Phantombesuch. Gaby Peer
bat Elena sie um ihre Begleitung für den bevorstehenden schweren Gang. Es war eine Autofahrt von ungefähr einer Stunde und das traute sie sich nicht zu. „Du wärst mir eine große Stütze, Julia“, erklärte Elena traurig.
Die Fahrt wurde sehr schweigsam – obwohl Julia sich sehr bemühte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Elena war abwesend und auch sehr angespannt. Der Besuch war ein Anstandsakt und keine Herzenssache. Sie ahnte, dass die beiden keinen Wert auf ihren Besuch legten, aber die Kinder würden ihnen bestimmt guttun. Der Verlust war für die beiden sicher unbeschreiblich groß, weil sie nun schon das zweite Kind durch einen Unfall verloren hatten. Manuels Schwester war vor vielen Jahren ebenfalls bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die näheren Umstände wurden Elena nie erläutert. Das Thema wurde einfach totgeschwiegen – auch von Manuel. Obwohl sie sich so vertraut waren und sich restlos alles erzählten, ihr Innerstes dem anderen gegenüber stets nach außen gekehrt hatten, war dieses Thema immer ein Tabu. Das fand Elena schon immer sehr komisch, aber irgendwann hatte sie es aufgegeben, das Thema anzusprechen – auch wenn es ihr immer wieder einen Stich versetzte, weil Manuel nicht mit ihr darüber reden wollte. Es wurde ein richtiges Geheimnis um die Sache gemacht – warum nur? Elena fühlte sich dadurch noch mehr aus der Familie ausgegrenzt – was sie durchaus schon gewohnt war. Dass Manuel sich jedoch an der Ausgrenzung beteiligte, machte sie sehr traurig. Für eine lange Zeit quälte sie auch die Neugierde und sie versuchte, von den gelegentlichen Gästen der Schraders Näheres zu den Umständen des Unfalls zu erfahren. Auch hier erhielt sie nur ausweichende Antworten und es wurde immer sofort das Thema gewechselt.
Als Julia das Auto geparkt hatte und aussteigen wollte, sah sie Elena an, wie schwer ihr dieser Gang fiel. Sie sah ängstlich zu der wunderschönen alten Villa mit dem parkähnlichen Garten. Julia war noch nie hier gewesen. Sie kannte das Anwesen nur aus Elenas Erzählungen. Aber es war noch schöner und beeindruckender, als sie es sich vorgestellt hatte.
Nachdem sie an der Haustür geklingelt hatten, öffnete eine sehr schöne Frau ihres Alters. Elena kannte sie nicht – sie war ihr im Hause Schrader noch nie begegnet.
„Sie sind Elena!“, sagte die Frau freundlich. Elena war so baff, dass sie überhaupt nicht reagierte. Die Frau schien aber auch keine Antwort zu erwarten, denn sie sagte gleich: „Kommen Sie bitte herein.“
Sie führte sie ins Wohnzimmer – nein, in den Salon. So wurde das Wohnzimmer in dieser Villa genannt und es wurde vor allem von der Hausherrin unglaublich viel Wert auf diese Bezeichnung gelegt. Damit hatte Elena Manuel immer aufgezogen. Die Schwiegereltern saßen aufrecht und korrekt in ihren Sesseln – so wie Elena es kannte. Frau Schrader tupfte sich die Augen trocken und setzte sich bei Elenas Anblick noch aufrechter hin. Julia schickte die Kinder mit der Bitte los, ihren Großeltern höflich guten Tag zu sagen. Renate und Ludwig streckten den beiden ihre Hände entgegen, die diese nur zaghaft entgegennahmen. Der Opa strich ihnen sogar kurz und unbeholfen über die Haare, was die Kinder für einen Moment erschreckte. Sie waren es nicht gewohnt, von Renate und Ludwig berührt zu werden. Dann war Elena an der Reihe. Sie reichten sich die Hände und Elena sprach ihr Beileid aus. Die alten Herrschaften hielten es selbstverständlich nicht für notwendig, Elena ebenfalls ihr Beileid kundzutun. Sie war nicht sonderlich überrascht, hatte es nicht einmal erwartet. Auch Julia erfüllte ihre Pflicht. Dann trat eine betretene Stille ein.
Elena und die Kinder standen hilflos und verloren mitten im Raum. Obwohl es sich wahrscheinlich nur um Sekunden gehandelt hatte, schien es Elena eine Ewigkeit zu dauern, bis die fremde Frau sie endlich bat, Platz zu nehmen, und höflich nachfragte, ob sie Kaffee oder Tee trinken mochten. Sie fragte auch bei den Kindern liebenswürdig nach, was sie gerne hätten. Frau Schrader bemerkte Elenas fragenden Blick, der auf die fremde Frau gerichtet war. Sie sagte es, wie Elena schien, mit Genuss: „Darf ich vorstellen: Frau von Baslingen – Belinda von Baslingen.“
Oh, dachte Elena, Manuels Ex, die Traumschwiegertochter. Warum war die denn hier? Es gab doch ihres Wissens keinen Kontakt mehr. Renate war auf jeden Fall übertrieben nett zu Belinda und diese war außerordentlich freundlich zu dem Besuch. Sie gab sich große Mühe, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Als ihr klar wurde, dass das unmöglich war, fragte sie Elena und Julia, ob sie vielleicht Lust hätten, sich mit ihr die Füße zu vertreten. Elena schaute sie erstaunt an und stimmte dann rasch und sehr erleichtert zu. Es war zwar etwas befremdlich, mit Manuels Ex spazieren zu gehen, aber es war auf jeden Fall besser, als den Schwiegereltern im Salon gegenüberzusitzen und mit jedem Wort und jeder Geste zu erkennen, wie wenig willkommen sie war.
