Mein Überlebenslauf. Eva-Maria Admiral
du musst doch nichts beweisen“, sagt sie. „Und jetzt ab ins Bett!“
Ja, was hatte ich mir eigentlich gedacht? Damals als sechsjähriges Mädchen? Es war schlichtweg meine einfache, kindliche Logik. Ich glaubte, wenn ich hundert Längen schwimme, dann sehen mich meine Eltern mit anderen Augen. Sie werden mich bewundern. Sie werden stolz auf mich sein, so, wie auf meinen Bruder. Wenn ich solch eine Strecke schaffe, dann wird alles gut. Meine Eltern haben jedoch von meinem Kraftakt im Schwimmbad nie erfahren. Doch wenigstens konnte ich an diesem Abend einschlafen.
Als Kind hatte ich Angst vor dem Alleinsein. Und im Kindertrakt war ich allein. Kindertrakt, so nannten meine Eltern den Teil unseres Hauses, in dem mein Bruder und ich unsere Zimmer hatten. Der Flur bis zum Schlafzimmer meiner Eltern war lang und nachts unheimlich. Wenn alle schliefen, gruselte es mir vor jedem Geräusch. Bei jedem Knacken, jedem unbekannten Geraschel drückte ich mich tiefer in mein Kissen. Immer mit dem Gedanken: Jetzt kommt gleich etwas Böses und niemand wird dir helfen.
Das Haus meiner Eltern in Niederösterreich war ein weitläufiges Anwesen. Ich liebte den großen Park, die alten Bäume und natürlich die Sprossenwand im Kindertrakt. Immer wieder wurde am Haus angebaut. Auf dem Grundstück gab es noch weitere Gebäude, die für Feiern oder Jagdfeste genutzt wurden. In den Zimmern unseres Hauses hingen wertvolle Ölgemälde. Dicke Teppiche dämpften jeden Schritt. Mein Vater war ein passionierter Jäger. Überall im Haus waren Geweihe an die Wände genagelt. Jedes Tier hatte er selbst erlegt, viele davon in unserem eigenen Revier.
Direkt gegenüber dem Wohnhaus lag die Firma.
Mein Vater führte sie erfolgreich, seit sein Vater sie ihm übergeben hatte. Seit acht Generationen war sie in Familienbesitz. Die Produkte werden heute in alle Welt exportiert. Vor Jahrhunderten war die Firma lediglich eine Mühle. Immer wurde sie von einem Sohn der Familie weitergeführt. Töchter zählten bei geschäftlichen Dingen nur die Hälfte. Das Erbteil aller weiblichen Vorfahren wurde in der Regel in die Firma einverleibt.
Wie wahrscheinlich für die meisten Töchter dieser Welt, war auch mein Vater für mich ein bisschen wie Gott. Der Herr Direktor, dem alle gehorchten, der immer wusste, wo es langging. Schon als Kind merkte ich, dass viele Menschen von ihm abhängig waren und anscheinend nie widersprachen. Er hatte das Sagen, die Welt drehte sich um ihn – und er drehte die Welt. In meinen Augen gab es nichts, was mein Vater nicht konnte oder nicht ändern konnte. Er traf die einflussreichsten Leute. Wenn wir in ein Restaurant gingen, hatte ich das Gefühl, das ganze Lokal drehte sich um ihn. Er war eigentlich klein und dick, aber in meinen Augen war das stattlich, bedeutend. Seine Maßanzüge, sein Maßschuhe, seine Hemden mit Monogramm zeugten von Stil und Einfluss.
Jeden zweiten oder dritten Samstag im Monat gab es Gesellschaftsabende in unserem Haus. Häufig luden meine Eltern auch zu Empfängen ein. Dann kamen Anwälte, Geschäftsleute, Bankdirektoren mit ihren Frauen. Sie tranken teure Weine und aßen vorzügliches Essen. Mein Bruder und ich blieben im Kindertrakt. Wenn die Gäste kamen, ordnete meine Mutter an: „Bringt die Kinder weg. Die Gäste kommen.“
Im Laufe der Zeit hatte ich ein Gespür dafür entwickelt, wann bei solchen Anlässen ein bestimmter Pegel erreicht war. Wenn das Lachen der Gäste lauter wurde, wusste ich, dass alle ziemlich angetrunken waren. Dann schlich ich manchmal im Nachthemd auf Zehenspitzen zum Salon. Ich klopfte höflich an, trat ein und bat in die Runde: „Lasst mir noch was übrig von den guten Sachen.“ Die Gäste fanden das herzallerliebst. Und am nächsten Morgen hatte die Haushälterin tatsächlich Leckereien für uns im Kühlschrank.
Unsere Erziehung lag größtenteils in den Händen von Kindermädchen, Lehrern und später im Internat von Nonnen. Meine Mutter arbeitete in einem schon damals erfolgreichen Unternehmen in Wien. Ihr Vater führte dort die Geschäfte. Wenn meine Mutter abends nach Hause kam, ging sie meist gleich wieder weg zu einem Dinner oder einer gesellschaftlichen Verpflichtung. Obwohl sie selbst auch berufstätig war, erfüllte sie die klassische Frauenrolle dieser Zeit nahezu bis zur Perfektion. Eine Frau hatte hübsch auszusehen und ihrem Mann den Rücken zu stärken. So hatte es ihr auch ihre Mutter vorgelebt. Meine Mutter achtete sehr auf Stil und Eleganz. Sie liebte Kunst, Theater und guten Rotwein oder Sekt. Sie trug immer die neuste Mode. Ihre Frisur saß perfekt. Es war unmöglich, sie einfach einmal zu umarmen. „Ach, Eva-Maria, bittschön, meine Frisur!“, wehrte sie dann ab und klopfte ihre Haare fest.
