Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan

Der Mächtige Strom - Chi Pang-yuan


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welche „Binnensee“ zu einer der schönsten Wohngegenden von Taipei machten. Mit ihrem Umzug begann eine Phase, da wir uns sehr regelmäßig sahen und viel miteinander sprachen. Wir verbrachten eine überaus schöne Zeit zusammen, und vielleicht waren es sogar unsere glücklichsten gemeinsamen Tage. Niemals zuvor waren Vater und ich uns so nahe gekommen. Eines Tages begleitete er mich nach dem Abendessen zur Bushaltestelle am See. Während wir gemeinsam dort saßen und auf den Bus warteten, erzählte ich ihm von meiner Zeit im Westberg-Sanatorium und welche Nachwirkungen der dortige Aufenthalt für mich hatte. Ich war furchtsam geworden und hatte seither große Angst vor der Dunkelheit. Diese Angst begleitet mich noch bis heute. „Es war grausam von euch, mich in das Sanatorium auf diesem gottverlassenen Berg zu bringen und dort mutterseelenallein zurückzulassen.“ Vater seufzte tief und sagte: „Ach Kind, in jener Zeit wusste man einfach zu wenig über Kinderpsychologie, und ich war so viele Jahre lang bis über beide Ohren mit der Revolution beschäftigt. Wir lebten doch alle in ständiger Lebensgefahr und dachten über vieles einfach nicht mehr nach. Ich ahnte nicht einmal, dass ein Kindskopf so kompliziert sein könnte. Dein Aufenthalt im Sanatorium hat mich ein Drittel meines Monatsgehalts gekostet, und ich hoffte einfach nur, dass du wieder gesund werden würdest. Alle unsere Verwandten und Freunde meinten deshalb, dass ich ein guter Vater sei.“ So saßen wir beide eine ganze Weile schweigend nebeneinander und wussten einfach nichts mehr zu sagen. Erst das laute Brummen des Busses schreckte uns aus unseren Gedanken. Meine Worte hatten Vater sichtlich überrascht, und ich bin mir sicher, dass er sich selbst daraufhin die Frage gestellt hat: „Hätte ich damals schon davon gewusst, was hätte ich dann anders gemacht?“ Ich war mir jedoch sehr bewusst, dass es ein großes Glück für mich bedeutete, solche Eltern zu haben, die mich liebevoll aufgezogen und die sich mit allen Kräften und in jeder Minute bemüht hatten, mir auf dieser Welt ein gutes Leben zu ermöglichen!

      Das Sanatorium war nicht darauf eingestellt, Kinder zu betreuen, daher gab es für mich kaum Alternativen, die Langeweile zu vertreiben. Die einzige Möglichkeit der Beschäftigung während meines einjährigen Aufenthaltes war das Lesen von Büchern. Ich las sehr, sehr viele Bücher, und mit der Zeit wurde aus einer Verlegenheitsbeschäftigung allmählich eine Art Hobby, nein mehr noch, das Lesen entwickelte sich für mich sogar zu einer Leidenschaft, der ich zeitlebens nachgehen würde. Oh ja, je mehr ich las, desto stärker schien diese unsichtbare Kraft zu werden, mit der mich Bücher wie ein Magnet anzogen. Manchmal, wenn ich an diese Zeit zurückdenke und mir auch wieder meiner tief verwurzelten Verbundenheit zum gedruckten Wort bewusst werde, dann denke ich, dass es beinahe wie eine göttliche Fügung des Schicksals war: Aus dem kurzen „Unglück“ des Aufenthaltes in diesem fürchterlichen Sanatorium wurde die Freude meines Lebens!

      Ich erinnere mich noch daran, dass ich kurz nach meiner Entlassung aus dem Westberg-Sanatorium eine chinesische Ausgabe von Adam Smiths „Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seines Wesens und seiner Ursachen“ entdeckte. Ich fand dieses umfangreiche Werk im Bücherregal eines Onkels, der gerade aus dem Ausland zurückgekehrt war, und verschlang es geradezu, ohne wirklich zu begreifen, was ich da las. Dennoch bereitete mir die Lektüre große Freude und ich fühlte mich einfach unheimlich wohl dabei. Ich las so ziemlich alles, was mir zwischen die Finger kam, denn das Lesen stillte meine ungeheure Neugier auf das Leben und die Welt. Natürlich las ich auch Kinderbücher und ich liebte die Zahlenbilder, die es im Our Little Friends gab, einem christlichen Kindermagazin. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass ich die Zahlen mit Strichen verband und so einen kleinen Hund zeichnete. Und noch mehr Spaß machte es mir, diese Zahlenbilder dann noch mit bunten Farben auszumalen.

      Nach einem Jahr erklärten die Ärzte mich als geheilt. Vater kam am Tag meiner Entlassung und brachte mich zurück nach Nanking. Inzwischen war meine kleine Schwester schon fast zwei Jahre alt. Auch freute ich mich sehr darüber, dass ich zunächst wieder in meine alte Schule am Trommelturm gehen sollte. Ich würde endlich meine Freunde und Mitschüler wiedersehen und wäre mit gleichaltrigen Kindern zusammen. Doch als ich zur Schule kam, bemerkte ich, dass niemand mehr mit mir spielen wollte. Nicht einmal die zierliche, bildhübsche Wanfang, die vor meiner Erkrankung meine beste Freundin und eigentlich immer sehr nett gewesen war, wollte noch in meiner Nähe sein. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie mir rundheraus: „Meine Mutter hat mir verboten, mit dir zu spielen.“ Ich wusste einfach nicht, was ich falsch gemacht hatte, und war deswegen unendlich traurig. Erst nach einer ganzen Weile kam ich dahinter, dass die Eltern einiger Mitschüler durch Zufall von meiner Tuberkulose-Erkrankung und meinem Aufenthalt im Sanatorium erfahren hatten. Da verstand ich endlich, dass sie ihren Kindern nur aus Angst vor einer Ansteckung jeglichen Kontakt mit mir verboten hatten.

