Seniorenknast - wir kommen!. Christa Mühl
Die reibt sich die Hände. „Prima.“
Sie stellt die Gläser in den Schrank zurück und schnappt ihre Tasche. Ruppe nimmt seine Dienstpistole aus der Schreibtisch-Schublade. „Nee, nee!“
Er drückt ihr die Rotweinflasche in die Hand.
„Trink du mal zu Hause in Ruhe deinen tollen Rotwein!“
„Ruppe – ich kann dir unterwegs allerhand gute Ratschläge geben!“ Doch Ruppe stöhnt, schüttelt entschieden den Kopf und schiebt sie aus der Tür.
„Nee, nee, nee!”
6
Am Stadtrand Richtung Süden rast ein Löschzug der Feuerwehr mit Tatütata zu besagter Tankstelle.
Dort lehnt ein älterer Mann mit Sonnenbrille lässig an einer der Zapfsäulen und raucht eine dicke Zigarre. Ihm gegenüber, vor dem Eingang zum Kassenraum, Angestellte und Kunden – alle mit erhobenen Händen.
Der Zigarrenraucher fuchtelt ab und zu mit einer Pistole herum und grinst.
Als ein Tankwart die Hände herunternimmt, richtet der Mann mit der Sonnenbrille die Waffe auf die Leute.
Hilfe ist angekommen: Die Feuerwehrmänner springen aus ihrem Wagen.
Der Typ mit der Pistole zieht die Stirn in Falten, gekonnt wie ein Schauspieler. „Halten Sie sich zurück! Sie wollen doch sicher vermeiden, dass hier alles in die Luft fliegt!“
Einer der Feuerwehrleute fasst sich nach einer Schrecksekunde und brüllt: „Machen Sie keinen Scheiß, Mann! Geben Sie auf!“ Die Antwort klingt zynisch: „Wollen Sie Menschenopfer?“ Die Menschen sind entsetzt. Mit diesem Kerl ist nicht zu spaßen. Nun kommt mit Blaulicht und Sondersignal ein Einsatzwagen der Polizei an. Kurz danach ein Zivilfahrzeug: Ruppe und zwei Kollegen. In einigem Abstand gefolgt von Katharina, die ihr Auto um die Ecke fährt und sich dann zu Fuß – immer im Hintergrund – an den Tatort begibt. Ein Polizist brüllt: „Geben Sie auf, die Tankstelle ist umstellt! Sie haben keine Chance!“
Aber der Kerl fuchtelt weiterhin wild mit seiner Waffe um sich, die Zigarre hängt ihm bedrohlich im Mundwinkel. Einige Leute schreien. Katharina steht, gut gedeckt hinter dem Klo der Tanke, und verschafft sich einen Überblick. Sie setzt ihre Brille auf und staunt nicht schlecht. Den Mann mit der Waffe erkennt sie sofort: Es ist Paul. Ein begnadeter Pathologe, mit dem sie während ihrer gesamten Dienstzeit zusammengearbeitet hat. Sie schaut zu Ruppe hinüber.
Auch der weiß inzwischen, um wen es sich handelt. Er flüstert seinen Kollegen zu: „Das ist Prof. Dr. Paul Herr! Einstiger Papst der Leipziger Pathologie – Leichenfinger!“
Ein junger Polizist sieht ihn entsetzt an. „Leichenfinger?“
Ruppe nickt. „Der hat ernsthaft irgendwann behauptet, er erkenne am Finger einer Leiche, die da auf seinem Tisch liegt, wie der Mensch um die Ecke gebracht wurde …“
Er geht ganz langsam auf Leichenfinger zu und spricht ihn leise freundlich an. „Paul, mach keinen Blödsinn – man kann doch über alles reden!“
Paul lächelt milde und antwortet viel zu laut: „Du kennst mich genau, Ruppe! Ich mag die Damen und Herren erst richtig, wenn ich sie aus dem Gefrierfach ziehe!“
Die Leute mit den erhobenen Händen sehen sich irritiert an. Dem Tankwart gehen die Nerven durch.
„Der Arsch ist so was von durchgeknallt – der gehört in den Knast!“ Paul nickt. Dieser Mann hat es kapiert!
Ruppe ist überfordert. Denn nun erinnert ihn Paul auch noch an einige „Vorkommnisse“, die er besser nicht vergessen sollte. Ein Stichwort ist Rum …
Der Tankwart mischt sich wieder ein.
