Phantombesuch. Gaby Peer
war es geschafft – alle Trauergäste hatten von Manuel Abschied genommen. Bis auf Elena, Belinda und die Schwiegereltern hatten sich alle vom Grab entfernt. Da zischte Renate: „Ich wusste es doch, dass sie mit dem noch was hat. Die hat es doch die ganze Zeit weiter mit dem getrieben. Bestimmt war sie froh, dass Manuel so viel und lange gearbeitet hat. So konnte sie den Versager wenigstens oft heimlich treffen und in Ruhe ihren Spaß mit ihm haben. Die war doch nur hinter Manuels Geld her. Ins gemachte Nest wollte sie sich setzen. Das haben die beiden Proleten doch von Anfang an so geplant. Umgebracht haben sie ihn. Aber das mit dem Erbe wird nichts – dafür sorge ich. Das schwöre ich hier am Grab meines Sohnes. Für die Kinder werden wir sorgen, vorausgesetzt der von uns angestrebte Vaterschaftstest beweist, dass die beiden überhaupt Manuels Kinder sind.“
Belinda nahm Renates Hand und streichelte sie. „Renate, sag doch so etwas nicht. Du bist gerade sehr aufgewühlt. Elena hat Manuel sehr geliebt – das kann ich mit absoluter Sicherheit behaupten. Und du weißt es auch.“
„Du musst diese Hure nicht in Schutz nehmen. Die Polizei wird schon Beweise finden. Dafür sorge ich höchstpersönlich. Hast du diese Blicke nicht gesehen, wie die sich angeschaut haben? Ich bin alt, aber nicht blind und schon gar nicht blöd!“
Belinda versuchte, Renate auf dem Weg zum Parkplatz zu beruhigen. Sie sprach so laut, dass Elena, die ein paar Meter hinter ihnen ganz alleine lief, ihre Bemühungen hören konnte.
Sie duzen sich jetzt, dachte Elena. Sie war Belinda zwar sehr dankbar, dass sie von ihr in Schutz genommen wurde. Gleichzeitig stellte sie aber auch erleichtert fest, dass die Beschuldigungen sie nicht sonderlich verletzten. Sie wollte jetzt nur noch zu ihren Kindern.
Sie saßen auf einer schattigen Bank neben dem Parkplatz, umrahmt von den Kindern ihrer Schwester. Selina hielt ein Buch in der Hand und die großen Mädchen redeten auf sie und Lois ein. Die Großen schienen den Kleinen ganz angestrengt und ernsthaft etwas zu erklären. Julia stand hinter der Bank, zeigte auch auf das Buch und sagte etwas. Als Julia Elena sah, ging sie ihr entgegen, ohne den Blick von ihr abzuwenden, und nahm sie fest in den Arm.
„Elena, das geht so nicht. Deine Kinder leiden. Sie wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Deine Schwiegereltern haben sie ganz schön verunsichert. Ich weiß ja auch nicht, wie man so kleinen Kindern den Verlust ihres Papas erklärt, aber gar nichts zu sagen – außer dass er jetzt im Himmel ist –, ist sicher nicht die Lösung. Ich habe mich im Buchladen ausführlich beraten lassen und das Buch, das Selina in ihren Händen hält, ist anscheinend das beste, das es für ihr Alter momentan auf dem Markt gibt. Ich konnte mich damit nur noch nicht wirklich befassen, aber das, was ich bisher gelesen habe, ist sehr einfühlsam – es beantwortet viele Fragen ganz einfach und verständlich. Es tröstet sogar meine Großen und auch ich selbst habe beim Lesen eine Wohltat empfunden. Es ist noch tief gehender als das erste Buch.“
„Danke, Julia, vielen Dank. Ich bekomme wirklich gar nichts auf die Reihe – ich schaffe es nicht einmal, ein Buch für meine Kinder zu kaufen.“
„Die beiden Bücher, die ich besorgt habe, werden auch keineswegs ausreichen, Elena. Ihr müsst euch einer Therapie unterziehen. Bitte versprich mir, dass du das Thema ernsthaft in Angriff nehmen wirst. Nur weil du drei Absagen erhalten hast, kannst du dich jetzt nicht zurücklehnen und nichts mehr unternehmen.“
„Lass uns erst einmal diesen schrecklichen Tag hinter uns bringen.“
Belinda versuchte beim anschließenden Tränenbrot die Wogen wieder etwas zu glätten – niemand von den Trauergästen sollte etwas von den Diskrepanzen zwischen Elena und den Schwiegereltern bemerken. Unermüdlich hetzte sie zwischen den verfeindeten Parteien hin und her und war bemüht, für alle gleichermaßen da zu sein. Sie tat Elena richtig leid.