      Kurz darauf mussten wir erneut umziehen und ich war nicht wirklich traurig darüber. Dieses Mal zogen wir in eine neue Siedlung in der Ninghai-Straße. Ich wurde in der Shanxilu-Volksschule angemeldet, welche in unmittelbarer Nachbarschaft lag, und dort fand ich sogar recht schnell Anschluss unter den Mitschülern. Da ich von einer anderen Schule kam, bestanden meine Kontakte zumeist aus anderen Quereinsteigern und den Sitzengebliebenen, denn irgendwie gehörten wir nun alle einer Randgruppe im sozialen Gefüge dieser Schule an, deshalb fühlten wir uns von Anfang an miteinander verbunden. Da ich inzwischen sehr gute Aufsätze schreiben konnte, waren auch die Lehrer besonders freundlich zu mir, und ich bekam ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit von ihnen. Gesundheitlich ging es bei mir auch stetig bergauf und so verbrachte ich den Rest meiner Grundschulzeit bis zum Abschluss tatsächlich sehr unbeschwert und sorglos. Denke ich an dieses letzte Jahr in der Volksschule zurück, so habe ich sehr viele schöne Erinnerungen, an denen ich mich bis heute noch erfreuen kann.

      Nachdem Marschall Zhang Zuolin, auch als „Tiger der Mandschurei“ geehrt, im Juni 1928 durch ein Bombenattentat der japanischen Kwantung-Armee ums Leben gekommen war, schien das Land führerlos zu sein. Sein Sohn und Nachfolger, Zhang Xueliang, traf eine Vereinbarung mit der Nationalregierung in Nanking, worin er sein Einverständnis erklärte, am Neujahrestag des Jahres 1929 die Flagge der Republik zu hissen. Mit diesem offiziellen Akt unterstellte er die Mandschurei der Hoheitsgewalt der chinesischen Nationalregierung. Der Nordfeldzug der KMT unter Chiang Kai-Shek hatte somit sein Ziel erreicht und China war wieder eine geeinte Nation.

      Im Herbst jenes Jahres fanden im ganzen Land die Aufnahmeprüfungen für den achten Jahrgang der Huangpu-Militärakademie statt, die im Anschluss an ihren Umzug von Guangzhou in die neue Hauptstadt Nanking umbenannt worden und seither „Zentrale Militärakademie“ (CMA) hieß. Die Parteizentrale der KMT bat meinen Vater um seine Mithilfe bei der Anwerbung von Kadetten aus der Mandschurei. Während eines Treffens mit Chiang Kai-Shek, der damals der Vorsitzende der Militärkommission war, unterbreitete mein Vater ihm den Vorschlag, an die hundert Kandidaten aus dem Nordosten aufzunehmen, die die erste Stufe der Ausleseprüfung bestanden hatten. So, argumentierte er, könnte die Saat der Revolution flächendeckend in der Mandschurei ausgebracht werden. Wo früher nur regionalen Interessen nachgegangen wurde, könnte auf diese Weise künftig eine neue Generation von jungen Menschen mit einem nationalen Selbstverständnis und einer zeitgemäßen militärischen Ausbildung heranwachsen, die eine stärkere und dauerhaftere Bindung an die Nationalregierung besäße. Dem Vorschlag wurde stattgegeben und mein Vater wurde von Zhang Zhizhong, dem ersten Kommandanten der Akademie, mit der Aufgabe betraut, in den folgenden vier Jahren dafür zu sorgen, dass jeweils hundert Kadetten aus der Mandschurei in die Militärakademie aufgenommen werden konnten. Nach dem Mukden-Zwischenfall 1931 stammte annähernd ein Viertel aller CMA-Kadetten aus der Mandschurei. Diese jungen Menschen, deren Heimat von den Japanern besetzt worden war, wurden nach ihrer abgeschlossenen Ausbildung in allen Bereichen des Militärs eingesetzt und sollten sich später im Krieg gegen Japan als entscheidende Kräfte an allen Fronten erweisen, da sie mit größter Entschlossenheit für China kämpften. Das bedeutete jedoch auch, dass nur wenige von ihnen nach dem Krieg ihre Heimat wiedersahen.

      Neben den Offiziersanwärtern der Militärakademie erhielten jedes Jahr auch noch 20 bis 30 Absolventen von Mittelschulen in meiner Heimat einen Ausbildungsplatz an der Zentralen Polizeiakademie oder der Zentralen Politischen Hochschule in Nanking. Letztere wurde anlässlich ihrer Neugründung auf Taiwan in National Chengchi-Universität umbenannt. Während die Hochschule ihren Sitz in Nanking hatte, galt sie als „Kaderschmiede“ und erwies sich als unentbehrliche Quelle an hochrangigen Führungskräften während des Antijapanischen


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