Ur-Praxis. Frank Viola
Beckham
Im letzten Kapitel bin ich auf die vier Arten von Gemeindegründung im ersten Jahrhundert eingegangen. Heute sind diese weitgehend in Vergessenheit geraten. Obwohl man inzwischen viel von der „Zurüstung der Heiligen zum Werk des Dienstes“ spricht, wird diese „Zurüstung“ in der Praxis kaum umgesetzt. Die Nagelprobe für einen Gemeindegründer ist aber, ob er von einer Ortsgemeinde weggehen kann und diese dann in der Lage ist zu funktionieren, ohne dass er zuvor offizielle Leiter eingesetzt hat. Genau auf diese Weise ging Paulus von Tarsus mit den von ihm gegründeten Gemeinden immer wieder vor und überprüfte damit, ob das von ihm verkündete Evangelium und seine Art der Zurüstung der Gläubigen nachhaltig waren.
Das stellt uns vor eine kritische Frage: Was braucht es nach der Bibel, damit wirklich organische Gemeinden entstehen können?
Der Arbeiter und das Werk
Im ersten Jahrhundert entstand fast jede Gemeinde durch einen auswärtigen reisenden Arbeiter, der die Gemeinde irgendwann sich selbst überließ. (Beachten Sie: Die wenigen neutestamentlichen Gemeinden, die nicht unmittelbar durch einen reisenden Arbeiter1 gepflanzt wurden, erhielten fast immer kurz nach ihrer Gründung die Hilfe eines solchen.)
Solche Personen nannte man „Apostel“, „Gesandte“, „Arbeiter“, „Grundleger“, „Gemeindegründer“ usw. Ein Apostel ist, wie gesagt, jemand, der Gemeinden gründet. William S. McBirnie sagt:
Nachdem ich das Leben der Apostel anhand sämtlicher mir verfügbaren wissenschaftlichen Quellen sorgfältig untersucht habe, komme ich zu dem Ergebnis, dass sich die Apostel ohne Ausnahme mit der Gründung von Gemeinden befassten … Die Quellen belegen, dass die Apostel Gemeinden gründeten.2
Der Ausdruck Arbeiter ist vorteilhaft. Jesus verwendet diesen Begriff in seinen Reden (Mt 9,37-38; 20,1-2; Lk 10,2.7), und Paulus in seinen Briefen (1 Kor 3,9; 2 Kor 6,1; 11,13; Kol 4,11). Lukas nennt das Pflanzen und Aufziehen örtlicher Gemeinden „das Werk“:
Als sie aber dem Herrn dienten und fasteten, sprach der Heilige Geist: Sondert mir aus Barnabas und Saulus zu dem Werk, zu dem ich sie berufen habe (Apg 13,2; LU84).
Und von da fuhren sie mit dem Schiff nach Antiochia, wo sie der Gnade Gottes befohlen worden waren zu dem Werk, das sie nun ausgerichtet hatten (Apg 14,26).
Paulus aber hielt es nicht für richtig, jemanden mitzunehmen, der sie in Pamphylien verlassen hatte und nicht mit ihnen ans Werk gegangen war (Apg 15,38).
Der Neutestamentler Robert Banks unterscheidet sorgfältig zwischen „dem Werk“ und „der Gemeinde“:
„Gemeinde“ und „Werk“ darf man nicht miteinander verwechseln, wie im christlichen Denken häufig geschehen. Paulus sieht seine missionarische Tätigkeit nicht als „ekklesia“, sondern als etwas, was unabhängig und neben den verstreuten christlichen Gemeinden existiert … Das Werk ist zunächst dazu da, das Evangelium zu verkündigen und Gemeinden zu gründen, und danach, den Gemeinden zu helfen, zur Reife zu gelangen.3
Watchman Nee fügt hinzu:
Nach dem Willen Gottes geht es in der „Gemeinde“ und dem „Werk“ um zwei verschiedene Linien. Das Werk ist Aufgabe der Apostel und die Gemeinde Aufgabe der Gläubigen am Ort. Die Apostel sind für das Werk in der ganzen Welt verantwortlich und die Gemeinden für alle Kinder Gottes an einem Ort.4
Auf den sehr wichtigen Unterschied zwischen Werk und Gemeinde gehe ich später noch genauer ein.