Ich lernte sehr früh, dass es für den Wert eines Mädchens, einer Frau enorm wichtig war, schlank zu sein, besser noch dünn – und hübsch. Es verging kein Tag, an dem nicht dreimal täglich auf die Waage gestiegen wurde. Eine Frau, die eine Kleidergröße über 36 trägt, muss schon sehr undiszipliniert sein, war ein unausgesprochenes Dogma in unserer Familie. Meine Mutter trug stets Größe 34 und hielt eisern ihre 43 Kilo.
Meine Großeltern väterlicherseits lebten in der Villa gleich nebenan. Als Kinder waren mein Bruder und ich dort häufig zum Mittagessen. Meine Großmutter liebte meinen Bruder heiß und innig. Mein Großvater war ein engagierter Nazi in Niederösterreich gewesen. Die Flagge des Führers lag bis zu seinem Tod in seinem Schlafzimmer. In dieser Tradition war nur der Sohn von Bedeutung – als Stammhalter, das starke Rückgrat der Familie. Diese seit Generationen geprägte Hierarchie setzte sich auch in meiner Familie fort. Mädchen würden schließlich nicht die Firma weiterführen.
Mein Vater war ein Produkt von Herkunft und Tradition. Er war ein Mensch, der andere sehr auf Distanz hielt, er ließ nur wenige Menschen an sich heran. Sein Leben war die Firma. Die Firma war er. Meine Mutter nannte er Zwerg. Das war sein Lieblingsspitzname. Ich war bei ihm die Minkakatze.
Als ich in den Kindergarten kam, wunderte ich mich sehr darüber, dass andere Kinder von ihren Eltern gebracht oder abgeholt wurden. Ich kam und ging immer allein. Ich liebte meine Eltern sehr. Doch die Wärme und Geborgenheit, die ein Kind braucht, konnten sie mir nicht geben. Zudem war ich nur ein Mädchen.
Die weitaus größere Aufmerksamkeit stand meinem Bruder zu. Zu ihm hatte ich bereits als Kind ein sehr distanziertes Verhältnis, obwohl wir nur vier Jahre auseinander waren. Wir hatten keine sonderliche Geschwisternähe. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir viel miteinander gespielt hätten. Meine Eltern förderten diesen Abstand. Ich erinnere mich an seine aufgestellten Zinnsoldaten im Flur des Kindertraktes. Er hatte einmal sehr schön seine Kompanien geordnet und die Reiterdivision postiert. Und ich stampfte wütend über die Armee und hinterließ im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlachtfeld. Daraufhin verprügelte mich mein Bruder und band mich an der Heizung fest.
Als ich meine blauen Flecken meiner Mutter zeigte, sagte sie: „Tja, Kindchen, das hast du nun davon. Man zerstört nicht das Werk seines Bruders.“
Mein Bruder war der hübsche Bub mit den wunderschönen Augen, auf den meine Verwandten bei Besuchen geradezu hinsteuerten. Mit seinem schönen Gesicht bekam er einmal eine Kinderrolle in einem Werbespot. Ich kam mir neben ihm ein bisschen wie eine Vogelscheuche vor. Ich war ein kleines Mädchen mit dünnen Haaren, blassen Augen und einem leicht kränklichen Gesicht.
Als Kind schickten mich meine Eltern in eine Art Erziehungscamp des österreichischen Turnerbundes. Meine Eltern fanden es sehr vorteilhaft für mich, dort den Sommer zu verbringen. Es sei gut für meine Erziehung. Das gehöre dazu. Das müsse man machen, sagten sie. Das Erziehungscamp lag am Turnersee, was großartig war. Denn ich liebte das Schwimmen. Wir lernten marschieren, salutieren, die Fahne zu hissen, in Reih und Glied stehen. Aber natürlich trieben wir auch viel Sport. Für mich war es wie eine Art Ferienlager an einem Badesee. Es machte Spaß, vor allem weil ich zwei Freundinnen mitnehmen durfte.
Nach der Schule und auch abends verbrachte ich die meiste Zeit alleine. Ich träumte häufig sehr schlecht. In meinen Albträumen setzten mich meine Eltern aus, sperrten mich aus, vergaßen mich irgendwo oder begruben mich. Einmal hatte ich wieder einen dieser Albträume. Ich schreckte aus den Kissen hoch und fand nicht wieder in den Schlaf. Da nahm ich all meinen Mut zusammen, lief über den dunklen, langen Flur zum Schlafzimmer meiner Eltern. Vorsichtig klopfte ich an.
Als ich ein müdes Ja, was ist? vernahm, weinte ich. Ich bat darum, bei meinen Eltern schlafen zu dürfen. Wenn du bei uns schlafen willst, dann musst du vor der Tür liegen, war die Antwort. Meine Angst, über den langen Flur wieder zurück in den Kindertrakt gehen