Phantombesuch. Gaby Peer
dauerte es nicht mehr lange, bis aus den beiden ein Paar wurde. Manuel bestand darauf, in der Klinik kein Geheimnis daraus zu machen – gegen Elenas Willen. Sie war immer noch unsicher und suchte insgeheim nach dem berühmten Haken. Warum sollte sich Manuel bei der Riesenauswahl, die ihm zur Verfügung stand, ausgerechnet für sie entscheiden? Sie konnte es einfach nicht glauben, dass Manuel sich in sie verliebt hatte. Das konnte nicht sein.
Elena hatte aber keine Chance – er zeigte seine Liebe zu ihr so offen und frei, dass Elena nicht lange auf die erahnten Reaktionen warten musste. Neid, Eifersucht und böse Blicke waren schnell an der Tagesordnung. Laufend wurden Elena Fehler unterstellt, Fallen gestellt und gemeine Lügen verbreitet. Es war schrecklich und Manuels Standardsatz war: „Lass sie doch, es wird aufhören. Irgendwann wird es ihnen zu blöd, glaub und vertrau mir. Je weniger du darauf reagierst, umso schneller ist Schluss damit!“ Er hatte gut reden – er war nach wie vor der Star.
Aber die Wochen und Monate vergingen und an Manuels Verhalten und Gefühlen änderte sich nichts – ganz im Gegenteil. Er stellte Elena sogar seinen Eltern als „meine Traumfrau“ vor. Herr und Frau Schrader empfingen Elena zwar freundlich, aber keineswegs herzlich. Gleich beim ersten Treffen wurde Belinda – Manuels Kommilitonin und damalige Freundin – erwähnt. Das Ende der Beziehung wurde sehr bedauert, denn Belinda kam aus sehr gutem Hause mit adligen Wurzeln. Ja, da konnte Elena nun wirklich nicht mithalten. In ihr gab es nicht die geringste Spur von Adelsblut – nein, es war dramatischer. Ihre Eltern waren einfache, ehrliche Menschen, die nur ein Ziel in ihrem Leben verfolgt hatten – ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Sie waren mächtig stolz auf ihre beiden Töchter. Die jüngere wurde eine ausgezeichnete Krankenschwester und die Erstgeborene hatte eine Ausbildung zur Bankkauffrau absolviert.
Manuel bestand ziemlich schnell darauf – Elena ging es viel zu schnell –, dass sie zu ihm zog. Er machte einen sehr glücklichen Eindruck. Eines Abends, nach einem etwas zu hohen Weingenuss, gestand Manuel Elena mit schleppender Stimme, dass er sich eigentlich nie fest binden wollte. Eine Heirat und Kinder standen nicht auf seinem Lebensplan, weil er sich ganz auf seinen Beruf konzentrieren wollte und sehr hochgesteckte Ziele verfolgte. Auch in der Forschung wünschte er sich eines Tages mitmischen zu können. Um keinen Menschen zu enttäuschen, zu verletzen oder zu vernachlässigen, wollte er von vornherein keine feste Beziehung eingehen und schon gar keine Kinder in die Welt setzen. Er konnte von keiner Frau so viel Verständnis erwarten, wie er brauchte, um seinen Beruf so auszuüben, wie er es für sich geplant hatte – ohne ein dauerhaft schlechtes Gewissen zu haben.
Ja, das war sein ganz konkreter Lebensplan gewesen, bis Manuel Elena kennengelernt hatte. Das erzählte er ihr auch genau so in seinem angesäuselten Zustand. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sich seine Meinung jedoch grundlegend geändert. Er musste sich eingestehen, dass die Vernunft gegen Gefühle – echte, starke Gefühle – kaum eine Chance hatte. Er wehrte sich auch nicht sonderlich dagegen. Nein, Elena tat ihm so gut – ihre Natürlichkeit war erfrischend. Sie war authentisch und ehrlich. Er fühlte sich in ihrer Nähe unbeschreiblich wohl und geborgen. Es erschien ihm alles richtig, selbstverständlich und er fühlte sich endlich ganz – komplett. Er hatte in seinem Herzen, trotz völliger Zufriedenheit und Erfüllung durch seinen Beruf, immer eine gewisse Leere verspürt. Es fühlte sich so an, als ob in einem Stückchen seines Herzens ein Vakuum wäre. Im Nachhinein behauptete Manuel oft scherzend, dass es wohl doch ein verdammt großes Stück war, das sich leer angefühlt hatte, weil es für die ganz große Liebe reserviert gewesen war. Wäre Elena in seinem Leben nicht aufgetaucht, wäre dieses Stück wohl für immer leer und unentdeckt geblieben. Er hätte wahrscheinlich niemals erfahren, zu welch intensiven Gefühlen er fähig war. Manuel staunte sehr darüber, wie viel Kraft er aus dieser ehrlichen, tiefen und bedingungslosen Liebe schöpfen konnte. Solche Gefühle hatte er noch nie verspürt – auch nicht, wenn er für ganz außerordentlich große berufliche Erfolge gefeiert wurde. Er verspürte natürlich großes Glück und Zufriedenheit, wenn ihm etwas sehr gut gelungen war – was im Übrigen nicht selten vorkam. Und doch war es jedes Mal nicht das perfekte, einhundertprozentige Glücksgefühl – es fehlte etwas! Vielleicht jemand, der die Freude mit ihm innig teilte.