Verwalter des Geheimnisses
Nach der Schrift ist ein Apostel ein Gesandter. Er ist ein Botschafter, ein Bote, der eine bestimmte Botschaft auszurichten hat. Dabei muss er selber lebendiges Zeugnis für seine Botschaft sein. Aus dieser Botschaft heraus kann der Heilige Geist dann eine geistliche Gemeinschaft entstehen lassen. Beachten Sie folgende Stellen:
… und er bestimmte zwölf, die er Apostel nannte. Sie sollten ständig bei ihm sein, und er wollte sie aussenden, damit sie seine Botschaft verkündeten (Mk 3,14 NGÜ).
Denn Christus hat mich nicht beauftragt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkünden (1 Kor 1,17 NGÜ).
Und die Botschaft kann nur verkündet werden, wenn jemand den Auftrag dazu bekommen hat. Genau das ist ja auch geschehen, denn es heißt in der Schrift: Was für eine Freude ist es, die kommen zu sehen, die eine gute Nachricht bringen! (Röm. 10,15 NGÜ).5
Als Gesandte waren die Arbeiter im ersten Jahrhundert Reisende. Sie waren Pioniere und Forschungsreisende und meistens auf Achse.6 Mehr als das waren sie auch Verwalter. Diese Verwalterschaft drehte sich darum, Gottes Geheimnis den Gläubigen verständlich zu machen (1 Kor 4,1 ff.). Das „Geheimnis“, wie Paulus es nannte, ist die überwältigende Offenbarung von Gottes ewigem Ratschluss in Christus, die im Herzen eines jeden brennt, der wirklich gesandt wurde.7
Eine der wichtigsten Aufgaben der Arbeiter war es, dem Volk des Herrn diese Offenbarung oder Vision zu vermitteln. In Sprüche 29,18 heißt es: „Wo keine Offenbarung ist, wird das Volk wild und wüst; aber wohl dem, der auf die Weisung achtet.“ Ohne eine gemeinsame Schau des Herrn und seiner ewigen Ziele wird Gottes Volk zersetzt, gerät in Verwirrung und zerfällt. Ohne die innere „Sicht“ Jesu Christi verzagt es, wird demotiviert, verliert das Ziel aus den Augen und wird uneins.
Eine gemeinsame Vision von Christus und Gottes ewigem Ratschluss in seinem Sohn hat tragende Kraft, schafft Einheit und ist die einzige Grundlage, auf der sich eine Gemeinde errichten lässt.
Zu den vorrangigen Aufgaben des christlichen Mitarbeiters gehörte deshalb die Verkündigung der unerforschlichen und unaussprechlichen Reichtümer Christi (Eph 3,8). Die Arbeiter des ersten Jahrhunderts verfügten über eine einzigartige Offenbarung von Jesus Christus und von dem Geheimnis des ewigen Ratschlusses Gottes in ihm. Sie verstanden es auch, das Volk Gottes mit ihrer Darstellung dieses Ratschlusses zu fesseln. Dies war ein besonderes Kennzeichen der paulinischen Gemeindegründung. Beachten Sie folgende Stellen:
Mir, dem allergeringsten unter allen Heiligen, ist die Gnade gegeben worden, den Heiden zu verkündigen den unausforschlichen Reichtum Christi und für alle ans Licht zu bringen, wie Gott seinen geheimen Ratschluss ausführt, der von Ewigkeit her verborgen war in ihm, der alles geschaffen hat (Eph 3,8-9 LU84).
… auch für mich, damit mir das Wort gegeben werde, so oft ich meinen Mund auftue, freimütig das Geheimnis des Evangeliums bekannt zu machen … (Eph 6,19).
Betet zugleich auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffne für das Wort, um das Geheimnis des Christus auszusprechen, um dessentwillen ich auch gefesselt bin (Kol 4,3; vgl. Röm 16,25; 1 Kor 2,7; Eph 1,9; Kol 1,26; 2,2).
Geistliche Ausrüster
Zu den Hauptaufgaben der christlichen Mitarbeiter im ersten Jahrhundert gehörte die Zurüstung der Gläubigen, einander in Christus zu dienen. R. Paul Stevens erklärt, was damit gemeint ist:
„Katartismos“ ist der griechische Begriff für zurüsten und erscheint als Substantiv nur einmal: in Epheser 4,12. Im klassischen Griechisch hat der Ausdruck einen interessanten medizinischen Hintergrund. „Zurüsten“ hieß, die Knochen oder ein Organ auszurichten und in das rechte Verhältnis zum gesamten Körper zu rücken, damit alle Teile wieder zueinander passten … Ein griechischer Arzt „rüstete“ einen Körper „zu“, indem er einen Knochen einrenkte und seine Beziehung zu den anderen Körperteilen