Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
Geschichte der Republik ein. Laut offiziellem japanischem Archivmaterial, welches in späteren Jahren veröffentlicht wurde, war die gesamte japanische Militärführung der Ansicht, dass man den Krieg gegen China sofort beginnen müsse, bevor es wieder zu alter Stärke gelangt, ansonsten gäbe es keine Aussicht mehr auf einen Sieg und somit wäre das ganze Unterfangen obsolet.
8 - Löschkalk und Tod
Im Sommer 1934 wurde ich plötzlich sehr krank. Ich hatte schon seit frühester Kindheit immerzu Probleme mit den Atemwegen. In jenen Sommerferien erkrankte ich gleich zweimal lebensgefährlich an einer Lungenentzündung. Meine Eltern waren überaus besorgt und der Arzt hatte ihnen daraufhin geraten: „In ihrem Zustand ist das trockene Klima des Nordens wesentlich zuträglicher für ihre Tochter, wenn die Lungen sich wieder erholen sollen.“ Als meine Großmutter, die damals noch in Peking lebte, von meiner Krankheit und dem Rat des Arztes erfuhr, schrieb sie umgehend: „Schickt das Kind nach Peking. Sie kann hier bei mir bleiben.“ Da sie ebenfalls gesundheitlich angeschlagen war, musste sie seit einiger Zeit regelmäßig in das von deutschen Ärzten betriebene „Deutsche Hospital“ gehen, wo sie dank Vaters Beziehungen behandelt wurde.
Ich erinnere mich daran, dass mein Vater und ich mit der staatlichen Jinpu-Bahn nach Peking fuhren, und ich hatte keinen blassen Schimmer, weshalb wir diese Reise unternahmen. Doch allein der Umstand, dass mein Vater mit mir zusammen reiste, machte mich überglücklich. Die Bahnfahrt dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Es war der zweite Tag und unser Zug befand sich gerade auf der langen Luokou- Eisenbahnbrücke, welche über den Gelben Fluss führt, als ich zum ersten Mal in meinem Leben im Speisewagen eine Mahlzeit einnehmen durfte. Vater hatte das Beefsteak für mich in kleine Häppchen zerlegt und zeigte mir, wie man mit Messer und Gabel umging. Alles erschien mir so aufregend, als der Zug über die endlos scheinende Stahlbrücke fuhr und das gleichmäßige Rumpeln der Räder in meinen Ohren dröhnte. Und es war auch das erste Mal in meinem Leben, dass ich meinem Vater während einer Mahlzeit gegenübersaß. Ich erinnere mich, dass sich in mir ein unglaubliches Wonnegefühl ausbreitete. Ja, in diesem Augenblick war ich einfach nur glücklich!
Nachdem ich von einem Arzt im Deutschen Hospital in Peking untersucht worden war, nahm dieser meinen Vater zur Seite und sagte: „Der Zustand ihres Kindes ist sehr ernst, und sollte die Krankheit weiter fortschreiten, dann können wir für nichts mehr garantieren. Sie werden sie sehr wahrscheinlich verlieren.“ Die beste Chance für eine Genesung sah er in der Behandlung durch Spezialisten einer Heilanstalt. Daher empfahl er meinem Vater, mich in das von Deutschen und Chinesen gemeinsam geführte Westberg-Sanatorium 20 Kilometer außerhalb von Peking zu bringen. Dort sei ich bestens aufgehoben, versprach er. Meinem Vater blieb nichts übrig, als dem Arzt zu vertrauen, obwohl es ihm gar nicht gefiel, mich irgendwo allein zu lassen. Also nahm er mich bei der Hand und fuhr mit mir zum Sanatorium am Fuße des Westbergs von Peking. Das Sanatorium wurde nach westlichem Standard geführt. Jeder Patient wurde in einem Einzelzimmer untergebracht, und so bekam auch ich ein eigenes Zimmer, obwohl ich dort das einzige Kind war. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Nacht allein verbracht und bekam schreckliche Angst. Ein ganzes Jahr lang musste ich dort bleiben, und es gab keine einzige Nacht, in der ich mich nicht fürchtete.
Lungentuberkulose war damals eine lebensbedrohliche und nur schwer zu heilende Krankheit. Täglich gab es Todesfälle im Sanatorium, und nachdem man die Leiche hinausgetragen hatte, wurde sofort im ganzen Zimmer Löschkalk ausgestreut, um alles zu desinfizieren. Zuerst verstand ich nicht, was da geschah, doch mit der Zeit kam ich dahinter, dass jedes Mal, wenn der ätzende Kalk ausgestreut wurde, jemand gestorben war. Ich war noch zu jung, um zu begreifen, was Tod tatsächlich bedeutet, dennoch überkam mich stets eine große Traurigkeit, wenn das weiße Pulver gestreut wurde – immer fing ich an zu weinen. Im Sanatorium gab es einen Küchenhelfer, der auch dafür zuständig war, den Patienten die Mahlzeiten zu bringen. Alle dort nannten ihn einfach nur den alten Wang, aber für mich war er der Tröster in der Not. Der alte Wang war mitten in seinen Dreißiger-Jahren, also noch gar nicht wirklich alt, und von stämmiger, fast rundlicher Statur. Mir gegenüber zeigte er sich immer besonders fürsorglich, da er selbst eine Tochter in meinem Alter hatte, deshalb nannte er mich gern „Töchterchen“. Jedes Mal, wenn er mich mit tränennassen Augen sah, sagte er sofort: „Nicht weinen, Töchterchen, ich koche dir gleich einen schönen Erdapfel!“ Schon als kleines Kind waren Kartoffeln meine Lieblingsspeise, und sie sind es bis heute geblieben. Wenn ich mit guten Freunden zum Essen ausgehe und jemand hat eine schöne, runde gekochte Kartoffel auf seinem Teller, dann wird sie immer gleich an mich weitergereicht. So sehr ich mich über diese köstliche Gabe freue, so sehr erinnert sie mich auch jedes Mal an meine Kindheitserlebnisse im Westberg, und dann überkommt mich nach wie vor diese dustere Traurigkeit.
