Phantombesuch. Gaby Peer
„Das will ich aber nicht!“, schrie Selina plötzlich mit einer ganz hysterischen, fremden Stimme. Sie fing an zu zittern und ließ sich einfach auf den Boden fallen. Sie wälzte sich hin und her und gab animalische Töne von sich, die Lois so sehr erschreckten, dass er sich ganz eng an seine Mama klammerte. Gott sei Dank kamen Julia und Irina in diesem Moment ins Zimmer und übernahmen die Führung. Elena war am Ende ihrer Kräfte und brauchte selbst Hilfe. Zusammenreißen ging nicht mehr. Sie knickte ebenfalls ein, klammerte sich an Selina und die beiden ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Lois war geschockt – er war wie paralysiert und konnte das alles nicht begreifen. Papa war plötzlich im Himmel, seine Mami und seine Schwester hockten weinend auf dem Boden und beide schrien furchtbar laut. Mama versuchte nach ihm zu greifen, um ihn an sich heranzuziehen. Das erschreckte Lois aber so sehr, dass er einen Schritt nach hinten machte und stürzte. Jetzt fing auch er an zu weinen und Irina beschloss spontan, das Wohnzimmer mit dem Kleinen zu verlassen.
Julia kniete sich auf den Boden und nahm ihre Schwester und ihre Nichte fest in den Arm. Sie schaukelte sie sanft hin und her, überließ sie aber ansonsten, ohne ein Wort zu sagen, ihren Gedanken und ihrem Schmerz. Irgendwann fragte Julia fast flüsternd: „Sollen wir langsam nach Hause fahren oder möchtet ihr lieber hier schlafen? Irina hat es angeboten.“
Ohne lange zu überlegen, sagte Elena: „Ich möchte gerne nach Hause, aber die Menschen sollen bitte alle weg sein. Kannst du dafür sorgen?“
Julia nickte. „Sie sind schon alle weg.“
„Wirklich alle?“
„Ja, Elena. Ich dachte mir schon, dass du nach Hause und dort alleine mit deinen Kindern sein möchtest.“
„Julia, es wäre wirklich lieb, wenn du bleiben könntest. Ich weiß, es ist viel verlangt. Du hast selbst eine Familie zu versorgen …“
„Mama kümmert sich um alles. Ich bleibe!“, unterbrach Julia ihre Schwester.
„Danke!“ Elena versuchte aufzustehen, aber sie schaffte es nicht allein. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie sofort wieder einknickte.
Selina hatte alles wie aus weiter Ferne gehört und bewegte sich keinen Millimeter, doch als ihre Mama zusammensackte, kam Leben in ihren Körper. Sie hatte sich sehr erschrocken. „Mama, was ist los? Ist dir schlecht?“
„Nein, mein Schatz, es geht schon wieder.“
Elena erhob sich mit Julias und Irinas Hilfe, die inzwischen ebenfalls im Wohnzimmer stand, und ließ sich zum Auto führen. Julia und Irina nahmen jeweils ein Kind an die Hand. Max, Leon und Samira standen völlig hilflos an der Haustür, getrauten sich aber nicht, irgendwas zu sagen. Max dachte, dass er noch nie so ein trauriges Bild gesehen hatte, und er ärgerte sich sehr über seine Unfähigkeit, etwas Vernünftiges oder Hilfreiches zu sagen.
Irina drückte die drei, sah Elena tief in die Augen und sagte: „Tag und Nacht – du weißt es!“
Zu Hause angekommen, schloss Julia die Haustür auf und wartete darauf, dass die drei ins Haus gingen. Aber sie standen da, als ob vor ihnen eine unsichtbare Wand wäre, durch die sie nicht gehen konnten. „Zurück zu Irina? Oder zu uns nach Hause? Auch Papa und Mama haben angeboten, euch aufzunehmen.“
„Nein, gib uns nur noch einen kleinen Moment.“
Irgendwann setzten sie sich dann, ganz eng aneinandergedrückt, in Bewegung. Bei diesem Anblick schnürte es Julia den Hals zu. Einen guten Schritt im Haus und sie stockten wieder. Wahrscheinlich war es Elenas Rhythmus, aber die Kinder passten sich ihren Bewegungen an. Elena drückt die beiden so eng an sich, dass es sie sicher schmerzen muss, dachte Julia. Sie sah an Elenas völlig verkrampften Händen die weißen Knöchel hervortreten. Ihre Schwester sah sich um, als ob sie dieses Haus das erste Mal in ihrem Leben betreten würde. Ganz langsam schaffte es Julia, die drei ins Wohnzimmer zu schieben. Sie sorgte dafür, dass sie sich auf die Couch setzten. Dann ging sie in die Küche, um Tee zu kochen und etwas zum Essen herzurichten.
