Revierkampf. Frank Goldammer
Menschen, die das Interesse der Kinder geweckt hatte. Stundenlang hätten sie den Nachwuchs betrachten können, der sich putzig und völlig schamfrei tummelte und Spaß daran fand, im hohen Bogen durch den Käfig zu pinkeln. Das waren die Momente, für den sie in den Zoo gegangen waren, in denen sich alle einmal einig gewesen waren. Hier war es immer warm und amüsant, und niemand dachte an Eis, Cola, Pommes oder die Toilette.
»Oh Mann!«, entfuhr es Falk, als er die Menschenmenge vor dem Freigehege der Orang-Utans erblickte. Die Leute johlten. »Komm, lass uns gehen!«, sagte Tauner laut. Er wollte sich das nicht antun.
»Da geht was vor!«, sagte Tom halb laut, und erst jetzt registrierte Tauner den Tonfall der Menge. Er streifte den Arm seiner Tochter ab und lief los.
Zuerst war das Gedränge vor dem Freiluftgehege viel zu groß, als dass Tauner hätte etwas sehen können. Er hörte eine Frau kreischen, und ein paar Männer schlugen mit den Händen gegen die Scheiben.
»Polizei!«, rief Tauner und riss einen Mann an der Schulter herum.
»Der bringt die um!«, keuchte der Mann.
Tauner griff nach dem Nächsten. »Machen Sie Platz!« Er zerrte einen Rentner beiseite, der seine Enkelin auf dem Arm trug. Das kleine Mädchen schien unbeteiligt, begann jedoch zu weinen, als sie Tauner sah.
»Was ist denn los?«, fuhr der Mann Tauner an.
»Ich bin Polizist!« Er konnte noch immer nichts erkennen, und die Menge verursachte einen Lärm, die ihn kaum ein Wort von dem verstehen ließ, was der Mann sagte.
Endlich ging der Rentner beiseite. Nun erst konnte Tauner erkennen, dass ein Orang-Utan durch die Gitterstäbe hindurch eine Pflegerin gepackt hatte, sie schüttelte und schlug. Die Frau hing leblos in seinen Händen, ob sie tot oder nur bewusstlos war, war für Tauner nicht auszumachen. Der Körper des Affen verdeckte seine Sicht. Tauner griff nach seiner Pistole, doch die lag gut verschlossen in seiner Wohnung. Jemand schrie hysterisch, einige Frauen und Kinder weinten, und weitere Leute strömten zum Gehege. Tauner fluchte lautlos, ließ vom Gitter ab und schob sich aus dem Gedränge. Er rannte los, lief um das Gebäude herum bis zu einer braun lackierten Blechtür, durch die die Tierpfleger Zutritt zum Bereich hinter den Gehegen erhielten. Die Tür war verschlossen, hatte keine Klinke. Tauner hämmerte dagegen. Zuerst tat sich nichts. Er hämmerte erneut. »Aufmachen, Polizei!«, rief er und versuchte, den Lärm der Besucher zu übertönen. Mittlerweile strömten Leute aus allen Richtungen zum Menschenaffenhaus. »Aufmachen!«, rief Tauner erneut und trat wütend gegen die Tür.
»Ich kann Sie hier nicht einlassen!«, antwortete plötzlich eine Männerstimme.
»Was soll das heißen?«
»Gehen Sie, wir kommen allein klar!«
»Ich bin Hauptkommissar Tauner von der Kriminalpolizei, lassen Sie mich sofort rein!«
»Woher soll ich wissen …«
»Jetzt machen Sie schon endlich auf, ich habe einen Ausweis!« Endlich öffnete sich die Tür. Tauner schob sogleich seinen Fuß in den Spalt. Seinen Ausweis hatte er schon hervorgeholt. Er zeigte ihn dem rotgesichtigen, großen Mann. Der tat einen Schritt zurück, und Tauner trat endgültig ein. »Los kommen Sie!«, fuhr er den Pfleger an und wollte in den Bereich hinter den Käfigen.
Der Pfleger hielt ihn fest. »Es ist schon zu spät!«, sagte er.
Tauner schürzte die Lippen und überlegte einen Moment, wie er reagieren sollte. Der Mann sah aus, als wüsste er, wovon er sprach. »Ich muss es trotzdem sehen, und wir müssen einen Arzt holen.«
»Der Arzt kommt gleich. Glauben Sie mir, es ist zu spät. Ich habe versucht einzugreifen, aber es war einfach schon zu spät.« Der Mann hob die Hände ein wenig und ließ sie kraftlos fallen. Er war etwa 50 Jahre alt, fast einen Kopf größer als Tauner und hatte eine Halbglatze. Die restlichen Haare hatte er lang wachsen lassen und zu einem grauen Zopf gebunden. Die Hemdsärmel seiner Arbeitskleidung waren abgetrennt, die Arme muskulös und voller Narben.