„Belinda, kümmere dich bitte um meine Schwiegereltern. Ich komme schon zurecht. Julia, ihre Familie, meine Eltern, Irina und Max sind ja auch noch da. Um die beiden Alten scheint sich sonst niemand zu kümmern. Mach dir nicht so einen Stress. Wir beide finden schon noch genug Zeit zum Reden.“
Belinda lächelte und streichelte Elena über die Wange „Wie gut, dass Manuel dich kennengelernt hat. Mit dir hat er einen richtigen Schatz gefunden. Meine Güte, stell dir vor, er wäre bei mir hängen geblieben! Er hätte so einen wunderbaren Menschen wie dich womöglich niemals getroffen. Und ich auch nicht. So traurig die Umstände auch sind, ich bin unheimlich froh und dankbar, dass ich dich kennengelernt habe, Elena. Du bist ein ganz besonderer Mensch. Kein Wunder, dass Manuel alle seine Pläne für dich umgeschmissen hat.“
„Hat er nicht, Belinda. Er hat nur kleine Lücken für mich – für uns – geschaffen. Seine Träume hat er unverändert weiterverfolgt und eisern auf seine Ziele hingearbeitet.“
„Ja, aber du warst so empfindsam und schlau genug, um es zuzulassen. Du hast ihm das Gefühl gegeben, dass euer Leben, so wie es gewesen ist, vollkommen in Ordnung war.“
„Ansonsten hätte ich ihn verloren. Alles andere wäre auch äußerst unfair von mir gewesen, denn er hat mich nie angelogen. Ich wusste, wie wichtig ihm sein Beruf war, und trotzdem hat er es immer geschafft, dass wir drei das Gefühl hatten, unglaublich wichtig für ihn zu sein.“
„Das seid ihr auch gewesen, Elena – da bin ich mir absolut sicher.“
Wie gerne hätte Elena Belinda von Manuels abendlichen Besuchen erzählt, aber sie hatte zu große Angst davor, von ihr für verrückt erklärt zu werden. Was hätte sie denn selbst gedacht, wenn jemand von den Besuchen eines Toten erzählt hätte?
Irgendwann – es kam Elena wie eine Ewigkeit vor – hatte sich dann auch der letzte Gast verabschiedet und sie durfte nach Hause gehen. Belinda wollte noch vorbeikommen, nachdem sie Renate und Ludwig heimgebracht hatte. Auch ihre Familie und Irina boten sich an, sie nach Hause zu begleiten und noch bei ihnen zu bleiben.
„Kommt doch noch mit zu uns“, bot Julia herzlich an.
Elena lehnte alle lieb gemeinten Angebote ab. „Ich bin sehr erschöpft. Ich werde den Kindern noch aus dem Buch vorlesen, anschließend eine von Belindas kleinen Wunderpillen einnehmen und dann werde ich schlafen – tief und fest schlafen. Und vor allem werde ich nichts mehr denken müssen. Das ist es, was ich mir jetzt am meisten wünsche. Ich muss das Karussell, da oben in meinem Kopf, irgendwie wieder zum Stehen bringen. Zumindest muss ich es schaffen, es etwas zu entschleunigen. Seid mir bitte nicht böse. Ich möchte nicht undankbar wirken. Ich weiß eure Fürsorge wirklich sehr zu schätzen. Ich weiß auch, dass es nicht selbstverständlich ist, in so extrem schwierigen Zeiten derartig liebe und besorgte Menschen an seiner Seite zu haben. Bitte, bitte seid mir nicht böse.“
Alle reagierten sehr verständnisvoll und Elena hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie gelogen hatte. Sie konnte es schlicht und einfach kaum abwarten, wieder auf dem Sofa zu sitzen und auf die Terrassentür zu starren.
Zu Hause angekommen, überlegte sie gemeinsam mit den Kindern, was sie essen sollten. Sie einigten sich auf Wurst- und Käsebrote. Beim Essen erzählten die Kinder ganz gelöst und voller Gottvertrauen, dass es Papa ganz bestimmt gut gehe und er immer – Tag und Nacht – bei ihnen sei. Sie könnten ihn eben nur nicht sehen. „Er wird für immer unser unsichtbarer Schutzengel sein, der auf uns ganz prima aufpassen wird“, sagte Selina mit einem zufriedenen Lächeln.
Es kullerten schon wieder Tränen über Elenas Wangen, obwohl sie so tapfer sein wollte – zumindest für die Kinder. Verdammt, ich lasse mich so gehen!
„Soll ich euch noch aus dem Buch vorlesen?“
„Ja, Mami, dann bist du bestimmt auch nicht mehr so traurig. Oma hat nicht recht – nur seine Hülle liegt in der Kiste. Aber die braucht er nicht mehr, weil er ein unsichtbarer Engel ist, Mami.“
Selina war so süß. Sie schaute gerade genauso angestrengt und konzentriert, wie Manuel Elena immer angeschaut hatte, wenn er versuchte, ihr etwas Kompliziertes aus seinem Forschungsauftrag zu erklären. Meist hatte sie nicht allzu viel von dem verstanden, was Manuel ihr erklärt hatte – so wie sie auch jetzt Selinas Erklärungen nicht verinnerlichen konnte. Engel … Wie gerne würde sie ebenfalls ganz naiv