Der Mächtige Strom. Chi Pang-yuan
Sie alle hatten nicht mehr unter der japanischen Herrschaft zu leben vermocht, und zugleich fühlten sie sich ihrem eigenen Kulturkreis so stark verbunden, dass es ihnen eine Herzensangelegenheit war, die jugendlichen Flüchtlinge aufzunehmen und sich um sie zu kümmern. Es waren ihrer so viele, und die meisten von ihnen hatten weder Freunde noch Verwandte vor Ort, an die sie sich hätten wenden können. Überall in der Stadt sah man mittellose Jugendliche ziellos umherwandern, ausgezehrt, oft verlumpt. Als der Winter kam, errichtete die Hilfsorganisation Zeltlager für diese Heimatlosen, verteilte Lebensmittel sowie andere notwendige Alltagsgegenstände und stellte auf diese Weise zumindest die existenzielle Grundversorgung sicher. Sie waren ja eigentlich noch Kinder, und vollkommen hilflos.
Beim großen Neujahrstreffen der Nationalregierung in Nanking lernte mein Vater 1934 den Staatssekretär des Verkehrsministeriums, Peng Xuepei (1896–1948), kennen. Er wusste, dass dieser aus dem Norden Chinas stammte, und so gelang es ihm mit ein wenig Überredungskunst, Peng für sein Vorhaben zu gewinnen. Der Staatssekretär bewilligte ihm umgehend 50.000 Silbertaler. Mit diesem Startkapital, über das er sofort verfügen konnte, machte sich mein Vater augenblicklich an die Arbeit und kontaktierte seine Freunde in Peking. Angesteckt von seiner Begeisterung begannen sie eilends mit der Organisation und suchten zuerst einmal nach geeigneten Räumlichkeiten. Nach einigem Hin und Her bewilligte die Stadtverwaltung übergangsweise einige Räumlichkeiten im Kloster des Baoguo Tempels, dem Shuntianer Verwaltungsgebäude und der ehemaligen Polizeiakademie. Somit konnte binnen kürzester Zeit die Gründung der Nordöstlichen Zhongshan-Oberschule erfolgen, die auch als „Nationale Doktor Sun Yat-Sen Oberschule“ bekannt wurde, da sie die erste staatliche Oberschule Chinas schlechthin war. Die Schule war in Unter- und Oberstufe unterteilt, die etwa 2000 Exilschüler aufnehmen konnten. Am 26. März 1934 wurde die neue Schule festlich eingeweiht, nachdem es meinem Vater gelungen war, das Bildungsministerium davon zu überzeugen, dass es die Aufgabe des Staates sei, die Finanzierung solcher Einrichtungen dauerhaft zu gewährleisten. Für ihn bedeutete dies einen immensen Erfolg, denn er war der festen Überzeugung, dass der freie Zugang zu allgemeiner Bildung eine Grundlage für den Fortbestand der Nation darstellte. Außerdem war es ihm eine Herzensangelegenheit, dass die zahllosen Jugendlichen aus seiner Heimat, die sich auf der Flucht befanden, Hilfe in ihrer Notlage erhielten und auch weiterhin zur Schule gehen konnten. Eine verlorene Generation konnte und durfte China sich nicht leisten!
Li Xi’en, der ehemalige Rektor der Jilin-Universität in der Mandschurei, wurde nun zum ersten Schulleiter ernannt. Li war ein ehemaliger Kommilitone meines Onkels Shichang, hatte gemeinsam mit ihm in Deutschland studiert, daher wusste mein Vater, dass sie die gleichen politischen Ansichten vertraten und betrachtete ihn quasi als eine Art Bruder. Die von ihnen angestellten Lehrer waren fast alle ehemalige Hochschuldozenten, die von der Mandschurei aus nach Peking geflohenen waren. Mein Bruder, der damals die Oberstufe einer anderen Schule in Peking besuchte, bewarb sich dort, sobald Vater ihm davon berichtet hatte. Leider musste er die Aufnahmeprüfung zweimal machen, aber schließlich schaffte er es doch noch, an der neuen Schule aufgenommen zu werden.
Im Herbst 1936 verschlechterte sich die Lage in Nordchina zusehends, Vater spürte die politischen Spannungen eindeutig, wie die Vorboten eines Sturms. Die ganze Region war, so beschrieb er, als befände sie sich „in einem kleinen Haus, auf das gerade ein mächtiger Taifun zuraste, und die ersten starken Windstöße fuhren schon durch alle Räume hindurch, brausend und zischend, wie in den tiefen Schluchten des Gebirges“. Die unverhohlenen Kriegsandrohungen seitens der Japaner und die fortschreitende Infiltration durch die Kommunisten machten eine Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Peking zunehmend schwieriger. Die Stadt schien ihm als sicherer Standort für die Zhongshan-Schule täglich ungeeigneter zu werden und deren Verlegung nach Nanking die einzige Lösung zu sein. Deshalb kauften mein Vater und andere Mitbegründer der Schule in Banqiao, ungefähr zehn Kilometer südlich von Nanking entfernt, ein Grundstück und begannen dort Schulgebäude und Unterkünfte für die Lehrer zu errichten.
