Operation Terra 2.0. Andrea Ross
»Willst du nicht doch hier auf mich warten? Ich gehe schnell hinein, hole die Pässe und bin gleich wieder da.«
»Keine Chance. Zeig mal die Skizze«, sagte Kalmes ungerührt und nahm Solaras mit einem verbindlichen Lächeln den Zettel aus der Hand. »Wir müssen uns links halten und nach einer großen Hütte sehen. Dort geht es nach rechts und nach … eins, zwei, drei … weiteren Hütten sind wir am Ziel.«
Das klang relativ einfach, doch in dem kunterbunten Tohuwabohu entpuppte sich die Orientierung als schwierig. Man konnte kaum erkennen, wo die eine Behausung aufhörte und die nächste anfing. Sie ernteten argwöhnische, ängstliche und hasserfüllte Blicke. Der Weg durch die Hüttenstadt kam einem Spießrutenlauf gleich. Man musste überdies ständig aufpassen, wohin man trat. Der Boden starrte vor Glasscherben, scharfkantigen Metallteilen und benutzten Spritzen. Ein Halbwüchsiger mit fettigem Haar übte sich nur ein paar Meter entfernt im Messerwurf.
Endlich erreichten sie aufatmend den Verschlag mit dem Sternsymbol über der provisorischen Tür, der auf der Skizze als Ziel markiert war.
»Hier drin soll der Fälscher angeblich auf uns warten. Hoffentlich stimmt das auch, denn hier möchte ich kein zweites Mal herkommen. Bleib bitte dicht hinter mir, wir gehen jetzt hinein«, entschied Solaras. Er klopfte gegen die Blechplatte, die das Loch in der Wand verbarg, und schob diese ein Stück zur Seite, so dass sie hindurch schlüpfen konnten.
Stickige Luft schlug ihnen entgegen. Im Halbdunkel der nur spärlich durch Tageslicht, das durch Ritzen fiel, erhellten Hütte saß ein fettleibiger Kerl – oder vielmehr thronte er auf einem schmutzigen weinroten Bodenkissen.
»Ihr seid also die namenlosen Fremden?«, fragte er lauernd. Er besaß eine überraschend hohe Stimme, die irgendwie nicht zu seinem massigen Körper passen wollte.
»Die sind wir«, bestätigte Solaras.
»Habt ihr das Zeug dabei?«
»Selbstverständlich.« Solaras fischte das aromatisch duftende Päckchen aus seiner Jackentasche und legte es vor dem Mann auf den umgedrehten Bierkasten, den er als Tisch benutzte.
Der Fette griff gierig danach, schnupperte kurz daran und legte es auf eine Waage, die in einem wackligen Regal hinter seinem Rücken gestanden hatte.
»Gut, das Gewicht passt. Levi hätte aus alter Freundschaft allerdings ruhig ein Gramm mehr hineintun können, nachdem ich das Risiko mit euch eingegangen bin. Rührt euch nicht von der Stelle! Solltet ihr mich übrigens verpfeifen, würdet ihr ins Gras beißen. Ich hoffe, das ist euch bewusst.«
Ächzend und stöhnend erhob sich der Fleischberg, schlurfte an die rückwärtige Wand des Verschlags, wo sich quietschend eine Tür öffnete. Helles Licht fiel heraus und man sah Geräte auf langen Tischen stehen. Kalmes reckte den Hals, sah Solaras fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern.
»Erstaunlich, was sich in dieser verdreckten Siedlung so alles verbirgt. Vielleicht ist das da hinten die eigentliche Fälscherwerkstatt?«, raunte sie ihm zu.
»Schon möglich. Still, er kommt zurück!«
Der Unbekannte schloss die Tür, schob mühevoll das Regal davor. Er reichte den Tiberianern zwei nagelneue Pässe über den staubigen Bierkasten.
»Die sind glatt noch viel schöner als echte«, brüstete er sich.
»Nein, im Ernst, unsere Pässe sind von offiziell ausgestellten Papieren absolut nicht zu unterscheiden. Mein Kompagnon kommt über Beziehungen an die OriginalBestandteile. Es lebe die Korruption im Öffentlichen Dienst!«
»Gut zu wissen«, sagte Kalmes verbindlich. »Aber verraten Sie mir eines: Sie verdienen damit doch sicher ziemlich gut. Wieso hausen Sie dann in diesem Dreckloch?«
Der Mann quiekte vor Vergnügen. In diesem Moment erinnerte er mehr denn je an ein fettes Schwein.
»Ich, hier wohnen? Aber nicht doch! Das ist nur der äußere Rahmen für meine Geschäfte. Ihr wärt erstaunt, wenn ihr meinen tatsächlichen Wohnsitz sehen würdet. Nun hört gefälligst auf, mich auszufragen, bevor ich misstrauisch werde und euch einen Kopf kürzer machen lasse«, fügte er mit überheblicher Miene hinzu.
