Vernehmungen. Heiko Artkämper

Vernehmungen - Heiko Artkämper


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anderen offenbart sie die fehlende Professionalität und die damit denknotwendig verbundene Trennung von Person und Sache.

      404Bender/Nack/Treuer, die als führende Juristen bei der Frage der Tatsachenfeststellung vor Gericht gelten und als ehemalige Richter (am OLG bzw. BGH) über einen parteiischen Zweifel erhaben sind, haben das Dilemma des Berufszeugen „Polizeibeamter“ zutreffend beschrieben: „Sachverstand und Übung machen ihn in mancher Hinsicht zu einem überdurchschnittlich zuverlässigen Zeugen. Vorverständnis, Berufsehre, Gruppenkonformität und Erfolgsdruck aber können ihn manchmal zu einem für den Beschuldigten problematischen Zeugen werden lassen.“31 Sie gelangen daher nachvollziehbar zu Plus- und Minuspunkten, derer sich der Beamte bewusst sein muss:32

      Bonus: Erfahrung, Aufmerksamkeit und Interesse

      Malus: Vorverständnis, Routinegeschehen, Berufsehre und Gruppenkonformität.

      405Dass derartige Determinanten bewusst oder unbewusst eine Rolle spielen und das Aussageverhalten beeinflussen können, kann kaum bestritten werden; die damit verbundenen Gefahren werden minimiert, wenn sie erkannt werden.

       4.5.3Notwendige Verteidigung bei Polizeizeugen?

      406Polizeibeamte treffen in Hauptverhandlungen auch vor dem Einzelrichter immer häufiger auf Verteidiger, was zum einen auf die Existenz von Rechtsschutzversicherungen zurückzuführen ist, zum anderen aber auch auf die Tendenz der Rechtsprechung, in immer größerem Maße die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigung zu bejahen.

Praxistipp:
407 Aktuell gibt es bereits Entscheidungen, die einen Fall notwendiger Verteidigung bereits dann annehmen, wenn alle Belastungszeugen Polizeibeamte sind und/oder Aktenkenntnisse erforderlich scheinen.33 Bei der Rekonstruktion polizeilicher Vernehmungen, in denen sich der Beschuldigte geständig eingelassen hat, dürften beide Voraussetzungen regelmäßig erfüllt sein.

       4.5.4Strategien und Strukturen aggressiver Verteidigung gegenüber Polizeibeamten

      408Die Erwartungen und Anforderungen, die an einen Polizeibeamten als Zeugen vor Gericht gestellt werden, sind sicherlich hoch. Auf der anderen Seite gerät er regelmäßig „in das Visier” der Verteidigung, da seine Ermittlungen mit dazu beigetragen haben, dass diese Hauptverhandlung gegen den Angeklagten stattfindet. Insoweit muss der Polizeibeamte wenigstens grob mögliche Verteidigungsstrategien und – differenzierter – die Strukturen und Befragungstaktiken (er)kennen.

      409Eine gegenüber Polizeibeamten aggressive Verteidigung erklärt sich vor dem Ziel, einen Rollentausch durchzuführen: Der Polizeibeamte soll vom Zeugen zum Angeklagten gemacht werden, wobei gerne ausgenutzt wird, dass selbst Polizeibeamte den (eingeschränkten) formalen Rechtmäßigkeitsbegriff nicht oder nicht hinreichend genau kennen.

      410Das Fragerecht wird dazu benutzt, durch suggestives Verhalten und/oder Suggestivbemerkungen den Zeugen zu verunsichern („Sie müssten doch wissen, dass …”, „es gehört zu Ihren Berufspflichten, worauf ich Sie ausdrücklich hinweise …”). Diese sind hier weniger gefährlich als gewisse suggestive Verhaltensweisen. Zu Letzten zählt der sogenannte Sieben-Sekunden-Trick, bei dem versucht wird, den Zeugen dazu zu bringen, sich den Erwartungen des Fragenden anzupassen und wunschgemäß suggestive Lücken in der Frage auszufüllen.

       4.5.4.1Verteidigungsstrategien

      411Teilweise wird der Versuch unternommen, das Verteidigungsverhalten als Verteidigungsstrategien zu kategorisieren und deren Merkmale aufzuzeigen, um Empfehlungen für Reaktionen des Zeugen zu geben.34 So werden u. a. eine Verhinderungs-, Verunsicherungs-, Rollentausch-, Provokations-, Detail- und eine Rechtswidrigkeitsstrategie unterschieden.

      Damit dürfte dem Polizeibeamten für seine Zeugenrolle wenig geholfen sein, zumal die Strategien kombinierbar und ihre Grenzen fließend sind.

       4.5.4.2Strukturelle Aspekte aggressiver Verteidigung im Rahmen der Befragung und Reaktionsmöglichkeiten von Polizeibeamten

      412Sinnvoller erscheint es, die hinter einer aggressiven Befragung stehenden Strukturen darzustellen, um adäquate Reaktionen des Zeugen auf derartige Aktionen zu ermöglichen.

       4.5.4.2.1Unterbrechungen, Vernehmungsversuche und Vorwürfe

      413Teilweise kommt es zu Unterbrechungen des freien Berichts (durch Fragen), Vernehmungsversuchen („jetzt fangen wir noch mal ganz von vorne an”) und Vorwürfen dergestalt, dass der Verteidiger keine Fragen stellt, sondern Statements abgibt (die keine Frage enthalten). In diesen Fällen wird dann häufig auch die Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen unterstellt bzw. suggeriert.

Praxistipp:
414 Der Zeuge sollte auf die Regelungen des § 69 Abs. 1 und 2 StPO verweisen; wird keine Frage gestellt, so besteht auch keine Notwendigkeit für eine Antwort (und erst recht nicht für eine Konversation).

       4.5.4.2.2Erforschung der Persönlichkeit und des Privatlebens

      415Eine Erforschung der Persönlichkeit findet häufig schon bei der Angabe der Personalien statt; der Zeuge wird – nach Angabe des Dienstortes – zu seinem Wohnort befragt oder diese Frage verkappt (z. B. als Frage nach der Angabe der Festnetztelefonnummer) gestellt.

Praxistipp:
416 § 68 StPO setzt hier eindeutige Grenzen.

      417Grundsätzlich zulässig sind hingegen solche Fragen, die sich auf den beruflichen Werdegang und möglicherweise erworbene Qualifikationen des Polizeibeamten beziehen; eine Grenze bilden hier solche Antworten, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen (§ 54 StPO).

      418Fragen zum Leumund (Vorstrafen, Disziplinarverfahren …) werden von den Gerichten regelmäßig zugelassen, obwohl sie nur in den Grenzen des § 68a Abs. 2 StPO zulässig sind: Es gibt keinen guten oder schlechten Leumund; dies gilt selbst dann, wenn der Zeuge einschlägige Vorstrafen (falsche Verdächtigung, Aussagedelikte …) aufweist.

      419Fragen, die den darüber hinausgehenden persönlichen Lebensbereich des Zeugen (Familienstand, Religion, Vereinszugehörigkeit …) betreffen, oder sich gar in dessen Intimbereich erstrecken (sexuelle Vorlieben …), sind nur zulässig, wenn deren Beantwortung zur Erforschung der Wahrheit unerlässlich ist. Beliebt sind auch – insbesondere bei weiblichen Zeugen – ausdrückliche oder stillschweigende Vorwürfe sexueller Großzügigkeit bei Vorgesetzten zur Förderung der Karrierechancen („Sie sind noch so jung und schon Kriminalhauptkommissarin! Haben Sie einen Mentor in Ihrer Behörde?”).


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