Phantombesuch. Gaby Peer
in der Art wollte Elena gerne hören.
Sie nahm ihr Handy und rief bei den Schwiegereltern an. „Hallo, Renate, hier ist Elena. Die Kripo war gerade …“
„Danke, wir wissen schon Bescheid. Wie geht es den Kindern?“
„Sie gehen in den Kindergarten und dort lassen sie sich wohl auch ganz gut ablenken. Zu Hause sind sie sehr still und traurig.“
„Du musst dich eben zusammenreißen. Du kannst dich vor den Kindern nicht so hängen lassen. Wir Erwachsenen müssen Haltung bewahren.“
„Ich gebe mir die größte Mühe, aber es tut so weh, dass ich den ganzen Tag nur schreien könnte.“ Wie um Himmels willen komme ich dazu, meiner Schwiegermutter etwas über meine Gefühle zu erzählen? Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen? Sie hat mich schließlich nicht gefragt, wie es mir geht, sondern wie es den Kindern geht.
„Belinda hat sich angeboten, die Kinder mit zu uns zu bringen.“
Wenn es mir dann recht ist, dachte Elena zornig. Verflixt, ich will jetzt keinen Streit anfangen. Ich muss mich aber wirklich unglaublich anstrengen, es nicht zu tun, versuchte sie sich selbst in Schach zu halten. Sie wollte ihren Kindern nicht auch noch die Großeltern wegnehmen. Aber sie nahmen sich mit einer Selbstverständlichkeit Rechte heraus. Sie – vor allem Renate – fragten nie, nein, sie erteilten ganz klare Befehle. Zu widersprechen, hätte wenig Sinn gehabt – die Erfahrung hatte Elena häufig – nein, eigentlich immer gemacht. Unglaublich – nur weil sie aus einer nicht ebenbürtigen Kaste stammte, meinte Renate, sie so abfällig behandeln zu können. Mit Belinda würde sie niemals so sprechen!
Elena schluckte ihren Ärger herunter und fragte leise: „Fällt dir ein Mensch ein, der Manuel nicht leiden konnte – jemand, der ihn so gehasst haben könnte, dass er ihm nach dem Leben getrachtet hat?“
„Natürlich nicht! Manuel hat nur Gutes getan. Wer sollte ihn dafür bestrafen wollen? Dein Ex war doch immer so eifersüchtig – dieser Taugenichts!“
Was hätte sie schon erwarten können? Natürlich suchte die Familie Schrader in Elenas Bekanntenkreis nach dem Mörder. Dass sie nicht von selbst darauf gekommen war. Selbstverständlich kam der Mörder aus ihren Reihen – bei ihrem sozialen Umfeld musste so etwas ja passieren. Jens, ihr Exfreund, war eifersüchtig – das stimmte schon. Sie hatte sich, schon ein paar Monate, bevor sie Manuel kennengelernt hatte, von ihm getrennt. Und ja, Jens hatte ihn ziemlich angetrunken nachts um zwölf in einer Bar dumm angemacht. Die Story hatte Manuel bei einer Familienfeier zum Besten gegeben. Er fand es einfach nur lustig, wie Jens ihm klarmachen wollte, dass er sein „Mäuschen“ eines Tages schon wieder zurückerobern würde. Aber wie krank war es, zu glauben, dass Jens Manuel deswegen getötet hatte. Zudem hatte er gleich am Morgen nach dem Vorfall angerufen und sich entschuldigt. Sein lächerlicher Auftritt war ihm im nüchternen Zustand unheimlich peinlich gewesen. Jens war ein absolutes Weichei – ohne Alkohol im Blut hätte er die beiden wahrscheinlich nicht einmal begrüßt. Das war auch der Grund für die Trennung gewesen. Elena hatte immer den Eindruck gehabt, Jens beschützen und alles für ihn regeln zu müssen. Sie wollte aber diejenige in einer Beziehung sein, die beschützt wird. Also war eine Ehe mit Jens für sie indiskutabel gewesen.
Elena war so sauer auf Renate, weil sie ihr mit jedem Blick, mit jedem Wort, mit jeder Geste klarmachen musste, dass sie der Meinung war – ihr Mann Ludwig dachte selbstverständlich ebenso –, dass sie nicht einmal bescheidene zehn Prozent ihrer Anforderungen an eine Schwiegertochter erfüllte. Sie hatten schon früh ein ganz klares Bild von ihrer Schwiegertochter vorgefertigt. Das Schlimmste war die Tatsache, dass es diese perfekte Schwiegertochter in ihrem Leben schon gegeben hatte. Wahrscheinlich, nein, ziemlich sicher hatte Belinda die einhundert Prozent sogar überschritten.
„Belinda wird mit den Kindern zu euch kommen. Auf Wiedersehen.“ Nein, auf Nimmerwiedersehen, wünschte sich Elena nach dem Ende des Gesprächs von ganzem Herzen.
