Mein Überlebenslauf. Eva-Maria Admiral
unterschrieben hatte, und zog mit Claudia um die Häuser. Teilweise verbrachten wir die Wochenenden damit, in Diskotheken abzuhängen. Wir lernten Jungs kennen. Einer dieser Jungen ging in die Schule gegenüber: Alexander. Mein erster Freund. Meiner Mumi hätte er gut gefallen. Wohlhabende Familie, Anwalt, schöne Villa.
Die Nonne hatte mich gesehen, wie wir uns durch die Zaunlatten unterhielten. Später musste ich zu ihr zum Verhör.
Sie fragte mich, ob ich Kontakt aufgenommen hätte zu männlichen Wesen. Ich gab das relativ schnell zu. Die Meinung der Nonne über mich war mir längst egal. Doch ihre abfällige Bemerkung, Du weißt, dass du jetzt in der Hölle landest, beschäftigte mich sehr.
Ich glaubte nun, dass ich keine andere Wahl mehr hätte. Ich konnte mich für das Leben entscheiden, also weiter mit Alexander durch den Zaun reden, oder für Gott. Allerdings, den Worten der Nonne nach wartete nun auf mich die ewige Verdammnis. In Ordnung, dachte ich. Wenn ich ohnehin in der Hölle lande, dann muss ich jetzt alles tun, damit ich wenigstens auf Erden das Leben finde.
Claudia und ich beschlossen, alles, was verboten war, irgendwie zu erreichen. Das sahen wir als unsere einzige Chance, im Leben voranzukommen. All die untersagten Dinge nun zu tun, wie weiter mit Jungen sprechen, rauchen, trinken. Wir versorgten uns am Wochenende mit Marihuana, um uns für die Disco einzurauchen. Das half, für einen Moment unsere Probleme wegzublasen.
Liebe Mumi,
ich sitze im Zimmer und frage mich, wo mein Ehrgeiz geblieben ist. Wahrscheinlich ist er in der Müdigkeit versunken. Ich bin wie immer den ganzen Tag müde. Es ist so eine Art von Teufelskreis. Den ganzen Tag bin ich müde, in der Nacht kann ich nicht schlafen. Folglich habe ich zu wenig Schlaf. Daher bin ich wieder müde.
Heute muss ich am Abend unbedingt noch lernen, da ich übermorgen eine zweistündige Englisch-Schularbeit habe. Aber ich kann mich so schwer aufraffen. Das Internat geht mir schwer auf die Nerven. Ab sieben Uhr dürfen wir die Zimmer nicht mehr verlassen. Die Raucherecke haben sie uns auch gesperrt. Das Einzige, was sie damit erreichen, ist, dass wir alle im Klo rauchen. Wie in einem Gefängnis.
Ich bin sehr traurig. Traudl, mein früheres Kindermädchen, ist ermordet worden. Ich möchte Dir jetzt nichts Näheres darüber erzählen, besser später am Telefon. Ich bin noch zu verwirrt, um darüber zu schreiben.
Ich sitze also da und alles ist so leer. Ein Hauch von Bitterkeit und sonst nichts. Verbittert über mich, meine Unfähigkeit, meine Schwächen, meine Charakterschwächen, meinen Egoismus und über die anderen Menschen um mich herum. Da fällt mir ein Spruch von Karl Popper ein: „Im Namen der Toleranz sollten wir daher das Recht beanspruchen, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“
Überall Paradoxie und Konfusion. In mir besonders. Ich bin manchmal so kalt. Wenn ich weine, spüre ich, dass ich lebe. Meine Ideale und meine Illusionen können so leicht zerstört werden und vielleicht passen sie nicht mehr in die heutige Zeit. Vielleicht passe ich nicht mehr hierher? Aber das alles sind nur Ausflüchte. Milliarden Menschen passen, nur ich soll nicht passen? Was bin ich denn schon? Ein Steinchen im ganzen Menschensalat.
Ich ärgere mich immer so, dass ich manchmal glaube, ich bin so wichtig, meine Probleme sind so wichtig. In Wirklichkeit haben so viele andere Menschen viel größere Probleme. Steig einmal auf einen Turm und blicke hinab. Du siehst viele, viele Häuser. Überall wohnen Menschen mit ihren Problemen.Und jeder glaubt doch tatsächlich, seine Probleme sind die wichtigsten.
Evemy
Liebe Mumi,
ich habe Papa und Mutti einen Brief geschrieben. Ich habe die Zustände im Internat beschrieben. Vater hat gesagt, er wird versuchen, nächstes Jahr eine andere Lösung zu finden. Das kommende Jahr ist für mich ein Problem, über das ich täglich brüte. Ich muss einen Ausweg finden. Das habe ich Papa und Mama geschrieben.