Seit er mit Elena zusammen war, erreichte er das einhundertprozentige Glücksgefühl regelmäßig – oft hatte er sogar den Eindruck, die Hundertermarke zu überschreiten. Der Kreis hatte sich geschlossen – sein Leben war eine schöne runde Sache. Perfekt!
Dies alles nuschelte er in seiner Weinlaune laut vor sich hin. Elena dankte Manuel für diese Beichte und beschloss, am nächsten Tag mit ihm darüber zu sprechen. Sie wollte zum einen in Ruhe darüber nachdenken und zum anderen war sie sich ziemlich sicher, dass er von dem Gesagten nichts mehr wissen würde. Da hatte sie keineswegs unrecht. Als Elena Manuel einen Tag später mit seinem Monolog konfrontierte, wirkte er sehr erschrocken. Er hatte nie vorgehabt, Elena von seinen ursprünglichen Plänen zu erzählen, weil er sie nicht verunsichern wollte. Inzwischen konnte er sich durchaus eine Heirat und eigene Kinder vorstellen. Ach was, vorstellen – er wünschte es sich von ganzem Herzen und so bald wie möglich.
Jetzt hatte er sich, im betrunkenen Zustand, wohl alles kaputt gemacht. Er wusste wirklich nicht mehr, welchen Unsinn er am vergangenen Abend geredet hatte. Wie weit war er gegangen? Verdammt, wie konnte er sich so volllaufen lassen? Jetzt musste er abwarten und zuhören, was Elena ihm zu sagen hatte. Dann musste er versuchen zu retten, was noch zu retten war. Er sah jedoch schwarz.
„Ich würde niemals von dir verlangen, dass du deinen Beruf vernachlässigst. Ich weiß nur zu genau, wie sehr du diesen liebst und wie wichtig er für dich ist. Du willst helfen – du willst Leben retten. Was soll man dagegen schon sagen? Was soll daran denn falsch sein? Ich jedenfalls habe vollstes Verständnis und werde dich immer unterstützen, weil ich weiß, wie viel dir dein Beruf bedeutet und wie wichtig du für manchen kranken, verzweifelten Menschen bist. Manchmal bist du die allerletzte Hoffnung, der rettende Strohhalm. Ich bin sehr stolz auf dich. Ich verspreche dir, dass ich dir niemals Vorwürfe machen werde, solange ich deine Liebe spüre und mir deiner Zuneigung sicher sein kann.“
Manuel war völlig perplex. Er hatte mit Vorwürfen gerechnet. Er hatte sich darauf eingestellt, sich rechtfertigen zu müssen. Elenas Verhalten an diesem Tag überzeugte ihn gänzlich davon, dass sie die absolut richtige Frau für ihn war.
2
Manuel saß am nächsten Morgen todmüde am Esstisch und versuchte sich auf seine Kinder zu konzentrieren. Lois und Selina texteten ihn zu, und zwar beide gleichzeitig. Keiner von beiden schien eine Antwort zu erwarten. Sie plapperten fröhlich vor sich hin. Also reichte es vollkommen aus zu lächeln, was für Manuel schon anstrengend genug war. Die meiste Zeit verbrachte er sowieso damit, seine Elena beim Werkeln in der Küche zu beobachten. Sie richtete die Vesper für die Kinder und sah wahnsinnig süß dabei aus. Ihre blonden Haare waren völlig verstrubbelt und es hingen ihr mehrere Strähnchen ins Gesicht, die sie immer wieder genervt wegblies. Trotz der kurzen Nacht – nein, nicht die Nacht war kurz, sondern die Schlafzeit der beiden war etwas dürftig ausgefallen, weil sie einfach kein Ende finden konnten – sah Elena zum Anbeißen aus. Immer wieder fielen sie wie vollkommen ausgehungert übereinander her, als ob Manuel für ein ganzes Jahr verreisen würde. Elena hatte ein sehr dünnes Nachthemdchen an und die Zeit schien nicht gereicht zu haben, um die kleinen goldenen Knöpfchen zu schließen. Ein Glück für Manuel, denn immer wieder bekam er einen tollen Einblick in ihr Dekolleté geboten und wenn sie sich umdrehte und etwas aus dem Kühlschrank herausholte, schmiegte sich der hauchdünne rosa Stoff eng um ihre Pobacken. Meine Güte und ich soll mich hier auf ein Gespräch mit meinen Kindern konzentrieren können, dachte er verzweifelt. Wie gerne würde er aufstehen, sie schnappen, in den ersten Stock hochtragen und für Stunden – vielleicht sogar für den Rest des Tages – mit ihr zusammen dort bleiben. Sie war so schön, so besonders.
Mit Schrecken dachte er nochmals über die Szene vom gestrigen Abend nach. Wie würde es um ihre Ehe stehen, wenn Elena sich tatsächlich so verhalten würde? Vorwurfsvoll, verständnislos, eigene Bedürfnisse anmeldend und Ansprüche an ihn stellend, die sein berufliches Treiben massiv beeinträchtigen würden. Gott sei Dank war es nur ein Schauspiel gewesen – ein Scherz. Somit konnte er heute wieder wie gewohnt glücklich, sorgenfrei und beschwingt