„Der Alte quatscht irgendwelche Opern – und die Polizei lauscht andächtig! Nu tun Sie doch endlich was!“
Ruppe nickt, weiß aber überhaupt nicht mehr, was er denken soll. Und was zu tun ist, erst recht nicht. Auch die Schmerzen in seinem Kreuz machen sich wieder bemerkbar. Doch irgendwie muss er handeln.
„Ruhe! Das ist ein ehemaliger Pathologe im Ruhestand.“ Das verschreckt die Leute noch mehr. Selbst der Tankwart hält nun besser die Klappe.
Eine Dame kreischt hysterisch auf. „Einer, der nur mit Leichen zu tun hatte … Da muss ein Psychologe her – oder besser noch ein Psychiater!“ Paul zerrt daraufhin ein großes Klappmesser aus der Jackentasche. Klick! Mit der Klinge zeigt er auf Ruppe.
In diesem Moment fährt der Reporter Gisbert Fuchs auf die Tankstelle zu.
Er summt gut gelaunt vor sich hin. Im Autoradio bringt sein bevorzugter Regionalsender ein Lied, das er seit ewigen Zeiten nicht mehr gehört hat.
Früher dagegen war es in aller Munde: „Sing, mei Sachse, sing!“ Er tritt auf die Bremse, noch bevor er den Refrain beendet hat und wird von der Polizei am Weiterfahren zu einer der Tanksäulen gehindert. Sofort steigt er interessiert aus und beobachtet das Geschehen. Er stößt fast mit Katharina zusammen.
Die bemerkt es nicht einmal – sie hat einen Plan und verschwindet.
Paul steckt das Messer wieder ein und zieht eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Seine Zigarre glimmt nur noch spärlich. Alle weichen zurück.
Die Feuerwehr macht sich bereit zum Einsatz. Da fährt mit Reifenquietschen ein Auto vor. Katharina steigt aus.
„Lassen Sie mich durch, ich bin seine Ärztin! Er ist aus unserer Anstalt ausgebrochen!“
Paul starrt sie entsetzt an.
Dann brüllt er: „Ich ergebe mich! Nehmen Sie mich fest!“ Er schmeißt die Pistole auf den Boden und rennt den Polizisten in die Arme. Doch noch ehe irgendwer irgendwas sagen oder gar tun kann, hat Katharina Paul samt Zigarre in ihr Auto gezerrt und rast mit stark überhöhter Geschwindigkeit davon.
Ruppe hält seine Kollegen auf, die ihr folgen wollen.
„Nee, nee, nee. Lasst die Tante mit ihrem Patienten mal in die Klinik zurückfahren. Ist besser so!“
Sein Wort gilt.
Gisbert Fuchs steigt ins Auto ein und startet den Motor. Der singende Sachse ist leider schon zu Ende. Aber das hier ist sein Ding! Dann sieht er die erleuchtete Benzinstand-Anzeige. Er muss erst tanken … Ruppe schaut kopfschüttelnd in die Richtung, in die Katharina gerast ist. Doch längst ist von ihrem Auto nichts mehr zu sehen. Mit der Hand am schmerzenden Kreuz murmelt er vor sich hin: „Aus unserer Anstalt ausgebrochen …“
Nicht ohne Anstrengung hebt er die zurückgebliebenen Pistole von Paul auf.
Er drückt den Abzugshebel herunter, und vorn kommt Wasser heraus.
7
Paul sieht Katharina voller Hass an. Doch sie konzentriert sich auf die Fahrt. Was man so Fahrt nennt – sie rast noch immer wie eine Wildsau. Schon zweimal hat er versucht, sie anzusprechen. Ohne irgendeine Reaktion ließ sie ihn links, oder besser gesagt, rechts liegen. Beziehungsweise sitzen.
Außer sich brüllt er nun los. „Eigentlich wollte ich nicht im Verkehr mein Leben beenden!“
Ganz und gar umsonst. Eisiges Schweigen.
Schließlich versucht er es auf eine sanftere Tour.
„Sag mal, hast du noch alle Klammern im Hefter?“ Keine Reaktion.
„Warum mischst du dich denn ein?“
Kein Kommentar.
„Na ja, das kennt man ja von früher: Frau Hauptkommissarin Katharina die Große hat alles im Griff!“
Sie nickt grinsend und rappelt sich endlich zu einer Antwort auf. „Grüß dich, Paul! Nett, dich mal wieder zu treffen!“ Er schluckt. Nach einer Weile