Vernehmungen. Heiko Artkämper

Vernehmungen - Heiko Artkämper


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Beispiel:

       253„Ich habe nur gesehen, wie der Motoradfahrer schon im fahl war, ist gegen unterfahrschuz geknalt, leicht abgefedet und dann mit dem kopf unter den hinterrad von anhenger. Aus welhem grund er zum fahl kamm habe ich nicht gesehen.“

      254Jedenfalls werden hier aber Details des Sturzes geschildert, die weitere Ermittlungen – Vernehmung des Zeugen – erfordern; der Zeuge hat offensichtlich den unmittelbaren Unfallhergang wahrgenommen. Ob er mehr weiß, muss eine Vernehmung klären.

Praxistipp:
255 Hier können Telefonate entweder vor der Versendung des Anhörungsbogens oder nach Erhalt einer derartigen Antwort hilfreich sein; deren Inhalte sind in einem Aktenvermerk niederzulegen.

       2.14.4Detaillierte Fragenkataloge (mit Platz für Antworten)

      256Fehlschlägen kann nur durch detaillierte Fragenkataloge mit Platz für Antworten vorgebeugt werden; eine sinnvolle Fragegestaltung soll das nachfolgende, recht einfache Beispiel erläutern. Allerdings dürfte dabei klar werden, dass die Erstellung und Auswertung derartiger Fragenkataloge extrem aufwändig sein kann.

       Beispiel:

      257Bei einem Raubüberfall auf eine Spielbank konnte ermittelt werden, dass sich am Tatabend etwa 2000 Personen im Großen Spielsaal aufgehalten haben könnten. Eine genauere Eingrenzung war nicht möglich, da nur der Zutritt, nicht aber auch das Verlassen der Räumlichkeiten erfasst wurde.

      258Um überhaupt Ermittlungsansätze zu erhalten, wurde der nachfolgend abgedruckte Fragenkatalog entwickelt; wichtig ist dabei – da nur dann ansatzweise abschließende Antworten zu erwarten sind –, dass nach jeder Frage Raum für die Antwort bleibt. So wird der Zeuge gezwungen, sich mit jeder Frage zu beschäftigen und sie ggf. zu beantworten.

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      259Die vorbeschriebene Vorgehensweise garantiert allerdings keinen inhaltlichen Erfolg; so stellte sich in dem Verfahren später heraus, dass auch in der Spielbank befindliche Mittäter den Fragebogen erhalten, ausgefüllt und zurückgeschickt hatten. Nur die inhaltliche Qualität ihrer Angaben ließ zu wünschen übrig – sie logen.

       2.14.5Konservierung von Zeugenwahrnehmungen durch vorgelagerte Anhörungsbögen – „EVA“

      260In einigen Bundesländern wurden – in Anlehnung an die Praxis in Norwegen, Großbritannien und den Niederlanden – schriftliche Anhörungsbögen konzipiert, die der Konservierung von Zeugenwahrnehmungen durch möglichst tatzeitnahe, vorgelagerte Gedächtnisprotokolle für Augenzeugen dienen sollten. Als Vorreiterin entwickelte Nicola Hahn das „Eigenständige Vernehmungsprotokoll für Augenzeugen“ (EVA), als Begriff eine Übersetzung des „Self-Administered Interview“ (SAI)54. Die Grundüberlegung bestand darin, in besonders unübersichtlichen (Sofort-)Lagen, beispielsweise Delikten auf größeren Veranstaltungen, in Gaststätten oder Diskotheken, aber auch bei Verkehrsunfällen mit einer Vielzahl von Zeugen oder Delikten in hochfrequentierten Geschäftsbetrieben die jeweiligen Wahrnehmungen von Zeugen sehr zeitnah zu dokumentieren und damit in einem Grundgerüst „einzufrieren“.

      261Eines der wichtigsten Charakteristika sei an dieser Stelle deutlich betont: „EVA“ ist ausdrücklich nicht als Ersatz für persönliche Vernehmungen vorgesehen. Es ist eine Ergänzung, die es ermöglichen soll, den subjektiven Befund bei unübersichtlichen Sofortsachverhalten zu ordnen, zu kategorisieren und zu konservieren, um spätere Erhebungen im Rahmen von Vernehmungen vorzubereiten. Keinesfalls wird die Vernehmung ersetzt – auch nicht die Anhörung oder gar die schriftliche Aussage55. Sind letztere wegen anderer Verhinderungen nicht mehr zu erlangen, liegt immerhin bereits eine Aussage vor, die durchaus 1:1 in die Ermittlungsakte eingebracht werden kann.

