Aus, Äpfel, Amen (2) Ria, de Kloa 1948 bis 1951. Mia May-Esch
Schwager zwei Eisenbahnwaggons gekauft hat. Die Gemeinde hat ihnen ein Stück Grund direkt am Steinbruch gegeben. Dort werden sie die Waggons aufstellen, um- und ausbauen. Das geht, weil die beiden Männer sehr fleißig sind und der Herr Spieß ein tüchtiger Handwerker ist. Für die Isolation sammelt er die Pferdeäpfel. Normalerweise müssen die Buben vom Spieß, der Heiner und der Adolf, helfen, aber die haben gerade Schule.
In meinem Kopf türmen sich Fragen über Fragen! Wie können Eisenbahnwagen ohne Schienen und ohne Lokomotive fahren? Was machen sie mit dem Geruch der Rosspollen? Schlafen die dann auf den Bänken, die im Waggon sind? Aber einen Abort gibt es in den Waggons immer, das weiß ich. Ich komme einfach nicht mit. Mama wahrscheinlich auch nicht.
Wir wenden uns zum Gehen. Herr Dietz meint dann noch ganz freundlich, wenn alles fertig sei, werde er uns einladen, damit wir alles sehen könnten. Glaubt er wirklich, dass ich in seine stinkerte Rosspollenbehausung gehen werde? Abgesehen davon wird das Ganze ja doch nichts werden!
Doch dann, kurz vor Weihnachten, werden wir wirklich eingeladen! Mama, die sonst eigentlich nirgends hingeht, nimmt die Einladung an. Mit Tante und Beate machen wir uns auf den Weg. Schon unten vom Seebach aus sehen wir vor dem Hintergrund des Steinbruchs ein langes, niedriges, hell verputztes Doppelhaus. Doppelhaus ist vielleicht ein wenig zu anspruchsvoll gesagt. Vor der Haustüre stehen zwei Eisenbahnbänke, die im Sommer bestimmt zur gemütlichen Rast einladen. Die rauchenden Kamine kündigen Wärme an. An den Fenstern sind helle Gardinen angebracht.
Als wir oben ankommen, öffnen die Hausherren schon die Haustüre und fordern uns freundlich zum Eintreten auf. Die Frauen stehen hinter ihnen. Sie begrüßen uns sehr herzlich.
Erst mal ziehe ich schnuppernd meine Nase hinauf. Nein, es stinkt nicht! Angenehme Wärme strömt uns entgegen. Vom gemeinsamen Hauseingang in der Mitte kann man in die zwei umgebauten Waggons gehen. Einen bewohnt die Familie Dietz, den anderen die Familie Spieß. Die heimeligen Wohnungen lassen ihre ursprüngliche Nutzung nicht mehr erkennen.
Im kleinen Eingang ziehen wir die Schuhe aus, damit wir die schönen Fleckerlteppiche nicht versauen. Wir bekommen Kaffee und Kuchen angeboten. Tante kennt Maria, die Tochter vom Herrn Spieß, sehr gut. Mir gefällt das Mariechen besonders. Sie hat hellblonde, ganz dicke Zöpfe, die bis zum Hintern gehen. Sie wird überall bewundert. Auch zwei von den Buben kenne ich. Die gehen mit Robert in eine Klasse. Insgesamt gehören fünf Kinder zur Familie. Die Familie Dietz hat zwei Töchter, die schon älter sind. Es wird ein schöner, unterhaltsamer Nachmittag. Eigentlich würde ich gerne hier wohnen.
Hoffentlich laden uns die Familien bald wieder in ihr Rosspollenhaus ein!
Das Krippenspiel
Unser Fräulein Motzko, die Sängerin, hat eine schöne Idee. Sie will mit uns das kleine Sing-Krippenspiel „Die Herbergsuche“ einstudieren und aufführen. Sie geht die Reihen der Kinder durch, um die geeigneten auszuwählen. Die Schleicher Marille soll den Josef machen. Und ich? Was ist mit mir? Wo doch Mama immer meint, Gottes Mutter hätte rötliches Haar gehabt. Wirklich, es ist nicht zu glauben, ich werde vom Fräulein für die Rolle der Mutter Gottes auserwählt! Endlich wird mal erkannt, wie gut ich bin!
Ich platze fast vor Stolz und verkünde zu Hause meinen Erfolg. Ja, Mama hat auch schon einen Vorschlag, was ich in dieser Rolle tragen könnte. Sie hat für das Regal einen dünnen, taubenblauen Baumwollvorhang. Der wird frisch gewaschen und gebügelt. Richtig drapiert schaue ich wirklich aus wie die Maria auf den Heiligenbildern. Also, dieses Problem ist gelöst.
Schon beginnen die Proben.
