Vernehmungen. Heiko Artkämper

Vernehmungen - Heiko Artkämper


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durch den Vernehmenden

      305Polizeibeamte und Juristen pflegen nur zu leicht die Nase zu rümpfen, wenn es um soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse geht; allerdings dürfen sie die Augen nicht davor verschließen, dass eine Vernehmung ein Kommunikationsprozess ist, bei dem die sozialen Rahmenbedingungen das Ergebnis beeinflussen.3

       Beispiel:4

      306Eine angezeigte Vergewaltigung wird aus der Sicht der Zeugin (als Opfer) und des Vernehmenden (als objektivem Ermittler) unterschiedlich empfunden. Aber auch die Vorstellungen des Vernehmenden zur Tat, zum Opfer und dessen Persönlichkeit sind ausschlaggebend: Der „aufgeschlossene“ Vernehmende, der eine gewisse Sympathie mit dem Beschuldigten und dessen Lebensgewohnheiten bei wenig Empathie mit dem Opfer hat, begreift das Verfahren als falsche Verdächtigung, Vortäuschen einer Straftat und Verleumdung. Ein eher „biederer“ Vernehmender mit Sympathie für das Opfer und wenig Verständnis für den „losen“ Lebenswandel des Beschuldigten wird hingegen eine Vergewaltigung sehen.

      307Die soziale Vorstellung des Vernehmenden, die von seinen Erfahrungen, Wertvorstellungen und Zuschreibungen geprägt wird, nimmt entscheidenden Einfluss auf den Vernehmungsverlauf und dessen Ergebnis. „Bauchgefühl“ und „Schweinehundtheorie“ determinieren unbewusst die Wahrnehmung des Vernehmenden. Unwillentlich vorhandene kollektive Bewertungsmuster – sogenannte Frames – spielen eine Rolle. Eine Beeinflussung durch sie wird nicht vollständig auszuschließen sein, jedoch muss sich der Vernehmende der Existenz und Wirkung derartiger Frames bewusst sein.

Praxistipp:
308 Frames beeinflussen ungewollt die Vernehmung; sie basieren nicht auf sachlichen Informationen. Der Vernehmende muss ihre Existenz kennen und seine Ermittlungsergebnisse vor diesem Hintergrund ständig mit den objektiven Befunden abgleichen. Selbstkritik ist hier vonnöten.

       3.7Bestätigende Informationsverarbeitung und Ankereffekt im Strafverfahren

      309Das Strafverfahren scheint in besonderem Maße von dem Gedanken der Gerechtigkeit geprägt; häufig – etwa wenn es um die Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise geht – wird durch den BGH und das BVerfG das Streben nach der objektiven Wahrheitsfindung fruchtbar gemacht, um eine Beweisverwertung zu rechtfertigen und ein materiell-objektiv richtiges Urteil zu bestätigen. All dies betrifft die Tatsachenfeststellungen, ohne aber zugleich ein „richtiges Urteil“ zu bedingen. Ein erster Schritt dahin besteht in der Wahrnehmung und Akzeptanz – vielleicht auch Berücksichtigung – von Störfaktoren bei der Entscheidungsfindung, die in anderen Wissenschaften anerkannt sind.5

       3.7.1Die „richtige“ Entscheidung

      310Die gerade genannten Bestrebungen sind allerdings nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wann überhaupt eine Entscheidung/ein Urteil „richtig“ ist. Einige denkbare Antworten lauten

      –sofern sie/es mit der Wahrheit (welcher?) korreliert,

      –alle Verfahrensbeteiligten damit zufrieden (oder gar einverstanden) sind,

      –sofern sie/es dem Gesetz entspricht (und in einem gesetzmäßigen Verfahren zustande gekommen ist),

      –sie/es richtig begründet ist,

      –wenn andere dieselbe Entscheidung/dasselbe Urteil gefällt hätten, bzw.

      –sie/es das Ziel gleichmäßigen und der Gleichbehandlung verpflichteten Strafens erreicht.

      311Alle Varianten sind mehr als angreifbar und zum Scheitern verurteilt: Tatsachenfeststellungen sind vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt, die Soziologen und Psychologen (er)kennen, die aber der Gedankenwelt der Kriminalisten häufig vorenthalten bleiben:6 Begriffe wie „Schulterschlusseffekt“, „bestätigende Informationsverarbeitung“, „Inertiaeffekt“ und „Ankereffekt“ ziehen sich durch das gesamte Strafverfahren und prägen die Entscheidungsfindung. Schünemann hat – was als Arbeitshypothese durchaus tauglich erscheint – die Frage aufgeworfen: „Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter?“7

      312Auch Sommer widmet sich der Emotionalität der Entscheidungsfindung und zitiert aus dem Erfahrungsbericht eines Schöffen: „Ich habe Urteile mitgetragen, die mir im Gerichtssaal sinnvoll vorkamen, die ich aber eine halbe Stunde später, daheim vor meiner Freundin, kaum mehr rechtfertigen konnte.“8

       3.7.2Phänomene der Entscheidungsfindung

      313Einige relevante Phänomene der Entscheidungsforschung und -findung sollen hier – zunächst losgelöst von ihrem strafrechtlichen Kontext – vorgestellt werden.

       3.7.2.1Schulterschlusseffekt

      314Der Begriff des Schulterschlusseffektes klingt kumpel- und laienhaft, kann aber verwissenschaftlicht auch als Theorie des sozialen Vergleichsprozesses bezeichnet werden; dahinter verbirgt sich die Feststellung, dass Menschen insbesondere in Situationen, in denen sie eine Entscheidung treffen müssen und sich dieser nicht sicher sind, dazu tendieren, sich an von ihnen als kompetent und zuverlässig empfundenen Vergleichspersonen zu orientieren.9 Informationen (über sich selbst) werden durch den Vergleich mit anderen gewonnen, um ein realistisches Bild zu erhalten; dabei findet ein sozialer Vergleich insbesondere dann statt, wenn eine adäquate Selbsteinschätzung erwartet wird und objektive Maßstäbe für eine Entscheidung fehlen.

       3.7.2.2Prinzip der bestätigenden Informationsverarbeitung

      315Das Prinzip der bestätigenden Informationsverarbeitung umfasst bei genauer Betrachtung zwei Phänomene, die abhängig davon sind, ob eine neue Information mit der vorhandenen Vorstellung übereinstimmt oder von dieser abweicht; es ist Ausfluss der Bestrebung nach einem harmonischen, angenehmen Gefühlszustand, der kognitive Dissonanzen zu meiden sucht. Informationen werden selektiv gesichtet, selektiv wahrgenommen und selektiv bewertet. Das Phänomen tituliert teilweise auch unter dem Begriff der Theorie der kognitiven Dissonanz.10

       3.7.2.2.1Verarbeitung konsistenter Informationen

      316Die Verarbeitung konsistenter Informationen erfolgt vor diesem Hintergrund in vermehrter, positiver, aufwertender, ja teilweise euphorisierender Form: Jeder kennt das Phänomen, dass der Straßenverkehr anscheinend nur noch aus Cabrios besteht, wenn man sich zum Kauf eines Cabrios entschlossen hat und auf der Suche ist. Tatsächlich hat sich die Struktur des Automarktes allerdings nicht verändert; der Betroffene nimmt lediglich die konsistenten Informationen (= Cabrios) vermehrt wahr und wertet sie auf. Konsistente Informationen werden so mit einem höheren Stellenwert versehen.

       3.7.2.2.2Verarbeitung inkonsistenter Informationen

      317Diametral entgegengesetzt erfolgt die Verarbeitung inkonsistenter Informationen, die Wohlempfinden


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