Mein Überlebenslauf. Eva-Maria Admiral
eine große Stärke von mir, mich in andere Welten zu denken.
Die emotionale Kühle meiner Eltern mir gegenüber und das Alleinsein führten dazu, dass ich im Laufe meiner Kindheit gewisse Strategien entwickelte. Bis ich neun Jahre alt war, stellte ich mir vor, dass neben mir immer eine Kamera mitlief. Sie filmte mein Leben. So war ich nie allein. Ich dachte mir oft auch ganze Theaterstücke aus. Meist war ich der Kommissar, der irgendeine Ungerechtigkeit aufdeckte. Manchmal spielten auch Freundinnen mit. Dann verteilte ich die Rollen und war der Regisseur. Dabei achtete ich darauf, dass ich selbst keine typischen Mädchenrollen spielte, etwa eine Prinzessin. Ich verkörperte eher starke Charaktere, starke Männer. Mein großes Vorbild war Pippi Langstrumpf aus dem Fernsehen. Sie hatte eine herrliche Sicht auf die Dinge, einfach und ganz nach meinem Geschmack: Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.
Als Kind findet man immer eine Begründung für das Tun der Eltern. So dachte ich auch, dass meine Eltern einfach so erfolgreich waren, deshalb hatten sie keine Zeit für mich. Deshalb schickten sie ihre Kinder auch aufs Internat. Ich glaubte auch, wenn ich doch nur besser wäre, nicht so oft krank, wenn ich mich doch nur mehr anstrengen würde, dann würden sie mich ebenso wie meinen Bruder lieben. Doch der Grund, zumindest für die Distanziertheit meiner Mutter in meiner Kindheit, war meine Existenz an sich. Das erfuhr ich erst später, als mir Verwandte von meiner Geburt erzählten.
Nach dem, was mir diese Verwandten erzählten, wollte meine Mutter nach meinem Bruder keine Kinder mehr, schon gar keine Tochter. Wichtig war ein Sohn als Nachfolger für die Firma und Stammhalter. Sie habe mehrere Abtreibungen gehabt. Als sie mit 43 Jahren mit mir schwanger wurde, habe sie sich in den folgenden Monaten fast zu Tode gehungert. Während der Schwangerschaft wog sie nur 45 Kilogramm.
Ich kam vier Monate zu früh auf die Welt. Mein Überleben war nicht sicher. Ich kam auf die Frühgeborenenstation. Fast ein Jahr lang lag ich im Krankenhaus. Ohne Berührungen von meinen Eltern. Sie besuchten mich kaum. Das sei damals so gewesen, wurde mir erzählt. Man wollte besonders vorsichtig sein, um mich vor Infektionen zu schützen.
Als ich nach Hause entlassen wurde, war ich für meine Mutter eine schlichte Überforderung. Weiterhin sollte man mich nur mit sterilen Handschuhen und Schutzmantel berühren. Ich aß sehr schlecht und bereitete ihr große Mühe. Sie verlor die Geduld. Das könne man nicht von ihr verlangen, protestierte sie.
Eine Pflegerin wurde eingestellt. Sie kam nun mehrmals täglich, um mich zu versorgen. Den Rest der Zeit lag ich in meinem Bettchen und wuchs vor mich hin.
Später, als Erwachsene, wollte ich von meiner Mutter mehr über die ersten Jahre meines Lebens wissen. Doch sie druckste jedes Mal herum und wechselte schnell das Thema. Als ich eines Tages das Babybuch meines Bruders in einem Schrank fand, versetzte es mir einen Stich. Darin hatte meine Mutter alles fein säuberlich dokumentiert. Was er ab wann gegessen hatte. Was er dann und dann Neues gelernt hatte. Jedes einzelne Zähnchen, das gewachsen war, hatte sie protokolliert. Solch ein Buch über meine ersten Jahre habe ich nie gesehen. Doch ich traute mich nicht, meine Mutter zu fragen, ob es je existierte.
Warum ich mein Leben lang einen kaputten Darm haben würde, erfuhr ich vierzig Jahre später. Ich saß mit meiner Mutter im Wohnzimmer meiner Eltern. Wir sprachen über ihre schwierige Ehe. Es war spät und ich wollte ins Bett. Meine Mutter wirkte schon leicht angetrunken und sehr redselig.
„Eva-Maria, du weißt ja gar nicht, wie schwer das mit dir war“, fing sie unvermittelt an. „Du wolltest ja nicht essen. Du hast nur 500 Gramm gewogen, als du geboren wurdest.“ Unbedingt hätte ich so früh auf die Welt kommen wollen. Ich hätte es ja immer schon sehr eilig gehabt.
Jeden Tag hätte sie mich gewogen, um zu sehen, ob ich zunähme.
„Was glaubst du, was das für ein Aufwand war? Dieses dauernde Füttern. Und dann isst du nicht genug! Ich war so wütend.“
Also beschloss meine Mutter wohl, mich so lange zu mästen, bis ich nicht mehr konnte. Sie habe ja nicht geahnt, dass mein Darm dann platzen würde. Wer denkt denn gleich an so etwas.
