre. Und er war stets ein sanftmütiger und aufrichtiger Mensch.“

      Als wir von Tianjin wieder nach Nanking umgezogen waren, mieteten wir zunächst ein kleines, relativ neues Haus in der Fuhou-Gang-Straße, benannt nach dem einstigen Wachturm der Kaiserin Fu. Dahinter erstreckte sich weithin Brachland bis zum Xuanwu-See. Unserem Haus gegenüber lag ein großes Grundstück, auf dem viele hochgewachsene Japanische Pagodenbäume standen. Im Frühsommer trugen diese eine Fülle von kleinen, duftenden Blüten, die wie hellgelbe Perlen aussahen, welche man auf lange Schnüre gezogen hatte. Schauten wir aus unserem Fenster, so schien es, als würden Wolken aus Perlen die imposanten Bäume umschweben. Ich liebte diese Blüten genauso wie die Pfingstrosen, denn ihr Anblick und ihr Duft lösten in mir immer sofort das größte Glücksgefühl aus, das ich kenne – das Gefühl des „Zuhauseseins“. Jeden Morgen lief ich von meinem neuen Zuhause aus, gemeinsam mit meiner Klassenkameradin Duan Yonglan und ihrem Cousin Liu Zhaotian, neben den Schienen der gerade erst fertiggestellten Südchinesischen Jiangnan-Eisenbahnlinie entlang, bis zur Trommelturm-Grundschule. Links und rechts des Weges blühten überall der Löwenzahn und viele andere bunte Wildblümchen.

      Kurz nach Beginn der Sommerferien wurde meine Schwester geboren. Aus Sehnsucht nach unserer Heimat in der Provinz Liaoning gab Vater ihr den Namen Ningyuan, was so viel wie „Tochter von Liaoning“ bedeutet. Sie war ein gesunder, fröhlicher und nicht gerade magerer Säugling. Tagsüber war sie immer gut gelaunt, aber nachts weinte sie sehr oft, und vor allem weinte sie wirklich sehr laut. Mutter musste dann immer schnell aufstehen, sie auf den Arm nehmen und ins Nebenzimmer gehen, damit unser Vater nicht im Schlaf gestört wurde. Unser neues Kindermädchen, Frau Li, wollte gern behilflich sein und bat ihren Bekannten, ein daoistisches „Edikt des Himmelsvaters“ zu kalligrafieren, das in ihrer Heimat Fengyang in der Provinz Anhui als schnell wirkendes Wundermittel gegen unruhige oder schreiende Kleinkinder galt. Der „Zauberspruch“ lautete:

      Allmächtiger Gebieter des Himmels,

      Oh, Schöpfer der Erde von unendlicher Macht,

      In unserem Heim ein Kindelein,

      Das weinet bitterlich die ganze Nacht.

      Dreimal so sprechet, oh ihr Edlen,

      Ihr Passanten, dieses Wunschgebet,

      Alsbald so schlafe ein, bis hell erstrahlend

      Mein Bruder erhielt daraufhin von ihr die Anweisung, den Zettel mit der Kalligrafie an einen Laternenpfahl in einer belebten Straße zu kleben, als er am nächsten Morgen zur Schule ging. Neugierig, wie wir waren, und da wir jeden Tag an dem Zettel vorbeigehen mussten, versteckten wir uns natürlich jedes Mal für eine Weile in unmittelbarer Nähe und warteten voller Spannung darauf, ob wirklich jemand davor stehen bleiben und das Edikt dreimal rezitieren würde. Wir hatten ziemlich große Angst, dabei von Vater erwischt zu werden, denn wir wussten genau, dass er dann wütend werden würde. Unser Vater hatte immer betont, dass eines der Ziele, die es im Zuge seiner Arbeit für die Nationalregierung hauptsächlich zu erreichen galt, darin bestand, das Land vom weitverbreiteten Phänomen des Aberglaubens sowie obskuren Sitten und Gebräuchen zu befreien.

      Ich war neun Jahre alt, als ich die Trommelturm-Grundschule in Nanking besuchte. Die Stadt war erfüllt von einem neuen Geist, denn unsere Regierung hatte inzwischen die „Bewegung für ein Neues Leben“ eingeführt, um die chinesische Gesellschaft von ihrer Rückständigkeit zu befreien und in eine zeitgemäße Zivilgesellschaft umzuwandeln. Sämtliche Schüler der Grund- und Volksschulen wurden mobilisiert, um die auf Papierstreifen gedruckten Leitsätze in der ganzen Stadt anzubringen. Quasi über Nacht schienen Nankings Straßen mit farbigen Spruchbändern geschmückt worden zu sein und von überall her sprangen einen die zahlreichen Parolen an, etwa „Spucken verboten!“ oder „Reißt euch zusammen und strebt vorwärts!“ Aus heutiger Sicht betrachtet klingen solche Aufforderungen absurd und lächerlich. Niemand würde so etwas heutzutage noch öffentlich plakatieren, aber ich erinnere mich noch gut daran, als wir nach Taiwan kamen, da erschien das Ziel, der Bevölkerung das „Auf-die-Straße-Spucken“ abzugewöhnen, noch in sehr weiter Ferne zu liegen. Auch damals noch waren Parolen wie „Sei fleißig und sparsam!“, „Finger weg vom Alkohol!“, „Glücksspiel verboten!“ und „Nieder mit dem Aberglauben“ allgegenwärtig. Und derer gab es noch viele mehr.

      Zwischen 1928 und 1937 war China, mit Nanking als Hauptstadt, noch voller Hoffnung. Überall wurde gebaut


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