Sie dachten nicht im Traum daran, sie nach ihrem Befinden zu fragen. Es wurde nur nüchtern über die Obduktion und die Untersuchung des Unfallhergangs gesprochen und natürlich wurde mit einer großen Selbstverständlichkeit bestimmt, dass Manuel im großen Familiengrab seine letzte Ruhestätte finden würde. Und auch sonst schien für die Beerdigung alles schon geplant zu sein. Nur der Termin konnte noch nicht festgelegt werden. Wahnsinn, wie nüchtern diese Menschen waren. Elena hatte es noch nicht geschafft, über diese Dinge nachzudenken – sie wollte es auch nicht. Und jetzt hatte sie kein Wörtchen mehr mitzureden.
Man sah den beiden den tiefen Schmerz sehr wohl an. Die Haut war grau, die Augen ganz trüb und ihre aufrechte Haltung sah sehr künstlich aus – es schien sie sehr viel Kraft und Anstrengung zu kosten, in dieser Pose zu verharren und die Contenance zu bewahren. Also erhob Elena sich mühsam und gab zu verstehen, dass sie das Angebot von Frau von Baslingen gerne annehmen würde. Auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie mit ihr reden sollte, war das eindeutig das kleinere Übel. Auch die Kinder schossen sofort in die Höhe, aber Julia sagte blitzschnell, dass es Oma und Opa bestimmt guttun würde, wenn sie bei ihnen bleiben würden. „Die beiden sind so traurig. Wir sind bestimmt gleich wieder bei euch. Wir machen ja nur einen kleinen Spaziergang.“
Elena schnürte es den Hals zu – sie musste wegschauen, denn ihre Kinder, insbesondere Selina, schauten sie total verzweifelt an. Elena hatte nie den Eindruck gehabt, dass sie sich riesig freuten, wenn sie die Großeltern besuchten. Die Besuche schienen aber auch nicht in die Sparte der richtig schrecklichen Dinge in ihrem Leben zu gehören. Sie hatten sich bisher immer eher neutral verhalten. Aber heute empfand Elena eine deutliche Abwehr seitens der Kinder. Selina und Lois spürten die unangenehme Spannung und die feindselige Atmosphäre zwischen den Erwachsenen ganz deutlich. Selina auf jeden Fall. Sie war ein sehr sensibles, aber auch sehr harmoniebedürftiges Kind. Also blieb sie ohne weitere Diskussion vollkommen steif auf dem Sessel, der ihr zugewiesen wurde, sitzen.
„Es tut mir leid, Frau Schrader, es tut mir so unendlich leid. Es ist unglaublich, was Sie gerade durchmachen müssen. Es muss ein unerträglicher Schmerz für Sie sein und dann müssen Sie auch noch das unhöfliche Verhalten Ihrer Schwiegereltern erdulden. Ich würde Ihnen gerne zur Seite stehen, wann immer Sie mich brauchen.“
Elena sah Belinda überrascht an. „Danke, Frau von Baslingen.“
„Sagen Sie doch bitte Belinda zu mir. Frau von Baslingen hört sich so förmlich an und wir sind doch ungefähr gleich alt.“ Belinda reichte Elena und danach auch Julia die Hand, die ebenfalls ihren Vornamen nannte.
„Vielen Dank, Belinda. Ich hätte es kaum noch eine Minute länger in dem Salon ausgehalten“, wobei sie das Wort Salon sehr ironisch betonte. Das bereute sie aber sofort wieder, weil ihr einfiel, dass Belinda sicherlich auch einen Salon oder gar mehrere besaß.
„Das habe ich deutlich gespürt. Es war nicht zu übersehen, dass euer Verhältnis sehr angespannt ist. Fast möchte ich behaupten, dass es sich sogar richtig feindselig anfühlte. So kenne ich die beiden gar nicht.“
„Ich kenne sie leider nur so. Na ja, ich will ehrlich sein – manchmal haben sie sich auch etwas mehr angestrengt als heute. Hin und wieder sind sie über ihren hoch gebildeten, feudalen Schatten gesprungen und haben mich mit so etwas wie gekünstelter Freundlichkeit behandelt. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich nicht die Traumschwiegertochter bin. Das sind ja Sie – ich meine du. Das haben sie mir schon bei unserem ersten Treffen – keineswegs auf eine sensible Art und Weise – zu verstehen gegeben. Ich habe keine noblen Wurzeln, keinen beeindruckenden Stammbaum. Mein Bäumchen ist eher ein bescheidener Strauch – und dann ist er auch noch ein Flachwurzler.“
Belinda