KAPITEL 2
Ich bin eine Leistungstochter
Als mein Bruder nach der Grundschule in ein renommiertes und strenges Jungeninternat kam, hoffte ich, dass sich an meiner Situation etwas verbessern würde. Doch das Gegenteil trat ein. Mutter und Vater waren jetzt noch viel weniger daheim. Als Kind schlussfolgerte ich: Aha, nichts hat sich verändert. Doch wenn mein Bruder ins Internat darf, dann will ich auch unbedingt dorthin. Dann ist das wahrscheinlich das Bessere.
Mit neun Jahren kam ich dann auf ein katholisches Mädcheninternat. Jetzt bekomme ich das, was mein Bruder hat, dachte ich. Eine tolle Ausbildung und eine neue Familie. Schließlich wohnt man dort zusammen. Sicher wird es immer jemanden geben, der auf mich aufpasst. Ich werde nicht mehr allein sein. Ich war hoffnungsfroh. Alles würde gut werden. Daher protestierte ich auch nicht, als meine Mutter sagte: „Ab September gehst du in Wien aufs Internat.“ Ich machte einen Luftsprung.
Mein Bruder war sehr schlecht in der Schule. Also nahm ich mir vor, bessere Noten zu bekommen. Lauter Einser. Meine Eltern würden stolz auf mich sein.
Meine Mutter kaufte mir die Schuluniform. Ich hatte mich auch schon ein wenig vorbereitet. Kinderbücher, die in einem Internat spielten, verschlang ich regelrecht. Deshalb war mir klar, dass ich in Wien auch eine beste Freundin finden würde. So war das immer in den Geschichten. Nicht, dass ich bis dahin keine Freundin gehabt hätte. Aber ich durfte kaum jemanden mit nach Hause bringen. Daher dachte ich, dass meine neuen Freundschaften viel enger werden würden. Ich stellte mir das Internatsleben sehr romantisch vor. Ganz viele Freundinnen, nette Klosterschwestern, man wohnt in einem Schlafsaal und ist nie mehr einsam. Ein Traum.
Ich packte nur sehr wenige persönliche Dinge ein. Aus rein praktischen Gründen. Schließlich würde ich ja nur einen Schrank zur Verfügung haben. Zahnbürste, ein paar Kleider und natürlich die Schuluniform. Dann stiegen wir in den weißen Mercedes meines Vaters, und los ging die Fahrt in eine neue Welt. Ein neues Leben.
Ich erinnere mich, dass die Begrüßung mit den Nonnen und meinen Eltern sehr sachlich ablief. Das ist unsere Tochter, die übergeben wir Ihnen hiermit. Herzlichen Dank und Auf Wiedersehen.
Wir wurden in Gruppen eingeteilt und Schwester Brigitte stellte sich vor. Sie war die für uns zuständige Nonne. Dünn, streng zurückgekämmtes Haar, gebeugte Haltung, schmaler Mund und sehr unreine Haut. Ihre Einweisung war kurz und knapp. Hier ist dein Bett. Hier ist dein Nachtkästchen, dein Kleiderschrank. Die Duschen sind den Gang hinunter. Das war’s.
Den Putzraum hingegen stellte uns Schwester Brigitte in allen Einzelheiten vor. Sie nahm sich viel Zeit dafür. Die Nonne erklärte, dass die Aufgaben im Internat auf die Schüler verteilt wurden. Es gab diesen Putzraum, eine Putzabteilung, die Putzmittel und die Putzliste. Der Geruch des Putzraumes hat sich bis heute bei mir eingebrannt. Die Putzliste war eine Art Rad. Die einzelnen Abschnitte standen für die verschiedenen Putzgruppen, Zeiten und Putzabschnitte. Das Treppenhaus, die Studiensäle, die Waschräume. Einmal in der Woche wurde das Rad weitergedreht.
Unser Gruppenzimmer war schlicht eingerichtet. Persönliches durfte nicht aufgehängt werden. Das versteckten wir in unseren Betten, Schränken oder unseren Mänteln. Ich kam mit Claudia aus dem Burgenland auf ein Zimmer. Im Laufe der Zeit wurden wir enge Freundinnen und Vertraute. Anfangs weinten noch sehr viele Mädchen vor Heimweh. Später wegen ganz anderer Dinge. Wenn auch mir das Herz schwer wurde, dachte ich: Ich halt das alles durch. Mein Bruder hält das schon vier Jahre durch. Ich werde nicht weinen. Ich werde hier nicht weggehen, egal, was passiert. Natürlich wollte ich vor allem meinen Eltern beweisen, wie stark ich war.
Das Internat mit der Schule war ein sehr altes Gebäude mit einem Park und einer hohen Mauer rundherum. Wir Mädchen nannten sie schnell die Gefängnismauer. Kein Rein-, und noch wichtiger, kein Rauskommen. Das Internat selbst war überraschend modern. Die Räume waren niedrig und wir hatten – im Gegensatz zu dem Internat meines Bruders – warmes Wasser.
Morgens läutete uns eine Glocke sehr früh aus dem Schlaf. Vier Minuten später wurde kontrolliert, ob wirklich alle aufgestanden waren. Wer sich noch