Kalmes und Solaras zogen es vor zu verschwinden. Sie existierten auf Terra nun offiziell als das israelische Ehepaar Joshua und Maria Goldberg, wohnhaft in Tel Aviv, und dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich. Keine faulen Ausreden, kein Vertrösten waren künftig mehr notwendig, nicht bei Arbeitgebern und nicht bei möglichen Polizeikontrollen. Die frischgebackenen Goldbergs trugen ihre Pässe wie einen Schatz nach Hause.
Mars, 02. September 2023 nach Christus, Samstag
Das MarsformingProjekt der tiberianischen Siedler ging nun schon ins achte Jahr. Die bestens getarnten, pyramidenförmigen und komplett mit rötlichen PlantolaanElementen verkleideten AtmosphärenKraftwerke funktionierten einwandfrei. Ein paar TUN beziehungsweise Jahre noch, dann würde man auf dem Mars wieder ohne Hilfsmittel atmen können.
In der Gegend rund um die Kraftwerksanlage bildeten sich sogar bereits Wolken am rötlichen Himmel, die für erste Regenfälle sorgten. Erst in der vergangenen Woche waren dort Samen diverser Nutzpflanzenarten in den staubigen Boden gesetzt worden. Man hatte das Saatgut im Vorfeld auf Tiberia extra widerstandsfähig gezüchtet. Vielleicht gelänge es ja in Kürze, Nahrung anzubauen. Dies wäre zweifellos ein riesengroßer Schritt in Richtung Reaktivierung, der es ermöglichen würde, noch mehr Menschen und Material auf den Mars zu transferieren.
Inzwischen war im ChryseBecken eine richtige kleine Stadt aus ultraleichten, miteinander verbundenen und fest im Boden verankerten Habitatmodulen entstanden. Sie boten jedem der einhundertachtunddreißig Missionsteilnehmer ein komfortables, wenn auch sehr beengtes Heim auf Zeit.
Der monströse Raumfrachter Deep Red Planet schaffte, auf Regentin und Missionsleiterin Alannas Geheiß, unermüdlich neues Baumaterial heran. Die handverlesenen Arbeiter der MarsformingMission wurden jeweils nach sechs UINAL harten Dienstes ausgetauscht, damit sie in der rauen, unwirtlichen Umgebung nicht erkrankten.
Und jetzt bekamen sie zum ersten Mal ungebetenen Besuch. Die tiberianischen Wissenschaftler empfanden es als ärgerlich, dass die neugierigen Eindringlinge von Terra ausgerechnet in der CydoniaRegion herumschnüffelten. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätten sie das kleine Strahlungsleck im Reaktor beheben und ihre wabenförmig aufgebaute Siedlung rund um die alte Halle der Regenten aufschlagen können. Es galt als ziemlich sicher, dass sämtliche Installationen nach all der Zeit noch intakt sein müssten. Die meterdicken Felswände schirmten das innen liegende Bauwerk zuverlässig gegen klimatische Einflüsse ab.
Mit Argusaugen wurde jeder Schritt der Terraner beobachtet. Keinesfalls durften sie bemerken, dass der Rote Planet im Begriff stand, wieder von Menschen besiedelt zu werden. Sie hätten sonst unter Garantie eigene Besitzansprüche angemeldet, und wenn es nur zum Abbau von Bodenschätzen gewesen wäre.
Es reichte Regentengattin Alanna vollauf, dass die mutmaßlich sechsköpfige Missionscrew von Terra nach dem Verlassen der Landekapsel unverzüglich eine leuchtend blaue Fahne mit im Kreis angeordneten Sternen in den Boden gerammt hatte, so als könne man wegen dieser lächerlichen Geste den gesamten Planeten für sich beanspruchen. Die Ablösung hatte die Aufzeichnung mit der Deep Red Planet durch den Zeittunnel zu ihr ins Tiberia des 22. Jahrhunderts transportiert.
›Typisch! Genau wie auf Terra … wo immer diese raffgierigen Heuschrecken auftauchen, reißen sie sich alles unter den Nagel‹, dachte sie wütend.
Der Mars war ihre Stammheimat, verdammt noch mal, nicht diejenige dieser degenerierten, kriegerischen Affen. Am liebsten hätte sie die AuroraMissionsteilnehmer töten lassen und damit die Rückkehr der Raumkapsel nach Terra verhindert. Doch was wäre die Folge davon gewesen? Eine weitere Mission, noch mehr wissbegierige Terraner … so wartete sie zähneknirschend ab und schmiedete finstere Pläne.