Tauner nickte und wollte sich an dem Mann vorbeischieben. Der hielt ihn fest. »Sie können da nicht rein!«
»Wollen wir wetten?«, fragte Tauner drohend.
»Nein, Sie verstehen das nicht, die Tiere sind sensibel, da kann nicht jeder rein, die … drehen durch. Man muss es sehr sachte angehen.«
Tauner hob die Hand. »Ich will mich ja nicht in Ihre Arbeit einmischen, doch da hinten liegt eine schwer verletzte Frau. Irgendjemand muss sowieso nach hinten und die Affen sind mir in diesem Falle völlig egal. Gehen Sie beiseite!« Tauner drückte den Pfleger mit der flachen Hand weg und betrat den lang gestreckten Gang hinter den Käfigen, die jetzt alle leer waren. Als er die Tür zum Außengehege erreichte, holte ihn der Pfleger ein.
»Kommen Sie dem Gitter nicht zu nah. Wenn er Sie einmal gepackt hat, lässt er Sie nicht mehr los.«
»Warum sollte er nach mir greifen?«
»Weil er sein Revier verteidigen will, zeigen, wer der Boss ist.« Der Pfleger drückte die Tür auf.
Zuerst sah alles harmloser aus, als Tauner nach dem Anblick von außen vermutet hätte. Die Frau, die auch etwa 50 Jahre alt sein mochte, lag in dem kurzen Gang hinter den Freiluftgehegen auf dem Rücken. Ihre Augen waren offen, die Zunge war ihr aus dem Mund gequollen. Sie hatte eine Wunde am Hinterkopf, aus der ein wenig Blut gelaufen war. Tauner bückte sich zu ihr herunter und tastete nach ihrem Puls. Weil er keinen finden konnte, versuchte er, mit dem Ohr auf ihrer Brust nach dem Herz zu lauschen, doch er hörte nichts. »Wann ist das passiert?«, fragte er den Pfleger.
Der hob die Schultern. »Ich war gerade draußen, als ich wiederkam, da hatte er sie sich schon gegriffen, und sie war bereits leblos. Ich hab gleich Erste Hilfe probiert, es hat keinen Zweck.«
Tauner zog seine leichte Jacke aus und bog den Kopf der Frau nach hinten. »Wie haben Sie Erste Hilfe geleistet?«, fragte er und schob mit dem Zeigefinger die Zunge der Frau beiseite.
»Herzdruckmassage und Beatmung!«
Wann wollte er das gemacht haben?, dachte Tauner. »Kommen Sie her. Machen Sie das so!« Er führte dem Mann eine Herzdruckmassage vor. Der Pfleger kniete sich neben ihn und tat wie geheißen, Tauner begann mit der Beatmung.
Es war sinnlos, das wusste er schon nach wenigen Sekunden, warum tat er das also? Vielleicht wegen der Besucher, die ihn sehen konnten? In der Ferne hörte Falk die Sirenen des Rettungsdienstes. »Gibt’s keine ausgebildeten Ersthelfer hier?«, fragte Tauner und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
»Ich bin einer«, sagte der Pfleger und sah aus, als wollte er aufgeben. »Das hat doch keinen Sinn mehr!«
»Hat es, heutzutage … Gehen Sie die Tür aufmachen!« Tauner hatte es an der Tür klopfen gehört. Der Tierpfleger erhob sich und lief los. Tauner lehnte sich zurück. Die Frau war tot, daran konnte niemand mehr etwas ändern. Dann hörte er hinter sich ein leises Geräusch. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken, und hastiger, als er es vorgehabt hatte, drehte er sich zur Seite und krabbelte wie ein Krebs weg vom Gitter. Das Orang-Utan-Männchen saß am Gitter, hatte die Hände lässig auf einer Querstrebe abgelegt und betrachtete ihn mit gesenktem Kopf. Harmlos sah er aus, wie ein Sack voller Brote, die riesigen Backenwülste ließen ihn gemütlich aussehen, erinnerten ihn ein wenig an seinen dicken Kollegen.
Tauner, der außer Reichweite war, erwiderte den Blick des Männchens. Dann sah er das Blut am Gitter. Ein paar Haare der Frau klebten daran. Er erhob sich und rutschte auf Knien zum Kopf der toten Pflegerin. Vorsichtig drehte er ihn, bis er die Wunde am Hinterkopf sehen konnte. Wahrscheinlich hatte der Affe ihren Schädel gegen die Gitterstäbe geschlagen. Womöglich war sie da schon tot gewesen. Im nächsten Moment kam der Notarzt mit dem Pfleger und zwei Rettungsassistenten. Er stellte seinen Koffer ab und bückte sich hinunter zur Toten, wobei er einen respektvollen Abstand zum Gitter hielt. Im Augenwinkel sah er, wie der Affe seine Unterlippe vorschob und von dem Blut kostete.
»Sie sind der Polizist?«, fragte der Arzt. Er war ein schlanker Mann von etwa 30 Jahren.
Tauner