Nachdem die Schule umgezogen war und auch das Lehrpersonal sich halbwegs eingerichtet hatte, begannen die Bauarbeiten erst richtig. Sogar die Schüler mussten mit anpacken – den Boden ebnen, wo einmal der Sportplatz angelegt werden sollte, die Außenmauer um das Schulgelände hochziehen, und auch die Toreinfahrten aus Lehmziegeln verlegen … An der Außenseite der Schulmauer, direkt neben dem Haupteingang, brachten sie ein riesiges Schild an, welches man schon von weitem erkennen konnte. Darauf stand in acht großen Schriftzeichen das Motto der Schule, das aus der „Geschichte der Kämpfenden Reiche“ stammte:
Im Reiche Chu überlebten nur drei Familien, doch sollte es einer der ihren sein, der einst den Tyrannen des Qin-Reiches vernichten würde!
Dieser Leitspruch war mit Bedacht ausgewählt worden, und waren ihre Lebensumstände auch noch so beschwerlich, so war der Wille bei den Lehrern ebenso wie bei den Schülern ungebrochen, denn aufzugeben kam für sie keinesfalls in Betracht. Jeden Morgen während des Fahnenappells sangen sie hochmotiviert das Gründungslied ihrer Schule:
Hoch auf den Bergen das ewige Weiß, unendlich der Fluss des Schwarzen Drachen;
ein Land von solcher Schönheit, sind Hass und Leiden dennoch unvergessen.
Vertrieben und verweht in tiefstem Elend sind all die jungen Menschen.
Indes, die Drei Prinzipien des Volkes, sie weisen euch den Weg;
nehmt sie zum Ideal des Landes und tragt auch noch die schwerste Bürde.
Die Schule sei euch Heim und Zuflucht, dem Lernenden ein Hort des Wissens,
in schützender Umarmung einst am Taiye-See umfängt euch nun der Qinhuai-Fluss.
Die Schande, welche ihr erfahren habt, soll euch Charakterstärke lehren,
so aufrecht wie die Männer, geboren aus dem Volk der Chu;
kaum drei Familien brauchte es, die Macht der Qin zu stürzen.
Aus dem Norden kam ich einst und in den Norden kehre ich zurück.
Insbesondere die erste Zeit in Banqiao gestaltete sich als große Herausforderung für alle, vor allem auch, weil die meisten der Schüler wirklich noch sehr jung waren. Doch mein Vater blickte stets voller Optimismus in die Zukunft, so vergingen etwa eineinhalb Jahre, in denen sie trotz aller Bescheidenheit der Verhältnisse ein recht beständiges und sicheres Dasein voller Hoffnung führen konnten. Dann war es aber vorbei mit der Sicherheit in Nanking. Vor uns lag ein langer, strapaziöser Weg, dieses Mal sollten die Tage der Flucht wesentlich härter werden, als wir es uns vorstellen konnten. Wir befanden uns in einer verzweifelten Notlage: gejagt von den Feinden, immerzu am Rande der Erschöpfung, litten wir täglich Hunger und Kälte auf unserem Weg, der uns durchs halbe China führte, in Richtung Südwesten in die Gebirge.
11 - Zhang Dafei: Kind einer zerbrochenen Familie
Nachdem mein Bruder mit der Zhongshan-Schule von Peking nach Nanking umgesiedelt worden war, kam er jeden Samstag gegen Mittag nach Hause. Meist hatte er noch fünf oder sechs Schulkameraden im Schlepptau. Die Freunde verbrachten den Tag bei uns und fuhren nach dem Abendessen mit dem Zug nach Banqiao zurück, während mein Bruder über Nacht im Elternhaus bleiben durfte. Meine Mutter war glücklich und zufrieden in der Rolle, für einen Tag die Mutter all dieser aus der Mandschurei geflüchteten Kinder zu sein. Sie verwöhnte sie, als ob es ihre eigenen gewesen wären. Obwohl sie es nicht laut aussprach, so war sie sich doch der Tatsache nur zu bewusst, dass seit unserem Umzug in den Süden und während der acht Jahre des Widerstandskrieges jeder Schüler der Zhongshan-Schule ein Heimatloser war. Und fast alle von ihnen konnten von einem tragischen Familienschicksal erzählen, es brach einem auch jedes Mal das Herz!
Als Zhang Dafei das erste Mal bei uns war, fiel er überhaupt nicht auf. Er war wortkarg und saß einfach nur ganz still da. Auch an den Spielen der anderen schien er sich nicht beteiligen zu wollen. Als Mutter das Essen auf den Tisch stellte, bestand sie darauf, dass er neben ihr sitzen sollte. Während dieser und der folgenden Mahlzeiten kümmerte sie sich immer besonders um ihn und sorgte dafür, dass er stets einen ordentlichen Nachschlag bekam. Begonnen hatte alles damit, dass Vater meinen Bruder bat, einen Schüler namens Zhang Dafei ausfindig zu machen. Der Vater dieses Schülers war während der Anfangszeit des Marionettenstaates Mandschukuo