      262Praktisch kommt „EVA“ zur Anwendung, wenn Vernehmungen unmittelbar nach Bekanntwerden eines Sachverhaltes nicht möglich sind, unabhängig von der Schwere des Deliktes. Das kann also durchaus auch die „einfache“ Kneipenschlägerei sein. Einsatzkräfte der Polizei (Wach- und Wechseldienst/Bereitschaftspolizei; insbesondere Kriminalwache) händigen den potenziellen Zeugen ein Heft aus, das sie möglichst sofort an einem ruhigen Ort allein ausfüllen sollen.

      263Das Heft wurde auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelt. Es enthält die grundsätzlichen und wiederkehrenden Fragestellungen, die in fast allen Sachverhalten verfahrensrelevant sind. Es ist selbsterklärend aufgebaut und besteht insgesamt aus 14 Seiten, wobei den Großteil Leerflächen für Eintragungen einnehmen. Direkt nach dem Ausfüllen kann es wieder der Polizei übergeben werden, ggf. zeitnah an die Dienststelle übersandt/überbracht werden. Die Mitnahme nach Hause und Abgabe zu einem (wesentlich) späteren Zeitpunkt ist grundsätzlich nicht vorgesehen, aber auch möglich.

      264Diese „Vernehmungsmethode“ wurde bereits im September 2011 im Rahmen eines Erstkontaktes zur Universität Maastricht bekannt, im Rahmen eines Feldversuches im Bundesland Hessen bis 2016 erprobt, und 2017 landesweit (dort) eingeführt. Nach dem Feldversuch hatten 200 Beamte das Modell getestet, wobei etwa 80 % zu dem Ergebnis kamen, dass es sich um ein „nützliches Werkzeug im Ersten Angriff“ handelt.56

      265Nikola Hahn warnt selbst davor (was die Autoren an dieser Stelle deutlich unterstreichen), das eigenständige Vernehmungsprotokoll als Ersatz für Vernehmungen, Befragungen, „Anhörungen“ anzuwenden. Als ordnendes Werkzeug in unübersichtlichen Sofortsituationen stellt „EVA“ sich allerdings als geniales Hilfsmittel dar, die Erinnerung potentieller Zeugen zu konservieren, zu ordnen und weitere Ermittlungshandlungen vorzubereiten. Fraglich ist allerdings die lange Einführungszeit (sechs Jahre bis zur Umsetzung in Hessen). Rechtlich und praktisch wäre eine sofortige bundesweite Umsetzung unbedenklich.

      266Die Bedenken gegen die Methode, die die Verfasser in der Vorauflage geäußert haben,57 waren mannigfaltig, da

      –Zeugen schriftlich nur das „erzählen“, was für sie subjektiv wichtig war,

      –die schriftliche Niederlegung bei mehreren Zeugen unkontrollierbar gemeinschaftlich erfolgen wird,

      –der Zeuge, der im Zweifel eine Kopie seines Bogens fertigen wird, nur noch behält (und später wiedergibt), was er dort als rudimentäre Aussage niedergeschrieben hat,

      –die Möglichkeit eines zusammenhängenden Vortrages ebenso wenig besteht wie die Möglichkeit für den Vernehmenden, zeitnah zur Wahrnehmung Fragen zu stellen.

      267Sie sind allerdings im Wesentlichen durch die Forschungsergebnisse relativiert, sofern EVA bestimmungsgemäß eingesetzt und nicht zu einem Vernehmungsersatz umfunktioniert wird.

      268Anschaulich beschreibt das Deckblatt des EVA-Heftes der hessischen Polizei das intendierte Vorgehen:58

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       2.15Polizeiliche und staatsanwaltliche Vernehmungen

      269Eine im Jahre 2009 ergangene Entscheidung verdeutlicht die Grenzen staatsanwaltlicher Vernehmungen,


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