Es ist Studierzeit, daher herrscht in diesem Haus der Aggressionen, der Depressionen und des Unfriedens zumindest äußerlich einmal Ruhe. Ruhe, um Dir zu schreiben. Weißt Du, was mir aufgefallen ist: Wenn wir uns sehen, denke ich nie an die vielen Fragen und Probleme, die ich eigentlich erzählen wollte. Denn in dem Moment sind sie plötzlich nicht mehr wichtig. Erst später, wenn ich allein in der U-Bahn oder im Zug sitze, fällt mir ein, was ich doch eigentlich alles erzählen wollte.
Unter all diesen vielen, vielen Menschen, die hier auf engstem Raum zusammengepfercht sind, finde ich niemanden, der auf meiner „Wellenlänge“ liegt. Der Fehler liegt sicherlich bei mir. Ich bin mir darüber ganz im Klaren, da ich immer oder meistens das Absolute anstrebe. Einen Menschen, den es hier nicht geben kann. Unter diesen Umständen schaltet sich bei mir ein Abwehrmechanismus ein, der das Leben leichter macht. Aber der leichteste Weg ist nicht immer der beste.
Ich gebe mich hier ganz anders, als ich wirklich bin. Ich gerate manchmal sogar unter den Einfluss dieser Menschen und dann bin ich so wie sie. Zwar nur für eine kurze Zeit, da mich dann andere Menschen, so wie Du, wieder aus diesem Einflussbereich reißen: Aber sie genügt, um mir meine Schwächen zu zeigen. Die Schwäche, meine Prinzipien einfach umzustoßen, um in einer solchen Gruppe existieren zu können, in der ich ja leben muss.
Deine Evemy
KAPITEL 5
„Frech, laut und sie lacht“
Die Nonne, der Drill, der Schmerz, die Kälte und der Hass. Kein Kontakt zu den Eltern, keine Bezugsperson, keine liebende Hand im Internat. Keine Person, die sich dort wirklich für mich interessierte. Keine Möglichkeit, sich irgendjemandem anzuvertrauen. Vierzig Jahre nach meiner Internatszeit und dem Bekanntwerden der Kindesmisshandlungen in vielen österreichischen Internaten und Waisenhäusern, im Jahr 2010, werden ehemalige Opfer in den Medien aufgefordert, sich zu melden. Sie können ihre verdrängten Geschichten erzählen. Dies soll dazu dienen, in Zukunft andere Sicherheitsmaßnahmen und Opferschutzgesetze für misshandelte Kinder zu entwickeln. Ein neues Bewusstsein bei Tätern soll geschaffen werden. Dass nämlich nicht alles ungestraft unter den Teppich gekehrt werden kann – selbst wenn das Opfer zur Tatzeit noch ein Kind war.
Die Stellungnahmen der Angeklagten drucken auch die Medien. Es seien alles Fantasien, heißt es dann. Das habe alles nicht stattgefunden. Als ich das lese, erwacht mein Kampfgeist. Ich habe etwas klarzustellen. Ich fühle, es ist an der Zeit, über meine Erlebnisse mit der Nonne zu sprechen.
Per Zufall lerne ich bei einem Workshop in Salzburg die Leiterin der Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche der Erzdiözese Salzburg kennen. Wir freunden uns an. Mein Mut wird noch größer, zum ersten Mal meine Geschichte zu erzählen. Selbst Claudia hatte ich im Internat nicht alles anvertraut. Ich hatte mich dafür geschämt, was die Nonne mit mir gemacht hatte. Nun will ich dazu beitragen, dass Täter wissen: Auch damals wehrlose Opfer können eines Tages ihr Schweigen brechen.
Ich vereinbare einen Termin mit Karin Roth von der Ombudsstelle. In ihrem Büro erzähle ich alles. Das fällt mir sehr schwer. Bei einem weiteren Termin legt sie mir das Protokoll unseres Gesprächs vor. Ich soll es überprüfen und unterschreiben. Dann erst kann sie es weiterleiten an die Untersuchungskommissionen.
Ein kurzer Auszug des Protokolls:
Frau Eva-Maria Admiral ist verheiratet und freiberuflich als Schauspielerin tätig. Im Alter von neun bis siebzehn Jahren besuchte sie das Internat der … (Anmerkung d. A.: Den Namen möchte ich an dieser Stelle nicht nennen.) Ihre betreuende Gruppenschwester hieß Brigitte (Name geändert) und begegnete dem Mädchen mit Abneigung und Kälte. Noch heute kann sich Frau Admiral klar an diese Welle von Abneigung, Kälte und Hass erinnern, die ihr von dieser Schwester immer wieder entgegenschlug. Die Schwester begründete ihre Abneigung damit, dass das junge Mädchen eine laute Stimme hatte und zu laut lachte.
Jede Woche bemühte sich Eva-Maria erneut, den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden, wie zum Beispiel ihren Schrank nach den Vorstellungen der Schwester zu putzen und in Ordnung zu halten. Aber alle Bemühungen waren vergebens, da es ihr nie gelang, die Erwartungen von Schwester Brigitte zu erfüllen. Dieses Versagen zog natürlich auch Bestrafungen und negative Konsequenzen nach sich, unter anderem Ausgangssperre, Kontaktsperre mit ihren Kommilitonen, Sprechverbot,