Nach einigen Minuten, in denen Elena heftig weinte und mit Schnappatmung sowie Fassungslosigkeit kämpfte, wurde ihr klar, dass sie nichts zu der Beerdigung gesagt hatte. Ich bin selbst ein Weichei. Ich war zu feige, meine Meinung zu äußern. – Nein, das war ich nicht. Es ist immer das gleiche Muster. Diese Menschen schaffen es immer wieder, dass ich den Faden verliere und dumm dastehe – es war noch nie anders! Ich habe mich nach jeder Begegnung mit meinen Schwiegereltern klein, dumm und hässlich gefühlt, gestand Elena sich resigniert ein. Bereits nach ihrem ersten Besuch war sie wie ein geprügelter Hund aus der Villa gelaufen – besser gesagt gerannt –, weil sie sich darüber im Klaren gewesen war, dass sie es nicht geschafft hatte, auch nur einen kompletten, vernünftigen Satz zu sagen. Sie wurde beim Sprechen immer unterbrochen und grundsätzlich noch währenddessen korrigiert. Ihre Meinung war generell falsch, weil sie über kein Thema wirklich Bescheid wusste. Wie oft hatte sie zu spüren bekommen, dass ihr kein Gehör geschenkt wurde, wenn sie sich doch einmal getraute, etwas zu sagen. Als besondere Beleidigung wurde, prinzipiell während sie noch sprach, ein ganz anderes Thema angeschnitten. Sie hatte viele Stunden nahezu stumm in der Villa verbracht. Das wiederum wurde ihr natürlich so ausgelegt, dass sie zu den angesprochenen Themen einfach nichts zu sagen wusste.
Manuel reagierte darauf sehr unaufgeregt. „Sie sind unmöglich, stocksteif und konservativ – eigentlich bedauernswert. Wir überleben die paar Besuche im Jahr. Ich unterhalte mich mit dir sehr gut und gerne – vor allem über ein Thema.“ Er küsste ihr die Sorgen einfach weg. War ihre Beziehung für ihn in der Hauptsache sexuell? Nein, nein und nochmals nein! Ich werde jetzt auf gar keinen Fall anfangen, unsere Beziehung infrage zu stellen. Wir waren glücklich, sehr glücklich, und zwar beide gleichermaßen. Wir hatten unser ganz persönliches Arrangement getroffen, das für uns beide so völlig in Ordnung war. Nein, sie wollte keine bösen, kleinen Teufelchen in ihren Kopf hineinlassen, die Manuels Bild oder ihre Beziehung im Nachhinein zerstörten.
Elenas T-Shirt war vom Weinen ganz nass geworden und sie wollte sich umziehen, weil Belinda gleich kommen würde. Sie machte den großen Schrank auf, den sie sich mit Manuel geteilt hatte. Liebevoll nahm sie den Zipfel eines seiner Hemden in die Hand und schnupperte daran. Erschrocken dachte sie, dass das Hemd nicht mehr richtig nach Manuel duftete! Voller Panik roch sie an allen anderen Sachen. An der Bettwäsche, an dem zuletzt benutzten Handtuch im Bad – nichts roch mehr intensiv genug nach ihm. Manuels Geruch verflog. Sie rannte wie eine wild gewordene Stute an den Schuhschrank – aber auch der Geruch der Schuhe enttäuschte sie. Sie rannte ins Bad und holte das Parfüm, das er immer benutzt hatte, und zwar immer nur das eine. Sie kannte keinen anderen Duft an ihm. Wütend und verzweifelt sprühte sie alles ein. Die Flasche war fast leer. Sie musste sofort los, um eine neue zu kaufen. Es darf niemals aufhören, nach Manuel zu riechen – niemals!
8
Die Kinder waren bereits im Bett und Belinda war etwas früher als sonst gegangen, weil sie noch einen letzten Versuch starten wollte, um mit den alten Schraders über die Beerdigung zu sprechen. Elena hatte sie darum gebeten, auch wenn sie sich deswegen selbst als feige bezeichnete. Sie saß auf dem Sofa und hing ihren Gedanken nach. Inzwischen hatte sie sich etwas beruhigt. Es war für sie immer gut, wenn die Kinder nach Hause kamen, auch wenn sie oft gerne länger mit Manuel alleine geblieben wäre. Die Mäuse lenkten sie ab, forderten ihre Rechte ein. Sie musste feststellen, dass es den von der Schwiegermutter angesprochenen „Reiß dich zusammen“-Knopf tatsächlich gab. Unverschämte Person! Sie hält sich für so fein und gebildet. Ihr Sozialverhalten geht jedoch eindeutig in den Minusbereich, dachte sie trotzig.
Elena hätte später nicht sagen können, wie lange sie so in Gedanken versunken war. Immer wieder musste sie weinen, ansonsten bewegte sie sich kaum. Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer und suchte nach Gegenständen, die Erinnerungen weckten. Sie sah Szenen vor sich, die hier stattgefunden hatten – manchmal so lebhaft und echt, dass sie hin und wieder das Gefühl hatte, die Situation gerade eben erst erlebt zu haben. Worte aus Gesprächen hallten in ihrem Kopf nach, als ob Manuel sie soeben gesagt hätte. Immer wieder streifte ihr Blick auch die Terrasse. Manuel hatte es ganz besonders geliebt, in lauwarmen Sommernächten dort mit einem Glas Rotwein und natürlich mit