Jeden Samstag kam meine Großmutter, die damals schon über 60 Jahre alt war, mich besuchen, und wie es traditionell in Peking noch üblich war, reiste sie in einer von zwei Männern getragenen Sänfte an. Wenn dann der Moment kam, da sie wieder nach Hause aufbrach, weinte ich bitterlich und wollte ihr hinterherlaufen. Doch es war mir strengstens untersagt, das Bett zu verlassen, und so wurde ich festgehalten. Verzweifelt rief ich ihr nach: „Ich will mit dir gehen! Bitte nimm mich mit nach Hause!“ So saß ich ins Bett gezwungen und heulte und heulte. Meine Großmutter konnte mein Heulen bis nach draußen hören, wo die Sänfte für sie bereitstand, doch so sehr sie es sich selbst auch wünschte, sie durfte mich nicht mitnehmen. Eines Tages, als es wieder Zeit war, Abschied zu nehmen, da konnte auch sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken. Und als sie zu weinen begann, da flossen ihre Tränen entlang der tiefen Falten beinahe waagerecht zur Seite. Da begriff ich plötzlich, was mit der alten chinesischen Redewendung tatsächlich gemeint war, die besagte, dass die „Tränen quer durchs Gesicht fließen“.
Im Sanatorium lernte ich eines Tages eine andere Patientin namens Zhang Caiping kennen. Sie war etwa Mitte 20, und deshalb nannte ich sie immer „Große Schwester Zhang“. Der alte Wang meinte, dass der Liebeskummer sie krank gemacht hätte. Sie zeigte großes Interesse an mir, weil sie fand, dass ich ein kluges Mädchen sei, denn ich verstand alles, was sie mir erzählte, und sie vertraute mir des Öfteren sehr persönliche Gedanken an. Ich mochte sie wirklich sehr gerne, und manchmal ließ sie mich sogar heimlich in ihr Zimmer, was eigentlich verboten war, wegen der Ansteckungsgefahr. Sie besaß eine umfangreiche Sammlung moderner Literatur aus den Dreißigerjahren und die meisten Bände waren chinesische Übersetzungen westlicher Werke. Sie erlaubte mir, ihre Bücher zu lesen, und ich verschlang diese geradezu. Am meisten faszinierte mich der von Lin Qinnan übersetzte Roman „Die Kameliendame“. Der Stil und die Sprache des Romans gefielen mir ausgesprochen gut, und so bereitete mir die Lektüre große Freude, auch wenn ich nicht immer alles ganz genau verstand, was da in den Herzen und Köpfen der Erwachsenen vorging.
Eines Nachmittags sah ich, wie jemand Kalkpulver in Schwester Zhangs Zimmer ausstreute. Mir schwante Schreckliches, doch ich mochte es mir nicht eingestehen. Ich lief zum alten Wang und fragte ihn nach dem Grund. Ich hoffte so sehr, dass es sich als Missverständnis herausstellen würde, doch er sah mich nur mit traurigen Augen an und antwortete: „Ach Töchterchen, ich geh und koch dir ein paar Erdäpfel.“ Bis heute erinnere ich mich so deutlich an diesen Moment, dass mir noch jedes einzelne Detail klar vor Augen steht. Obwohl ich noch nicht genau definieren konnte, was „Tod“ bedeutet, war mir sofort klar, dass meine Freundin tot war, und ich spürte diesen eisigen Hauch des Endgültigen. Zum ersten Mal in meinem Leben betraf mich der Tod eines Menschen ganz persönlich, denn sie hatten den Löschkalk im Zimmer meiner Freundin gestreut.
Ich war vollkommen erschüttert und zutiefst verzweifelt über den Verlust meiner Freundin. Meine Großmutter muss sehr unter meiner Dünnhäutigkeit gelitten haben, denn ich konnte tagelang nicht mehr aufhören zu weinen. Mein ganzes Leben lang habe ich sehr oft an meine geliebte Großmutter gedacht, der ich auf ewig zu Dank verpflichtet bin, denn sie war es, die von meiner Geburt an bis ins hohe Alter eine schützende Hand über mich gehalten und sich immer verlässlich um mich gekümmert hat. Irgendwann später, als wir bereits etliche Jahre auf der Flucht von Nanking nach Chongqing kreuz und quer durchs Land gezogen waren, erhielten wir nach unserer Ankunft die verspätete Nachricht von ihrem Tod. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass der Körper, der mich in bitterkalten Winternächten immer warm gehalten hatte, nun selbst erkaltet sein sollte.
Als meine Eltern in ihren Siebzigern