„Wer klopfet an?“
„Oh, zwei gar arme Leut.“
„Was wollt denn ihr?“
„Oh, gebt uns Herberg heut!“
Natürlich kann ich den Text ganz schnell auswendig. Ich soll ihn in der ersten Stimme und Marille den Josef in der zweiten Stimme singen. Da beginnt das Problem! Marille singt sicher und gut. Aber ich? Ich kann die Stimme nicht halten! Wir können noch so oft proben, ich kann das nicht!
Das Fräulein ist am Verzweifeln! Es spricht sogar die Mama darauf an: „Ach, Frau Weber, ich habe die Maria genommen, weil sie so eine reine, glockenhelle Stimme hat, aber sie kann die Stimme nicht halten.“
Alle in der Familie können gut in verschiedenen Stimmlagen singen. Sogar Beate ist eine gute Sängerin. Niemand versteht, warum ich das nicht kann. Zur Umbesetzung der Rolle ist es zu spät.
Leider werde ich in meiner Rolle kein großer Erfolg. Es ist das erste und das letzte Mal, dass ich zu irgendetwas in dieser Art herangezogen werde. Auch in keiner anderen Art bin ich erfolgreich. Ich kann nicht mal, außer in der Familie, ein Gedicht aufsagen. Ich kann zwar den Text von A bis Z, aber ich zittere immer so, dass man mich nicht mehr in Erwägung zieht.
Ich trau mich nichts! Ich kann nichts! Ich bin nicht schön!
Ich kann der Mama keine Freude machen. Nur mit Lernen, guten Noten und mit fleißiger Arbeit kann ich es ein wenig ausgleichen!
Schwierige Verhältnisse
Nun, das Krippenspiel ist kein Erfolg für mich. Ich bin zu nichts und für nichts geeignet. Ich finde mich mit mir selbst nicht mehr zurecht. Manchmal werden mir Fragen gestellt und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.
So geschieht es nach den Ferien. In der Pause stehe ich mit anderen Mädchen zusammen, wir lachen und kudern. Da kommt die Jutta, diese eingebildete, siebengescheite, gschnappige, rote Hexe, die noch dazu nicht mal aus Lenting ist, auf mich zu. Sie richtet einen kalten Blick aus ihren blauen Porzellankugelaugen auf mich. „Ich muss dich was fragen!“, sagt sie laut. Ihr Blick durchbohrt mich! Ich stehe da und schau sie neugierig an. „Bist du ein uneheliches Kind?“
Auf diese Frage bin ich nicht vorbereitet. Sie trifft mich wie ein Hammerschlag. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.
„Nun?“ Sie schaut mich erwartungsvoll an.
Ich senke den Blick, schaue auf den Boden und leise und zögerlich kommt von mir: „Ja.“
„Dann hat meine Mutter also doch recht.“ Sie dreht sich um und geht weg. Die anderen Mädchen schauen dumm. Wahrscheinlich wissen sie gar nicht, was das bedeutet. Ich weiß es! Aber die meisten kennen sich in unseren verzwickten Familienverhältnissen sowieso nicht aus. Es ist auch wirklich nicht einfach bei uns. Bei Mamas Eltern, meinen Urgroßeltern, war auch noch alles in Ordnung. Der Vater Rettinger, die Mutter Rettinger, zwölf Kinder, alle Rettinger.
Auch in der heutigen Zeit gibt es so etwas noch. Wenn ich da an die Hennamo-Familie denke. Da gibt es den alten Hennamo-Vater, die Hennamo-Eltern und elf Kinder. Und alle heißen Kipfelsberger! Ein Großvater, ein Vater, eine Mutter, elf Kinder! Alle wohnen in einem Haus, alle wissen, woher sie kommen und wohin sie gehören. Als der Hennamo jung war, hat er beim Kirchweihtanz die saubere, rassige Berta aus Aigelsbach in der Hallertau kennengelernt. Es hat nicht lange gedauert, sie kommt nach Lenting, es wird geheiratet, ein Kind nach dem anderen kommt. Alles ist in Ordnung!
Beate hat es zwar nicht gut, aber doch viel besser als ich. Ihr Papa heißt Ablinger, ihre Mutter ebenfalls und sie auch. Sie weiß, dass ihr Papa im Krieg gefallen ist. Sie ist ein Halbweisenkind, die Tante bekommt für sie eine Halbwaisenrente.
Und was ist bei mir? Ich habe keinen richtigen Opa, keine richtige Oma, denn die ist ja meine Mama. Ich habe eine Mutti, bei der ich aber nicht wohne. Ich habe zwei Halbbrüder, jeder heißt anders. Meinen richtigen Papa kenne ich nicht. Er hat nur in den ersten Monaten meiner Kindheit etwas von sich hören lassen, dann nichts mehr. Mein Papa hier ist eigentlich mein Stiefgroßvater; meinen Stiefvater nenne ich