„Papa ist immer viel zu schnell gefahren, Mami. Warum hat er nicht auf dich gehört?“ Selina sah ihre Mama mit großen Augen an.
Elena suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. „Selina, es steht noch gar nicht fest, ob dein Papi zu schnell gefahren ist. Das wird die Polizei noch herausfinden.“
Es herrschte wieder Stille.
„Jetzt ist er bei meiner Einschulung nicht dabei“, sagte die Kleine weinend.
Julia drückte ihre Nichte ganz fest an sich. „Nein, Selinchen, und wir alle sind sehr traurig deswegen. Aber alle anderen Familienmitglieder werden bei dir sein.“
Elena konnte sich nicht mehr zurückhalten. Ihr heftiger Ausbruch erschreckte die Kinder wieder so sehr, dass Julia mit ihnen nach oben ging. Der Gedanke, Elena alleine zu lassen, gefiel ihr nicht. Aber wahrscheinlich war der Anblick ihrer verzweifelten Mami für die Kinder momentan sogar schlimmer als der Gedanke an den Verlust ihres Papas. Die Nachricht von Manuels Tod konnten sie sicher noch nicht realisieren.
Julia setzte sich im Spielzimmer auf die Matratze und forderte die beiden auf, sich hinzulegen und die Köpfe auf ihren Schoß zu betten. Beide taten wortlos, was Julia gesagt hatte. Dann streichelte Julia ihre Köpfchen ganz sanft, bis ihre Atemzüge ruhiger und gleichmäßiger wurden. Lois und Selina schliefen recht schnell ein und Julia konnte wieder nach ihrer Schwester schauen.
Sie fand Elena immer noch auf der Couch sitzend, aber ihr Körper war ganz verdreht. Sie drückte das Gesicht in das Rückenteil des Sofas – es sah sehr seltsam aus. „Elena?“
„Es riecht so gut, so vertraut. Vorgestern Abend hat Manuel genau hier gesessen.“
„Magst du reden?“
„Was gibt es denn zu reden, Julia? Manuel ist für immer weg – egal was und wie viel ich rede. Er kommt nie wieder! Kannst du dir das vorstellen? Gestern Morgen saß er noch am Frühstückstisch – putzmunter. Und jetzt ist er nicht mehr da.“ Die Tränen kullerten Elena wie eine nicht enden wollende Perlenkette über die Wangen. „Julia, ich wusste, dass etwas passieren würde. Ich wusste es ganz genau. Ich habe es gespürt – schon sehr lange und ich hatte Angst davor. So glücklich, wie wir miteinander waren, so eine beängstigende Übereinstimmung in nahezu allen Lebenslagen und Fragen, so viel Harmonie – das hätte ja unmöglich für immer so bleiben können! Das war mir immer klar. Aber so ein Ende …“ Elena drückte ihr Gesicht wieder in die Sofakissen. „Wie, wie soll ich nur ohne Manuel weiterleben? Julia, ich kann das nicht! Es wird nicht gehen!“
„Du musst. Du hast zwei wunderbare Kinder, für die du verantwortlich bist – sie sind auch Manuels Kinder. Du bist es ihm schuldig. Sie sind aus eurer wunderbaren, einmaligen Liebe entstanden. Sie sind das, was dich für immer mit Manuel verbinden wird. Selina und Lois sind der lebendige Beweis eurer fantastischen Beziehung.“
„Ich werde funktionieren, aber leben werde ich nicht mehr.“
„Die Zeit.“
„Nein, Julia, bitte sag das nicht – auch vergangene Zeit wird nichts daran ändern. Ich will es auch nicht. Ich werde mit diesem Schmerz bis ans Ende meiner Tage leben müssen.“
4
Am nächsten Morgen dachte Elena mit großem Schrecken an ihre Schwiegereltern. Erst jetzt fielen ihr die beiden ein. Sie hatten ihren Sohn – ihr zweites Kind – durch einen Unfall verloren. Ich muss mit den Kindern zu ihnen fahren, dachte Elena und in ihr sträubte sich alles gegen diesen Gedanken. Natürlich hätten sie sich auch bei ihr melden können, aber dass sie es nicht taten, bestätigte ihr nur wieder aufs Neue, wie wenig sie ihnen als Schwiegertochter willkommen war. Sie hatten immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie sich für ihren Manuel eine andere Frau gewünscht hätten. Sie liebten die Kinder – auf ihre Art. Es war nicht die herzliche, vertraute, körperlich enge Beziehung wie zwischen ihren Eltern und den beiden. Es war eher eine steife und distanzierte Angelegenheit, aber sie strengten sich an. Das zumindest hatte Manuel immer wieder behauptet. „Wir